16. September 2006

Gespenstisch schön

 

Nordkorea ist gewissermaßen die noch eingesperrte Natascha Kampusch auf Länderebene. Ein skrupelloser Machthaber unterdrückt sein Volk und verhindert so, dass es sich am Kräftespiel der Globalisierung beteiligen kann. Nordkorea – das letzte national-sozialistische Land auf dieser Erde. Kaum ein Fremder darf es betreten. Man weiß nicht, was die Menschen dort denken, was sie fühlen. Wie sie uns sehen. Das haben auch Christian Kracht, Eva Munz und Lukas Nikol nicht in Erfahrung bringen können. Wer ständig an der Hand geführt wie der Tourist in der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik, kann schwerlich subversive Interviewaktionen durchführen. Aber die drei Autoren versorgen uns mit 100 Farbbildern, die noch keine Tagesschau gezeigt hat, obwohl sie überhaupt nichts Anstößiges oder Entlarvendes haben. Was der Betrachter hier sieht, sind Kunst-Bilder. Damit sind keine Bilder gemeint, die nordkoreanische Künstler herstellen. Es sind Bilder eines Landes, die ganz im Sinne der idealistischen Ästhetik den Schein des Schönen feiern. Also keine Vorschein-Ästhetik mit all den Abstufungen des erst noch zu Realisierenden, sondern eine solche des reinen Scheins. Schon das allererste Bild in diesem Band setzt den Betrachter auf die richtige Spur. Es zeigt den Machthaber Kim Jong Il (eines der beiden Fotos, die nicht von den Autoren stammen) nicht als Herrscher, sondern als Künstler, genauer, als Filmregisseur. Je mehr man blättert, desto klarer wird, dass dieses Land dafür gemacht wird, als Bild abgezogen zu werden. Es sieht aus – das haben die Autoren klug bemerkt – wie das schnell in Ordnung gebrachte Wohnzimmer, bevor der Gast erscheint. Der entscheidende Unterschied liegt nun darin, dass der Gast in Nordkorea nicht bleibt. Er nimmt von der Vorhandenheit des Wohnzimmers Kenntnis – genau das ist die Absicht des Gastgebers –, aber wird wieder hinausgebeten, bevor er sich von der Zuhandenheit aller Objekte im Wohnzimmer überzeugen kann. Es liegt hier ein seltsamer brecht’scher Verfremdungseffekt vor. Die Dinge sind nicht in die Funktionale gerutscht, sie sind dort nie angekommen. Die drei Autoren versorgen uns also mit zahlreichen Analoga zu Brechts AEG-Fabrikgebäuden, nur dass hier die Fassade nicht beinah nichts über die eigentliche Funktion eben dieser Objekte aussagt. Was hier gezeigt wird, geht absolut in dem auf, was gezeigt werden soll. Man sieht, wie ein Polizist den Verkehr regelt. Er steht mitten auf der Straße, in Uniform, die Hände ausgestreckt. Aber man sieht nicht, dass er den Verkehr regelt. Es gibt nämlich keinen. Die Koreanische Demokratische Volksrepublik scheint das einzige Land der Welt zu sein, das zu beinah hundert Prozent aus Gesten besteht, in denen aus einer eigenartigen Melange aus dem renaissancehaften Repräsentationsmodell im Verständnis Foucaults und der klassischen idealistischen Ästhetik eine gespensterhafte Wirklichkeit generiert wird, die in unseren Augen nichts anderes ist als ein Potemkin’sches Dorf. Dieser Wille des Filmregisseurs Kim Jong Il kann durchaus beeindrucken. Genau auf dieser Ebene spielen also die Bilder dieses Bandes. Aber natürlich wissen wir alle, dass Nordkorea kein avantgardistisches Land ist. Es ist eben reine Kunst. Ohne Leben. Oder eben eine Leben, von dem wir nichts wissen. Der Zusammenbruch, den der schöne Schein dann doch erfährt, entsteht aus der Gegenüberstellung von Bild und Text. Und zwar nicht aufgrund des kritischen Charakters der den Bildern beigegebenen Texte. Diese stammen nämlich (abgesehen von Christian Krachts Vorwort) von Kim Jung Il. Alles, was man in diesem Band sieht und liest, ist also hoch offiziell. Die reine Lehre, visuell und ideologisch. Aber es ist auch die reine Leere. Sehr faszinierend. Aber auch: „schrecklich“.

 

Dieter Wenk (09.06)

 

Eva Munz/Christian Kracht/Lukas Nikol, Die totale Erinnerung. Kim Jong Ils Nordkorea, Bildband, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins (2006)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon