22. August 2006

Flucht in die Formeln

 

Sich an etwas dranzuhängen ist das Normalste von der Welt, zum Beispiel an die Mutter, ob „lactans“ oder „alma“. Manche Schulen heißen deshalb auch ganz einfach „normal“, zumal in Frankreich, wo die Ausnahme die Regel ist. Fünf Jahre lang hielt Jacques Lacan als Gast an einer solchen „École normale“ seine Seminare ab, bis man ihn „evakuierte“ mitsamt seiner Zuhörerschaft. Was war geschehen? Hatte man nicht gewusst, was für einen antiuniversitär eingestellten Kopf man sich ins Nest holen würde. Obwohl Lacan immer wieder gerne betonte, „wissenschaftlich“ vorzugehen? Das Seminar XVI, „Von einem Anderen zum anderen“, hielt Lacan von November 1968 bis Juni 1969. Die Maiunruhen waren noch nicht richtig Geschichte, man konnte es sich kaum erlauben, auf Marx nicht Rücksicht zu nehmen. Man merkt es diesem Seminar an, seinem Stil, seiner Sicherheit, seiner Teleologie, dass Lacan auf dem Gipfel seiner Popularität ist. 1966, im „strukturalistischem“ Jahr, als u.a. Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ erschienen war, publizierte Lacan seine „Schriften“ und verkaufte gleich 40.000 davon. Eine eigenartige Sache für ein Buch, das als unlesbar gilt. Im Jahr 1968 gibt es nur noch einen Denker, und der heißt Lacan. Alles läuft auf ihn zu oder von ihm aus. Der Marx’sche „Mehrwert“ ein kleines Vorspiel zu Lacans „Mehrlust“, von der man aber auch sagen muss, dass sie in einer anderen Lesart Schluss mit lustig macht. Das hat man davon, dass die so genannte „Geschlechterbeziehung“ nicht logifizierbar ist. Muss man das so verstehen, dass Sex keinen Spaß macht? Mit Bezug auf den großen Phallus wohl, aber eigentlich will das nur heißen, dass „männlich“ und weiblich“ keine alles andere grundierenden Kategorien sind. Das Erfreulichste an diesem Seminar ist in der Tat der gut gemeinte Versuch der Verwissenschaftlichung der Psychoanalyse. Musste sich Freud wohl oder übel wieder der Normalsprache in die Arme werfen, als er mit den Omegas und Psis nicht weiter kam, macht Lacan Ernst mit seiner „Rückkehr zu Freud“ und ersetzt die von Freud aufgegebene Neurophysiologie durch Topologie und Mengenlehre. Berühmt sind Lacans Schemata und Algorithmen, die dem, der zu übertragen versteht, die Lehre des Meisters gewissermaßen als Abakus zu lesen gibt. Und endlich müssen wir das berüchtigte „Objekt klein a“ nicht mehr nur an seinen vier Beispielen erkennen – von denen das große Geschäft von klein a die deutlichste Vorstellung gibt –, sondern es lässt sich jetzt endlich mathematisieren, also purifizieren und kann von jedem rechnenden Geist als die Wurzel aus fünf minus eins geteilt durch zwei schön in ein Buch eingetragen werden. Groß A findet also in klein a seinen Meister. In der Physik werden die untersuchten Objekte ja auch immer kleiner. Und wer erinnert sich nicht an die große Zeit der Konkreten Poesie, in der die Hermeneutiker arbeitslos wurden, weil Dichtung beinahe in Phonetik aufging? „Von einem Anderen zum anderen“ produziert keinen Sinnüberhang. Lacan wuchtet es von Anfang an in einen Abgrund, aus dem kein Auftauchen gelingt. Will uns Lacan, wie Pascal seinerzeit mit seiner „Wette“, für dumm verkaufen? Während es aber zu Pascals Zeit noch „die Unendlichkeit eines unendlich glücklichen Lebens zu gewinnen“ gab, glauben wir nicht mehr, dass man wetten muss, und wir haben auch nicht mehr das Vertrauen in das Pathos des Formalismus’ der 60er Jahre, auch wenn es sich dabei um den Versuch handelte, die irrationale Zahl in die menschliche Psyche einzuführen. Das liest sich heute eher erheiternd, aber man kann ganz gut nachvollziehen, warum der Meister damals, auf dem Zenit seines Größenwahns, von der Schule flog.

 

Dieter Wenk (07.06)

 

Jacques Lacan, Le Séminaire, livre XVI, D’un Autre à l’autre, Paris 2006 (Seuil)

 

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