Emanzipation durch Herumschlendern
Es gibt heute immer noch Marxisten, Kommunisten, Stalinisten, aber was machen eigentlich die Situationisten? Hat Guy Debord sie 1994 mit in den Tod gerissen? Hat das Spektakel auch sie eingeholt oder „schlafen“ sie nur, um doch irgendwann mal zuzuschlagen? Und wäre das, was dann passiert, die Revolution? Lässt man eine Terminologie eine Zeit lang ruhen und sieht sie sich danach wieder an, merkt man, dass irgendwas nicht mehr passt. Was bleibt, ist Anpassung oder Entsorgung oder Archivierung für andere Zeiten. „Revolutionäre Kohärenz“, ein Schlüsselbegriff der „Situationistischen Internationale“, ist solch ein Terminus. In den aktuellen Debatten würde man ihn vergeblich suchen. Das ist ein Grund, warum man Symposien veranstaltet. Die Maschine wieder anwerfen. Überlegen, was noch oder wieder geht. Der vorliegende Band geht auf ein im Januar 2005 in Wien abgehaltenes Symposium zurück. Ausdrücklich sollte die Veranstaltung nicht hagiografisch orientiert sein, sondern, eher bescheiden, nach der heutigen „Relevanz von emanzipativen Konzepten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ fragen. Liest man die sehr unterschiedlichen Beiträge, wird man als Resümee festhalten, dass das emanzipatorische Potential der Situationistischen Internationale gegen Null geht. Viel mehr trägt der Band zur Archivierung und Musealisierung Debords und seiner Gruppe bei. Das zeigt sich besonders in dem Beitrag des Autorenkollektivs Biene Baumeister – Zwi Negator, „Proletariat – Kunst – Sprache. Situationistische Rekonstruktion und Aufhebung“, in dem der theoretisch-marxistische Hintergrund von Debords Spektakelanalysen nachgezeichnet wird, die heute ohne diesen Ballast eher in rein künstlerische und medientheoretische Bahnen integriert werden. Als Nicht-Marxist glaubt man sich vor einer imposanten Stele von Hieroglyphen, mit dem Unterschied, dass man hier immer noch auf den Stein von Rosette wartet, denn ungeachtet der Tatsache, dass das Theorie-Praxis-Problem integraler Bestandteil des Marxismus ist, wird es nicht dadurch kleiner, dass man es immer authentischer theoretisch zu beschreiben glaubt. Die Praxis ist das schwarze Schaf des Marxismus, und der Situationismus hat das ganz klar gesehen, mit der Folge – und das macht die Nähe zu Adorno plausibel, dessen Name in dem Band sehr häufig genannt wird –, dass die Kritik um so radikaler formuliert werden kann, um so weniger man in unmittelbaren Handlungszwängen steckt, aus dem totalen Gehäuse des Spektakels herauszuführen. Die Arroganz steckt mit im System, das keines sein will. In Debord und Adorno steckt viel mehr Bergson, als sie zugeben würden. Beide sind verkappte Hyper-Idealisten, und das zwingt sie zu einem Spagat, der auf Dauer nicht auszuhalten und aufrechtzuerhalten ist. Sie sind Anti-Pragmatiker, und das lässt sie heute ziemlich alt aussehen. Kein Beitrag des Bandes vermag einen Anschluss herzustellen zwischen Debord’scher Kritik und zeitgenössischem Handlungsbedarf, der sich diese Kritik irgendwie zunutze machen könnte. Man erkennt vielmehr, dass vieles von Debord sehr zeitabhängig war und den blinden Fleck darstellt, den wir heute gegen einen anderen ausgetauscht haben, ohne ihn schon zu kennen. Debords Rede von „authentischen Wünschen“ und „Pseudobedürfnissen“ etwa deutet eine Kluft an, die zwar konstruiert, aber dann doch nicht gefüllt wird. Debords Intensitäten scheinen gefüllt von Bergsons primärem Ich, aber diesem wird verboten, Flagge zu zeigen. Bei Bergson gab es kein Verbot, nur die Unmöglichkeit, dass das primäre Ich anderen authentisch erscheinen könne. Es scheint dieser Fatalismus zu sein, dass da irgendetwas existiert, das einen begeistert, das aber so kostbar ist, das dessen Präsentation verhindert, was Debords Dilemma ausmacht, von etwas zu reden, dessen Existenz er behauptet, ohne es namhaft zu machen. Und das sind leider beste Voraussetzungen für Mystizismus, für dessen realen Einsatz dem Situationismus allerdings die infrastrukturellen Voraussetzungen einer Kirche fehlen. Situationismus bleibt dann also wohl nach wie vor eine private Angelegenheit, denn das Herumschweifen und Entwenden kann jeder nur für sich selbst realisieren. Situationisten sind Revolutionäre im Mikrobereich. Mehr ist aber auch nicht.
Dieter Wenk (05.06)
Stephan Grigat/Johannes Grenzfurthner/Günther Friesinger (Hg.), Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale, Berlin 2006 (Verbrecher)