19. September 2003

Ins Hirn getroffen

Zu Klaus Theweleits "Der Knall: 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell"

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Bereits am Tag der Terroranschläge des 11. September 2001 hieß es, dass jetzt nichts mehr so sein würde wie zuvor. Mit den US-amerikanischen Vergeltungsschlägen und der kriegerischen Durchsetzung einer neuen Weltordnung hat sich dies auf politischer Ebene nur allzu sehr bestätigt. Dass der Schock, den die Bilder von den einstürzenden Türmen auslösten, allerdings ein Umdenken in Gang gebracht hätte, davon kann - von heute aus betrachtet - wiederum keine Rede sein. Zwar haben die Amerika-kritischen Stimmen Hochkonjunktur. Von Michael Moore bis Noam Chomsky wird Charakterstudie oder Korruptionsanalyse betrieben. Und spätestens seit dem Alleingang der USA beim Irak-Konflikt konnte man in Europa wie in Amerika selbst auch wieder kritische Stimmen auf höchster Ebene vernehmen. Wirklich neu sind die Thesen und Fakten aber nicht. Globalisierungskritik gibt es nicht erst seit den Al-Kaida-Anschlägen, und von den Machenschaften der CIA konnte man, wenn man es bereits nicht schon wusste, wenigstens einiges ahnen.

 

Fast zwei Jahre nach den Anschlägen vom 11. September sind die direkten Reaktionen aus den Feuilletonredaktionen vielleicht nicht mehr allzu spannend. Nicht weil die damaligen Kommentare heute keine Bedeutung mehr hätten. Sondern einfach, weil statt der theoretischen Verarbeitung nun die Pragmatik militärischer Einsätze die Medien bestimmt. Gerade angesichts der ernüchternden Schweigsamkeit der Intellektuellen angesichts des Irak-Krieges - die, wenn sie überhaupt zu dem Thema Stellung nahmen, sich auf strategische Planspiele beschränkten oder dankbar und selbstverliebt das Thema des "Alten Europas" aufgriffen - lohnt es sich aber, den Metakommentar Klaus Theweleits zu den Texten über die Angriffe auf das World Trade Center noch einmal zur Hand zu nehmen.

 

Mit dem Verfahren des Close reading durchforstet Theweleit die wichtigsten Feuilletonartikel zu den Anschlägen von so unterschiedlichen Denkern wie Jean Baudrillard, Susan Sontag, Diedrich Diederichsen oder Slavoij Zizek. Theweleits Polemik bei gleichzeitiger Zurückhaltung einer eigenen expliziten Wertung machen das Lesen nicht gerade einfach. Er folgt damit seinem seit den "Männerphantasien" durchgehaltenen Erfolgsrezept der unlinearen Montage. Es ist der Versuch, nicht selbst in den irrationalen Strudel hineinzugeraten, den er seinen Versuchsobjekten ankreidet, sondern sich ein möglichst nüchternes und offenes Denken zu bewahren.

 

Die viel beschworenen Metaphern vom Zusammenbruch der Realität oder der Rückkehr des Realen durch die Ereignisse des 11. September zeugen daher nach Theweleits Analyse auch nicht so sehr von den tatsächlichen politischen und medialen Umständen, als vielmehr von den marktstrategischen Positionierungen der jeweiligen Autoren. "Die Kommentare der schnellen Eingreiftruppe der First-Rank-Gegenwartsdeuter geben mehr Aufschluss über die Schreiber als über die geschriebene Sache; das ist u.a. auch ihre Funktion, ist so beabsichtigt. Die Brechung eines bestimmten Ereignisses oder Films durch die personality eines Autors mit Namen ist gewünscht, ist Teil der medialen Verarbeitung dieser Dinge."

