23. April 2006

Passion des inneren Kinos

 

Die Lebensphilosophie war ein großes Rückerstattungsunterfangen. Das Leben sollte dem Leben wiedergegeben werden. Das Leben lebte nicht mehr, so dachte man, sondern tat nur noch als ob. Es war seine eigene Parallelaktion, mal gespenstisch, mal komisch. Über die komischen Seiten dieser sozialen Mechanik informierte Henri Bergson in seinem Buch über „Das Lachen“. Unter der Hand zeigte er dort, dass nicht immer, wenn man enttäuscht wird, es Trübsal zu blasen gilt. Im Gegenteil. Leute, die wie Automaten handeln, obwohl man ihnen gerade noch wärmstens die Hand geschüttelt hat, sind komisch. Bergsons Komik ergibt sich durch das Unterschreiten einer Erwartungsschwelle. Sie ist weniger ein Mit- als ein Ver- oder Auslachen. „Du mécanique plaqué sur du vivant“ (Mechanik, aufgesetzt auf Lebendiges) – so hieß die griffige Formel, aus der sich leicht ein sozialer Kontrollgestus herauslesen lässt. Der Dualismus von Leben im emphatischen Sinn und Mechanik im Sinn einer Begleiterscheinung sozialer Infrastruktur findet sich schon in Bergsons erster Schrift „Sur les données immédiates de la conscience“ (zu deutsch: Über die unmittelbaren Bewusstseinsdaten; Verkaufstitel: „Zeit und Freiheit“). Hier stehen sich ein profundes Ich und ein soziales Ich unvermittelt gegenüber. Das soziale Ich ist die Maske, mit der das Ich sich zeigt, sich verständlich macht, es ist genau aus dem gemacht, was die Systemtheorie viel später als Erwartungserwartung bezeichnen wird. Es ist alles andere als ein Zufall, dass es das soziale Ich gibt, denn im strikten Sinn ist das profunde Ich unaussagbar. In dem Moment, wo es sich der Sprache überantwortet, ist es um die Authentizität des Tiefen-Ich geschehen. Wo es in sich etwas Lebendiges erlebt hat, muss es auf die Krücken der allen in mehr oder weniger gleichem Maße zur Verfügung stehenden Sprache zurückgreifen und entäußert sich dadurch. Es macht sich zwar verständlich, aber genau um die Differenz der je eigenen Erfahrungsqualität, die für immer in die eigene Psyche eingeschlossen ist. Allein der Künstler soll die Fähigkeit haben, bewusstseinsüberführende Maßnahmen ergreifen zu können (es ist jedoch bezeichnend, dass Bergson darauf verzichtet, diesen Verkehr genauer zu schildern; und liegt in diesem Verzicht nicht die Unfähigkeit zu einer jeden künftigen Ästhetik?). Bergsons Problem liegt nun nicht im bloßen Faktum des sozialen Ich. Für sein Dasein gibt es gute Gründe. Er wehrt sich jedoch dagegen, über dem sozialen das andere Ich zu vergessen oder zu behaupten, es sei aus dem gleichen Holz. Das soziale Ich lässt sich bequem in seine einzelnen Teile zerlegen, es lässt sich verorten, die Plätze, auf denen es auftauchen könnte, sind alle schon da. Das ist gewissermaßen der etwas langweilige Teil dessen, dem sich jeder zu unterziehen hat, soll ein einigermaßen kontrollierbares gemeinschaftliches Leben aufrechterhalten werden können. Man hätte hier kein Problem, das alltägliche Leben auf einer Karte abzubilden, die Zeit spielt kaum eine Rolle, weil die Abläufe ziemlich klar sind. Die Dauer eines Tages: Das sind Stationen, die man passiert, gerade weil nichts passiert. Das soziale Ich hat überhaupt kein Problem dabei, die Zeit, Sukzession, in den Raum, Simultaneität, zu entfalten, wie sich Bergson ausdrückt. Das äußerliche Leben gleicht beglaubigten Hypothesen naturwissenschaftlicher Modelle. Alles scheint eindeutig determiniert. Wie anders dagegen die Erfahrung des profunden Ich. Dieses lebt noch in einer Welt der Vorsprachlichkeit, wo selbst Aristoteles’ Satz vom ausgeschlossenen Dritten nichts zu suchen hat: „Wenn wir aber die Berührungsfläche zwischen dem Ich und den äußeren Gegenständen aufgraben und in die Tiefen der organisierten und lebendigen Intelligenz dringen, werden wir zu Zeugen der Übereinanderstellung oder besser der innigsten Verschmelzung sehr vieler Vorstellungen, die, erst einmal geschieden, sich in der Gestalt einander logisch widersprechender Termini gegenseitig auszuschließen scheinen. Die bizarrsten Träume, wo zwei Bilder einander überdecken und uns gleichzeitig zwei verschiedene Personen zeigen, die aber nur als eine einzige vor uns stehen, können uns eine schwache Vorstellung von der gegenseitigen Durchdringung unsrer Begriffe geben, wie wir sie im wachen Zustand haben.“ Mit der Unterscheidung zwischen sozialem und profundem Ich bewaffnet tritt Bergson gegen den psychologischen Atomismus, gegen den Determinismus und den psycho-physischen Parallelismus an, um zu zeigen, dass die Zeiterfahrung des Tiefen-Ich eine der Dauer ist, die einmalig, für es selbst unwiederholbar, heterogen und natürlich in keiner Weise veräußerbar ist. Leute, die komplett vergessen, dass sie in sich etwas Eigenes, also ganz und gar Lebendiges, unterhalten, ohne dass sie dafür groß zahlen müssen, dürfen von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, dass ihre äußere Mechanik einer Überholung bedarf. Und so erfährt man ganz nebenbei, dass Lachen und Mode mehr Gemeinsamkeiten haben, als man denkt. Man verliert übrigens nichts, wenn man gleich mit dem zweiten Kapitel dieses Buchs beginnt. Nur „absolute Beginner“ werden allerdings die Luftmatratzen-Situation an sich erfahren können: Erst mal passiert überhaupt nichts beim Blasen, und mit einem Mal sieht man, ziemlich abgekämpft, Land. Das ist sehr schön.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Hamburg 2006, 3. Auflage (Philo & Philo Fine Arts/EVA)