20. Juli 2006

Schachtel-Philosophie

 

In einem mit der bezeichnenden Überschrift „Sie sagten über Malraux“ versehenen halbseitigen Text fügt Foucault den nachgeschobenen Kommentaren über den Mann, der vom Kunstdieb bis zum Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten unter de Gaulle die sieben Leben einer Katze führte, einen weiteren hinzu: „Die Dinge, von denen er sprach, hatten für ihn mehr Bedeutung als die Tatsache, dass er sie sagte.“ Dies steht der Lyotard’schen Approximation an Malraux’ lebenslange Aufgabe ziemlich nahe, die sich bemerkenswert eingängig und nahezu ohne Rest in die Schriften Lyotards einreiht. Das Sagen und Schreiben holt um den Preis der Intensitätsabschwächung das ein, was sonst keine Stimme hat, expliziert eine Utopie, die es selbst einzulösen nicht in der Lage ist.

 

Mit einem Bein im Grab hat sich Lyotard noch einmal auf André Malraux eingelassen, nicht mehr in Romanform wie einige Jahre zuvor in „Gezeichnet: MALRAUX“ oder einer Biografie, sondern als kurzer Abriss darüber, was Werke der Kunst vermögen. Wogegen sie Widerstand zu leisten im Stande sind und wie sie zur „Kommunion“ (so der Titel des letzten Kapitel des Buches), der begriffslosen Kommunikation der Menschen mit dem Nichts und anderen Subjekten, beitragen können. Mit ihrer Präsenz bilden sie ein Bollwerk gegen das Nichts, den Ansturm der von Malraux mit phobischem Entsetzen gefürchteten Larven und Käfer, die alles mit in den Kreislauf aus Werden und Vergehen hineinreißen und verschmelzen und damit den ewigen Riss der Sprache aufheben.

 

Im Zentrum steht erneut das Thema der Präsenz, dem sich über die Frage des Wunders von Werken genähert wird. In Ermangelung von Beispielen in „Der schalltote Raum“ und einer von Lyotard ausgesparten Konkretion des Werkbegriffs möchte man vielleicht an die Reißverschlussbilder Newmans denken: Da ist etwas, in dem Zeigen und Sagen ineinander fallen und das daran erinnert, dass da etwas ist, bevor es irgendeine Bedeutung bekommt. „Das Werk ist die mit einem Schmiss versehene Realität, die für einen Augenblick mit sich selbst kurzgeschlossen ist, ein verletzter Mund, der über der Leere aufgerissen ist.“ Es sind Manifestationen zur Erinnerung an das Vergehen und Vergessen, für das Nichtvergessen des Vergessens des ewigen Kampfes der Formen gegen das Ungeheuer des unbestimmten Grundes.

 

In „Das Inhumane“ schreibt Lyotard: „... die Aufgabe der Kunst bleibt das immanent Erhabene, nämlich anzuspielen auf ein Undarstellbares, das nichts Erbauliches an sich hat, sondern sich in die Unendlichkeit der sich wandelnden ,Realien‘ einschreibt.“ Keine Ästhetik, eine Anti-Ästhetik, deren Stile und Formen nur jeweils historische Ausformungen dessen sind, was sich diesen Werken entzieht und wofür sie Zeugenschaft ablegen: für und gegen das Gewimmel des Vorläufigen. Sie bleiben als auf sich selbst weisender Fingerzeig Beispiel für das nicht dem Funktionieren Untergeordnete, die sich der Totalität und Selbstverständlichkeit versperrende „Schrillheit“, die etwas Unerhörtes im Bereich des Hörbaren vernehmbar macht. Es ergibt sich eine Genealogie der Erscheinungen und keine der Geschichtskonstruktionen, eine Gegenerinnerung (antimemoire) in Form der Augenblicke des Existierens. Es geht um Präsenz, um den kurzen Moment des nicht repräsentierenden Erscheinens, des Nichts repräsentierenden Erscheinens, bevor dieser von der Schrift, so bei Lyotard, oder von der ewigen Wiederholung, bei Malraux, eingeholt und aufgehoben wird.

 

Ein schalltoter Raum ist einer, aus dem nichts dringt und in den nichts hineingelangt. Doch wenn die Geräusche des Umraums verschwinden, fangen die Organe an, einen Heidenlärm zu machen, und wir hören uns selbst, das „ich, die Tatsache“. Es gibt dort keine Stille, da ist immer ein Rumoren, ein ewiger Anfang. Zu diesen Geräuschen gesellt sich die eigene Stimme, die mit der Kehle und nicht mit den Ohren wahrgenommen wird. Die Vergänglichkeit und Dokumentlosigkeit der eigenen Stimme ist irreduzibel, doch gelegentlich gelingt es, die Stimme eines anderen mit der eigenen Kehle, oder wie es Lyotard bei Malraux findet, „die Stimme stummer Werke in seiner Kehle aufsteigen zu hören“. In ihr zeigt sich dann, was zu Beginn jeden Diskurses ausgelassen worden ist, das Nichts, im Stil der jeweiligen Zeit. Dieser „... höhlt das Hörbare an seiner Grenze aus und baut dort eine einzigartige Schachtel, die in der Lage ist, die Vibrationen aufzunehmen, die das Trommelfell zurückweist“. Die Werke sind es nun, die unter dem „Schirm des Vertrauten“ das Nichts konturieren und in denen das Universelle - um den Preis der Trennung der Werke und der Subjekte - erlangt werden kann. In der Erfahrung dieser Einsamkeit und Vergänglichkeit sowie des daran gebunden Entsetzens sind die Menschen durch die Zeit und in der Zeit vereint. Und wieder schleicht sich in alles Bemühen um die Unvereinbarkeiten Lyotards latente Sehnsucht nach Gemeinschaft ein.

 

Hannes Loichinger

 

Peter Engelmann Hg.: Jean-François Lyotard, Der schalltote Raum. Die Anti-Ästhetik von Malraux, Passagen 2001

 

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