 

Dem Filmkritiker Georg Seeßlen etwa wirft Theweleit vor, sein reichhaltiges Arsenal, das er im Regal hat, mehr oder weniger beliebig nach dem Variationsprinzip einzusetzen. "Begriffe werden von Zeile zu Zeile, von Absatz zu Absatz, durch jeweils andere einfach ersetzt, in einer Schreibbewegung, die unverdrossen Kraut auf Rüben häuft, Traum auf Fantasie auf Illusion auf unterbewussten Wunsch, als wäre das alles ein- und dasselbe; nachvollziehbar allein das erkennbare Bemühen, begriffliche Wiederholungen zu vermeiden." Bei so viel Anschlussfähigkeit umso erstaunlicher, dass die meisten Intellektuellen ihre eigene Sprachlosigkeit zu den Vorkommnissen konstatierten. Ihr intellektuelles Stottern ist für Theweleit Ausdruck dafür, dass ihr postmodern-baudrillardsches Begriffssystem nicht in der Lage ist, solche Ereignisse zu beschreiben. Wenn Zizek beispielsweise behauptet, dass Amerika in gewisser Weise dem begegnete, worüber es in Filmen und Literatur schon lange fantasierte, und es gleichzeitig die größte Überraschung nennt, entgegnet Theweleit so logisch wie bieder: "Wieso soll es die größte Überraschung sein, wenn man dem begegnet, was man andauernd fantasiert."

 

Auch Altmeister Baudrillard selbst nimmt Theweleit in die Zange. "Diese terroristische Gewalt, so jener, "bedeutet also weder eine Rückkehr der Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte. Diese terroristische Gewalt ist nicht real. In gewissem Sinne ist sie schlimmer als das: Sie ist symbolisch." Solcherlei Begriffsakrobatik ist für Theweleit nicht mehr als sinnloses Geplapper. Aber auch den Kritikern der Symboltheorie kann er nicht zustimmen. Der für die baudrillardsche Argumentation bisher offen gewesene Diedrich Diederichsen möchte die Trennung zweier Realitäten nach den Terroranschlägen nicht mehr mitmachen. "Diese Aufteilung war ihm am 11. September zusammengebrochen, weil dies ein Angriff auf Codes gewesen war, der dennoch reale Tote produziert hatte: ein Schock, den Diederichsen entscheidend nennt. Die Sache mit der realeren Welt der Codes und der Medien schien ihm als Unsinn im Realisieren des wirklichen Mordens." Mit dem Verfahren, politische Verhältnisse in kulturalistischen Begriffen darzustellen, "wobei die Annäherungen an Fremdes über den Komplex der notwendigen Respektierung dieser Kulturen mit sich geführt hatte", sollte Diederichsens Meinung nach Schluss sein.

 

Theweleit favorisiert dagegen eine Symbiose der beiden Ansätze. "Wir sind infiziert mit einer Art verändertem Bild - vermutlich ein schon länger laufender Prozess. Er wurde nicht generiert im Live-TV-Einschlag des zweiten Jets in die Türme; aber durch ihn und den folgenden Einsturz wurde die Veränderung sinnfällig." Seiner Vermutung nach sind es nicht nur zwei, sondern zahlreiche Realitätsarten:

 

"Sie unterscheiden sich im einzelnen in vieler Hinsicht, existieren aber prinzipiell gleichberechtigt und unabhängig voneinander. Ihre Unterscheidung in reale, virtuelle, mediale, geträumte, halluzinierte, konstruierte usw. scheint rein willkürlich geworden ... Denen, die auch ein Symbol einstürzen sahen (ein Symbol für amerikanisch-jüdisches Finanzmonopol, für etwas Phallisches, für den Fortschritt überhaupt etc.), entgegenzuhalten, es wären aber reale Tote unter den Trümmern, ist schlicht dümmlich."

 

So wie von unterschiedlichen Wahrnehmungen, so Theweleit, müssen wir auch von mehreren Diskurssysstemen gleichzeitig ausgehen. "Wir funktionieren längst auf den Schienen verschiedener Parallelrealitäten, zwischen der wir hin- und hergehen oder auch -schalten können."

 

Einer der wenigen Kommentatoren, dem Theweleits Auffassung nach nicht ins Hirn getroffen wurde, ist Peter Sloterdijk. Er versuchte, die Ereignisse im geschichtlichen sowie globalen Maßstab zu verorten:

 

"Betrachtet man die Sache kühl, ohne gerüstet in den Schranken zu stehen für eine favorisierte Erscheinungsform des mythischen Wesens Realität, erscheint es selbstverständlich, dass man die Toten betrauern kann, das Verbrechen hassen, dass man Tränen vergießen kann über die Verbrannten, und das Symbolische mitdenken, ohne irgendjemandem zu nahe zu treten oder gar zu verletzen; also die vorhandenen Mythen der Menschheitsgeschichte zu Hochhausstürzen wach halten: nebeneinander, gleichzeitig, nacheinander, und ohne den geringsten Widerspruch zwischen ihnen oder zu einer anderen Wahrnehmungsweise."

