Ein Satz Monster
Kant ist ja nicht nur bekannt für seine Transzendentalphilosophie. Man schätzt ihn in Fachkreisen auch für seine langen, komplizierten Sätze, neben denen die Heinrich von Kleists gerade bei lautem Lesen als nahezu eingängig gelten dürften. Und vielleicht besaß Kants transzendentaler Ansatz den geheimen Fluchtpunkt, dass sich der Philosoph in seiner Einschätzung als Mensch gegenüber sich selbst mittels des apriorischen Vorhangs ein Mindestmaß an Selbstrespekt verschaffte, den er zum Beispiel durch die metaphysische Annahme eines „Endzwecks“ der Natur in der Gestalt des Menschen verwirklicht sah. Wenn man nun Gisela Elsner, zumindest in „Das Berührungsverbot“ – für die spätere „Zähmung“ z. B. gilt das schon nicht mehr –, in Sachen Satzbau durchaus als Kantianerin bezeichnen kann, so muss man andererseits sagen, dass die Apriorität des Königsbergers nach einem weiteren Erfahrungsaufwand der Geschichte von 150 Jahren ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Vernunft, auf die Kant letztlich doch so viel Hoffnung gesetzt hatte in aufklärerischer Absicht, sie hat viel gelitten, man hat sie sogar als „instrumentelle“ arg besudelt, ihr dadurch vielleicht auch den Gar ausgemacht. Man kann Gisela Elsner nicht vorwerfen, sentimental zu sein. Sicher, es gibt sie auch bei ihr, die Unterscheidung zwischen der trostlosen gesellschaftlichen Faktizität beruflicher, familialer und freundschaftlicher Verhältnisse und einem meist ja nur indirekt zu formulierendem Niveau, von dem aus die Misere erst als Misere erscheint. Aber das Ideal, um es beim Namen zu nennen, hat in Elsners Anti-Kosmos von „Das Berührungsverbot“ keinen Ort; die aus der Geier-Perspektive geschilderten desolaten Verhältnisse erlauben in ihrer bei allem Aufwand an Satzkomplexität genüsslichen Demontage keine erlesenen Traumfiguren oder Verschnaufzonen in Form von Urlaubsparadiesen oder Orten, die sich dafür ausgeben. Elsner bleibt ihren Figuren, einer Handvoll Männer in mittlerer Beschäftigungsposition mitsamt ihren Gattinnen, so unerbittlich auf der Spur, dass schier kein Entkommen aus der Misere auch nur zu ahnen ist. Dass es irgendwie beschissen läuft, wissen die Leutchen zwar auch (nicht alle), aber der Aufwand, den sie vor allem in sexueller Hinsicht treiben, um sich aus ihrer längst zur Sackgasse gewordenen und deshalb auch schon nicht mehr existierenden Erotik zu befreien, ist genauso groß wie grotesk. Die Gruppensexszenen der miteinander befreundeten Ehepaare bestechen denn auch weniger durch eine vor-houellebecqsche Beschreibungskälte als durch die diabolisch von der Erzählerin erzeugte Ahnung, dass die Groteske nichts anderes als die nackte Wahrheit sein könnte. „Sexualüberschätzung“ nannte man es früher. Aber Gisela Elsner radikalisiert das psychoanalytisch immer auf das bloße Geschlechterverhältnis bezogene Unding einer genitalen Beziehung; bei ihr werden alle Beziehungen – wie klein auch der Kreis ihrer Erzählung sein mag – von der Unmöglichkeit angesteckt, in einigermaßen haltbare oder gar erträgliche Verhältnisse auszulaufen. Elsners Personal ist verloren. Immer schon. Auch die Kinder sind verdorben, von Anfang an. Und die Alten bereiten nur noch um so widerlicher ihren Abgang vor. Und doch ist gerade die Sprache der Autorin ein letztes Bollwerk, nicht ganz und nicht für immer den Stab zu brechen. Wer so viel Spaß an der Zerstörung durch das bloße Erzählen äußert, hat zumindest dies noch mitzuteilen, und gerade dieses implizite Moment aller Kunst teilt Gisela Elsner, wie absichtsvoll auch immer, mit einem anderen Zertrümmerer, Kant. „Das Berührungsverbot“ erschien erstmals 1970.
Dieter Wenk (09.06)
Gisela Elsner, Das Berührungsverbot, Berlin 2006 (Verbrecher)