10. September 2006

Herr der Fadenringe

 

Der olympische Knoten besteht aus fünf Ringen, die im gleichen Abstand ineinander laufen. Damit wollte man von Anfang an klar machen, dass die Spiele weiter gehen, auch wenn ein Kontinent oder zwei usw. ausfallen sollten. Ein Boykott stellt also das Prinzip selbst nicht in Frage. The show goes on, weil: the show must go on. Das Prinzip wäre ganz anders, wenn der Olympische Knoten nach dem Prinzip des Borromäischen Knotens konstruiert wäre. Hier hätte das Abspringen bereits eines Ringes zur Folge, dass auch die anderen Ringe frei würden. Die Spiele könnten nicht mehr statt finden. Um einen Borromäischen Knoten, der eigentlich eine potentiell unabschließbare Kette ist, bauen zu können, braucht man mindestens drei Ringe, die so ineinander gefügt sind, dass, wenn man einen, egal welchen, aus dem Gefüge entfernt, auch die anderen frei sind. Als Jacques Lacan mit dem Borromäischen Ring 1972 bekannt gemacht wurde, war er sofort fasziniert. Die drei Ringe, das ergab für ihn „RSI“, also seine Grundtrias von Imaginärem, Symbolischem und Realem. Nur ein Arzt kann vermutlich begreifen, was es heißt, wenn das Symbolische verstopft oder blockiert ist und die beiden anderen Systeme entfleuchen können. Man nennt das Psychose. Besser also, man bleibt schön verknotet, im borromäischen Sinn. Als Lacan mit James Joyce, speziell mit „Finnegans Wake“, bekannt gemacht wurde, glaubte er bemerken zu müssen, dass der Dreierknoten in diesem Zusammenhang zur Erklärung des Symptoms „Joyce“ nicht ausreiche. Jeder kann sich selbst davon überzeugen, dass die Sprache in Finnegans Wake völlig aus dem Ruder läuft. Man rudert in einem Sprachenmeer. Und was macht Joyce darin? Joyce’ „Häresie“ versucht Lacan dadurch begreiflich zu machen, dass er sagt, dass der Dreierknoten außer Kraft gesetzt ist und ein Viererknoten anzunehmen sei mit dem „Sinthome“ (so die alte Schreibweise im Französischen von Symptom) als dem derangierten Dreierknoten Konsistenz verleihendes Element. Lacans Seminar ist keine Textanalyse. Ist es eine Joyce-Analyse? Ist es überhaupt eine Analyse? Vielleicht ist das Wort Esoterik hier nicht ganz fehl am Platz. Wer Lust hat mitzuspielen, spiele mit. Wer nicht, für den wird der Verlust nicht allzu groß sein. Das Problem, das der Leser mit diesen Texten (mit Lacans, nicht mit denen von Joyce) hat, besteht darin, dass ein mathematischer Formalismus bemüht wird, der umstandslos lacanistisch übersetzt wird, als ob man einen Algorithmus lesen könnte im Sinne eines Rebus. Lacan macht sich hier eines Vergehens schuldig, das er oft selbst anderen ankreidet, nämlich „zu sehr“ im Imaginären zu sein. Wer sich Mühe gibt, wird verstehen, was es mit der Fibonacci-Reihe auf sich hat und was sie mit dem Goldenen Schnitt zu tun hat. Außerdem kann man lernen, selber Borromäische Knoten zu basteln. Aber es ist deshalb nicht einzusehen, was das mit Freud, Psychoanalyse oder sonst einer Lehre zu tun haben sollte, die sich mit der Funktionsweise des Psychischen beschäftigt. Dem Schwiegersohn und Herausgeber dieser Seminare ist deshalb unbesehen zuzustimmen, dass vor allem die späteren Seminare Lacans ins Kryptische spielen. Man könnte auch ganz platt sagen, man habe es hier mit einer Sekte zu tun. Zeige mir deinen Ring, und ich sage dir, ob du borromäisierst. Der Ton Lacans bringt ein Übriges bei. Entsetzlich. Aber diese Arroganz kennt man ja von früheren Texten. In der 50-seitigen „Notice“ des Herausgebers wird übrigens ein publizistischer Kleinkrieg mit Philippe Sollers ausgetragen. Hier bekommt der Leser gewissermaßen das Fleisch und die Eingeweide nachgereicht, die den Fadenringen fehlen.

 

Dieter Wenk (07.06)

 

Jacques Lacan, Le Séminaire, livre XXIII, Le sinthome, Paris 2005 (Seuil)