26. April 2006

Grüße von Janus

 

Von Sartre stammt der treffende Satz: “Niemand könnte auch nur einen Moment annehmen, man könne einen guten Roman schreiben, um den Antisemitismus zu loben.“ Nicht, dass Sartre damit sagen wollte, Céline habe keine guten Romane geschrieben, weil er Antisemit war. Für Sartre – und für wie viele auch? – war es unbegreiflich, dass jemand außerordentliche Romane verfasste und daneben Schriften publizierte, die den Juden die Schuld am desolaten Zustand der Welt zuschrieben. In der Tat, Céline hat keine antisemitischen Romane geschrieben. Aber innerhalb weniger Jahre, von 1937 bis 1941, brachte er drei rassistische Pamphlete heraus – „Bagatelles pour un massacre“, „L’Ecole des cadavres“, „Les Beaux Draps“ –, die einen an der Einheit der menschlichen Psyche zweifeln lassen können. Sartre glaubte deshalb, man habe Céline bezahlt. Diese verschiedenen, anscheinend sich widersprechenden Intentionalitäten konnte er nicht unter einen Hut bringen. Doppelter Boden ohne Zaubertrick. Genau hierin besteht nach Henri Godard, langjähriger Céline-Forscher und Herausgeber des Céline’schen Romanwerks in der Klassikeredition „Bibliothèque de la Pléiade“, der Skandal „Céline“. Wie kann jemand „so gute“ Bücher schreiben“ und zugleich so borniert „denken“. Grandioser Erneuerer der französischen Sprache und widerwärtiger Wiederkäuer des erbärmlichsten rassistischen Geschwätzes. Es gibt hier nichts zurechtzurücken oder zu relativieren. Deshalb hat Godard dieses Buch geschrieben. Er möchte ausbrechen aus dem ewigen Kreislauf der jeweiligen Minimierung der Gegenseite: Céline? Ach ja, das ist doch der, der „Die Reise ans Ende der Nacht“ geschrieben hat, aber er war ja ein furchtbarer Antisemit, also lassen Sie mich bitte damit in Ruhe. Oder: Ja sicher, es gibt diese antisemitischen Schriften, aber was bedeuten die gegen seine genialen Romane, die im übrigen in keiner Weise antisemitisch gefärbt sind. Henri Godard stellt fest, dass zahlreiche Publikationen zu Céline auf einem Auge blind sind. Entweder will man nur den Antisemiten sehen, oder man übersieht ihn, um Céline für die Literatur zu retten. Für Godard gibt es Céline nur im Gesamtpaket (publizistisch kann er diese Formel allerdings nicht umsetzen, da die Witwe Célines die Wiederveröffentlichung der Pamphlete verboten hat). „Céline scandale“ versucht sich in einer Würdigung beider Stränge. Warum sich Céline als Romanautor nicht marginalisieren lässt – er habe, so Godard, der französischen Prosa ein Fundament gegeben, das demjenigen „entgegengestellt war, auf dem sie Jahrhunderte lang ruhte“. (Vielleicht darf man zum Vergleich im deutschsprachigen Raum an eine Figur wie Luther denken, um in etwa ein Gefühl für das Ausmaß der Umstellung zu bekommen.) Und warum es keinen Grund gibt, irgendwelche Entschuldigungen für seinen Antisemitismus zu erfinden (oder sich auf Célines Autorenstandpunkt zu stellen, er habe antisemitisch agiert in pazifistischer Absicht). Beide „Größen“ sind voll ausgebildet, und leider sind sie auf eine einzelne Person zurückzubeziehen. An Céline scheitert jede Art von Integralrechnung. Zwar unterscheidet auch Godard – im Gefolge Prousts und Bergsons – ein Tiefen-Ich von einem sozialen Ich oder ein kreatives Ich von einem interventionistischen Ich, aber das sind natürlich selber schon Effekte einer Kategorientafel, die mehr mit Plausibilisierung als mit rationalem Nachvollzug zu tun haben. Es ist und bleibt irritierend, wenn der Leser entdeckt, dass in Schriften wie „Bagatelles pour un massacre“ Céline die gleiche Aufschreibetechnik verwendet wie in seinen Romanen, dass hier der gleiche verführerische Sound ertönt wie dort. Man müsste die drei Pamphlete wiederlesen können und dürfen, Céline hat sich nie von ihnen distanziert, aber leider herrscht im Verlagswesen immer noch eine völlig antiquierte Sippenhaft, der seltsame Order von Zugehörigkeit zugrunde liegen. „Céline scandale“ ist etwas zu lang und vor allem stilistisch zu akademisch geraten. Leser der extremen Standpunkte wird Godard schwerlich erreichen, das Buch ist eine Art Zwischenresümee der bisherigen Auseinandersetzung des seit Sade vielleicht umstrittensten Autors französischer Sprache.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Henri Godard, Céline scandale, Paris 1994 (Gallimard)