 

Ein in diesem Zusammenhang erhellender Skandal war der des Komponisten Karlheinz Stockhausen. Dieser vergaß in seinem "Hingerissensein von der Überlegenheit des dämonischen Künstlers", den er bei den Terrorakt am Werk sah, zu erwähnen, dass er den Anschlag verurteilt. Ein kurz nach dem 11. September ausgestrahlter Clip zu einem U2-Song auf CNN, der ästhetisch mit den einstürzenden Hochhäusern operierte, wurde dagegen als moralisch korrekt angesehen. Die Verkunstung der TV-Bilder, eine künstliche Re-Fiktionalisierung, fungierte als psychologischer Schutzwall, um dem unerträglichen Kontrollverlust erneut Unverletzlichkeitsfantasien zu bieten. Stockhausen hatte dagegen im falschen System geredet. Als Künstler im Politischen, als Komponist im Feld Fundamentalismus und internationaler Terrorismus. "Was eine gute, akzeptable Realität ist, und was eine verwerfliche, schlechte, falsche, übertreterische oder gar kriminelle, wird demnach bestimmt von ihrem Erscheinungsort und der Erscheinungszeit, in diesem Fall vom Sendeort. Nichts als dieser Sendeort bestimmt die Art und Intensität der spezifischen Realität dieses Clips."

 

So sympathisch es ist, dass Theweleits neben seiner harschen Kritik in seinem Buch nicht vorgibt, es besser zu wissen als die von ihm analysierten Autoren, so schal bleibt doch das Ergebnis dieser Studie. Ganz anders dagegen der erste dem Haupt-Essay vorangestellte Text "Playstation Cordoba/Yugoslavia/Afghanistan etc.", in dem er die Hintergründe der kriegerischen Konflikte vor dem 11. September behandelt. Theweleit nimmt darin ein Thema wieder auf, das er schon in "Pocahontas" behandelt hatte. Künstliche Ethnisierung und Entmischung, so seine nicht ganz neue, aber an den einzelnen Konflikten gut durchgeführte These, fördern die Gewalt innerhalb von Gesellschaften. "Die Politik der kulturellen Identität besteht darin, Minoritäten innerhalb von Majoritätsgesellschaften anzustiften, ihre je kulturelle Autonomie zu behaupten, zur Not mit Gewalt [...] Die Begriffserfindung der kulturellen Identität hat keine reale Entsprechung, sie ist ein Kontrafaktum, eine Konstruktion zur Erpressung der zu ihr gehörigen und zur ausbeuterischen Ausgrenzung aller nicht zu ihr gehörigen." Insbesondere der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher wird von Theweleit heftig und polemisch kritisiert für seine ethnisch ausgerichtete Politik im Kosovo-Krieg. Dass die geschichtlichen Fakten der jüngsten Zeit ein Umdenken in Theweleits linkspolitischem Denkuniversum bewirkte, daraus macht er keinen Hehl. "Ich schäme mich. So weit ist mensch also gekommen, als de-nationaler Kosmopolit: pfeifend auf dem letzten Loch, nach stabilen Nationalstaaten (plus regulierender EU) zu jammern gegen die Pest des Völkischen und des Religiösen..."

 

Im Gegensatz zu den im Ganzen gesehen eher verwirrenden Textanalysen zum 11. September ist diese Skizze des "Kriegsmodells" in Meinung und Argumentation erfrischend konkret. Eine Verbindung der beiden Essays, also wie die Realitäten-Vielfalt mit den globalen Mächten und ethnischen Konflikten in Zusammenhang stehen, bleibt Theweleit aber leider schuldig.

 

 

Klaus Theweleit: Der Knall. Essays, Reden, Poems, Interviews.

Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2002.

280 Seiten, 18,00 €