13. Oktober 2003

Kunst oder Leben?

 

Zu Gabriele Wohmanns jugendlichem Alterswerk

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Für die überwiegende Mehrheit sind sexuelle Paarbildung und Kinderaufzucht in irgendeiner Form unverzichtbar", so der englische Kulturwissenschaftler Jack Goody in seinem Essay über die "Geschichte der Familie". In dieser verallgemeinerten Form gilt das natürlich auch hier und heute - und das trotz Singles, Scheidungen und zunehmender Individualisierung. Umso verwunderlicher, dass die Familie in der neueren deutschen Literatur kaum vorkommt. Vielleicht gilt es als uncool, über etwas zu schreiben, dem man so stark ausgeliefert war oder ist. Geschichten über ein idyllisches Familienleben wären ja nun auch wirklich eher langweilig. Von alltäglichen Konflikten, Leid und menschlichen Problemen andererseits ist das eigene Leben schon voll genug. Gleichwohl gibt es gerade für die Beschreibung dieser Schattenseiten des Lebens ein unerschrockenes Publikum und eine ebenso unerschrockene Autorin.

 

Die mittlerweile 70-jährige Gabriele Wohmann ist bekannt dafür, dass sie sich nicht um Coolness schert. Ihre zahlreichen Bücher handeln von zum Teil unerträglicher Normalität. Bösartige Kritiker sehen darin einen Mangel an Fantasie. Ihre Fans dagegen fühlen sich von Wohmann in ihren eigenen Gefühlen und Problemen bestätigt und verstanden. Es gehört wohl immer noch zu den Rätseln der Psychologie, wieso das Wiederentdecken der eigenen Situation in Literatur und Film ein so großes Glücksmoment beschert, auch wenn durch solcherlei Verdopplung die Langeweile und Mittelmäßigkeit des eigenen Glücks oder Schreckens bewusst zu werden droht. Dennoch wäre es verkehrt, Wohmanns Romane mit Vorabendserien gleichzusetzen, die auf dieses Phänomen spekulieren. Dafür ist die Selbsterkenntnis für den Leser oft zu schmerzhaft, was der schonungslosen Demaskierung, dem psychologischen Gespür und nicht zuletzt doch auch der literarischen Ironie geschuldet ist, mit der Wohmann nun schon seit den 50er Jahren arbeitet. Anders als ihre bisherigen Werke, die entweder sarkastisch-zynisch oder tragisch wirken, ist ihr neuer Roman "Schön und gut" eher leicht gehalten. Er handelt von einer Patchworkfamilie und ist aus der Sicht und im Jargon der beiden jugendlichen Kinder geschrieben. Da ist David, der Sohn von Louis. Und seine Cousine Muriel, die, da ihre Ethnologeneltern den Globus bereisen, sozusagen zur Familie gehört. Und schließlich Flora, die Freundin von Louis. Eine attraktive, unangepasste und zugleich verletzliche Frau, die auf die beiden Teenager eine so große Faszination ausstrahlt, dass diese beschließen, ein Buch über sie zu schreiben. Das Buch ist in großen Teilen der Roman "Schön und gut" geworden. Abwechselnd erfährt der Leser von David und Muriel, wie sie die Erwachsenen und sich selbst reflektieren. Sie berichten von ihrem Alltag, von Diskussionen über Literatur und Philosophie und vor allem von der Anziehungskraft der von ihnen abgöttisch bewunderten Flora.

 

Am Anfang des Romans steht eine gemeinsame Reise, in der es von überholten Klischees nur so strotzt. Die vier sind im Volvo unterwegs, selbstverständlich nach Frankreich, und natürlich raucht Flora Gauloise. Und selbst den Kindern werden welche angeboten. Auch die Sprache, die Wohmann den Jugendlichen in den Mund legt, wirkt altbacken. So wurde vor 20 Jahren geredet. Beim Verfassen ihres Buches sind sich die Pubertierenden dessen sogar selbst bewusst, wenn David Zweifel an ihrem Projekt bekommt: "Wir sind beide wahrscheinlich zu wohlerzogen für die wahre Kunst." Und Muriel antwortet: "Geschrieben wird heute sowieso anders. Pornomäßig." Und so stellt folgerichtig Muriel zum Schluss des Romans die Frage: "Also was nun, Leben oder Kunst?" Es ging den beiden von Anfang an eher ums Leben. Die Aufzeichnungen sind Reflexionen für das eigene durch Liebe, Politik, Literatur und Pubertät irritierte Selbstverständnis. Nicht aber als Literatur gedacht.

 

Gabriele Wohmann: Schön und gut. Roman.

Piper Verlag, München 2002.

222 Seiten, 16,90 EUR.

ISBN 3492043992