24. September 2003

Sound without visions

 

„Das Empfinden musikalischer Spannung und das Unterscheiden komplexer Zusammenklänge und Mikrointervalle in einem dichten kontrapunktischen Gewebe ist ohne deutliche Bezugspunkte kaum möglich. Das Ohr neigt sogar dazu, sehr viel zu korrigieren und zu camouflieren.“ Diese Bemerkungen, die auf einen vermutlich stärker physiologischen als bloß soziokulturellen Zusammenhang zwischen harmonischer Steuerung und musikalischer Spannung hinweisen, stellte vor gut 15 Jahren der Musikwissenschaftler Leo Samama an, um bestimmte Gegenbewegungen gegen beispielsweise serielles Komponieren plausibel zu machen, hatte sich doch seit Beginn der 70er Jahre eine verstärkte Hinwendung zurück zur Tonalität und überhaupt zum Wohlklang kompositorisch bemerkbar gemacht. Samamas Beobachtungen lassen sich jedoch auch auf zumindest einen Teil heutiger elektronischer und digitaler Musik anwenden, für die in diesem Zusammenhang die Veröffentlichungen des Musik-Labels „Mille Plateaux“ stehen mögen, deren Gründer, Achim Szepanski, Mitherausgeber von „Soundcultures“ ist.

Jeder, der sich zum Beispiel die 1996 bei Mille Plateaux erschiene Doppel-CD „In Memoriam Gilles Deleuze“ des Öfteren anhört oder angehört hat, wird Schwierigkeiten dabei haben, welchen Track auch immer zu memorieren. Der Hörer lauscht verschiedenen Sounds ohne „tonalen Magneten“, ohne „Grundton als Koordinationspunkt“, die Klänge scheinen keinem bekannten Organisationsschema zu folgen, man weiß nicht, woher diese Klänge und Sounds kommen und wohin sie gehen oder in was sie überführt werden, die Sounds mögen ereignisreich sein, spannend in dem oben beschriebenen Zusammenhang sind sie nicht. Es ist kein Zufall, wenn Lektüreversuche von Texten von Gilles Deleuze, beispielsweise von dem 1980 erschienenen und mit Félix Guattari mitverfassten „Mille Plateaux“, von dem sich das Frankfurter Label den Namen hat geben lassen, ähnlich resultatlos ausfallen. Hier ist ein anderes Schreiben und somit auch ein anderes Lesen am Werk. Das im Grunde thesenlose Buch führt sein eigenes Funktionieren an sich selbst vor, es funktioniert radikal immanent, und jeder Leser, der sich nicht darauf einlassen will, dass der Zugang zu diesem Buch wie derjenige des armen Schluckers Kafkas vor dem Gesetz ihm von vorne bis hinten anheim gestellt ist, wird es sehr bald wieder aus der Hand legen, um vielleicht im selben Moment dem Stück „You are • here 0.9 B“ von Oval, das er gerade hört und auf oben genannter CD firmiert, ebenfalls den Garaus zu machen.

„Soundcultures“ dagegen ist ein lesbares Buch, das zwar Deleuze (und Guattari) predigt, deren Programm aber auf eine Weise prozessiert, auf die der nicht ganz uneingeweihte Leser eher schon abgeklärt wenn nicht sogar etwas gelangweilt reagiert. Dies gilt für das Vokabular der meisten der hier versammelten Aufsätze, das seine Herkunft aus der deleuzianischen Sprachmaschine erst gar nicht verschleiert, in besonderem Maß aber für das Vorwort, den so genannten Soundcheck, der für den Hörer bzw. Leser ja immer etwas Anstrengendes hat. Immer noch – in der Philosophie, in der Musik – haben wir es mit praktiziertem Manichäismus zu tun: Das Material ist immer „wild wuchernd“, die Finalität immer „monoton“, die Ursprünglichkeit immer „vermeintlich“, und das „Sinnzentrum“ steht natürlich unter strengstem Bann. Nachdem der Leser so was im Laufe der Zeit zum tausendstenmal gelesen hat, wünscht er sich dann doch mal wieder eine andere Art der Gegenstandsannäherung. Wenn zum Beispiel Andreas Busche formuliert, dass das deleuzianische Konzept des Rhizoms für das Label Mille Plateaux „immer zentraler“ wird, dann liest sich das unfreiwillig komisch und die Zeit, wo sich ein Denken selbst ad absurdum führt, scheint nahe.

Das von Deleuze/Guattari autorisierte und auch in diesem Sammelband empfohlene Geschmäcklertum (man nehme, was gefällt) kann kein Rezensent hintergehen, dennoch sei verraten, das ihm das Eingangskapitel von Frank Ilschner am ergiebigsten erschien, in dem ein Abstract über elektronische Musik zu lesen ist mit besonderer Berücksichtigung der letzten zwanzig Jahre, was man ausführlicher vielleicht schon bei Ulf Poschardt in „DJ Culture“ lesen konnte, aber immerhin ist dieses Buch auch schon wieder 8 Jahre alt. Kim Cascones Aufsatz über „Laptop-Musik“ berichtet von den Schwierigkeiten popkulturindustriegeschädigter Hörer, die Hampelmannlosigkeit von Musikern, die „bloß“ hinter dem Computer stehen, der für sie Musik macht, so recht zu würdigen. Spätestens hier wird klar, dass digitale Musik dann doch einen Erziehungsauftrag hat, man muss ja nicht gleich an die alten amerikanischen und russischen Entnazifizierungsprogramme denken. Dirk Baecker hat mit Sicherheit wieder einen sehr klugen Artikel geschrieben, aber der Abstand zwischen dem systemtheoretischen Input und der versuchten Engführung mit musikalischem Material war mir dann doch zu groß. Christoph Cox verdanke ich die Einsicht, dass der „organlose Körper“, den Deleuze/Guattari 1972 zimmerten, nichts anderes ist als Robert Musils „Möglichkeitssinn“, nur halt im zeitadäquateren materialistischen Wortgewand. Wer immer noch glaubt, von der digitalen Musik reine Sounds präsentiert zu bekommen, der wird von Rudolf Maresch schwer enttäuscht, denn Klänge sind nie unmittelbar zu hören, sondern immer über ein Medium vermittelt. Frank Hartmann lässt sich nicht lumpen und ruft gleich mit dem „Sound“ die Signatur eines neuen Medienzeitalters aus – „trotz aller medientheoretischen Kaprizierung auf Sichtbarkeiten, Oberflächen und grafischen Interfaces“. Der Rezensent gesteht, dass er sowohl von den „Lichtungen“ als auch den „Breakbeats des Seins“ die Nase gestrichen voll hat – take five. Nicht jedes Hören von Musik evoziert die volle metaphysische Ladung. Und ein bisschen tanzbar sollte manche Musik schon auch sein. Und dazu reicht dann ein Plateau völlig aus.

 

Dieter Wenk

 

 

Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, hg. von Marcus S. Kleiner und Achim Szepanski, Frankfurt/Main 2003 (edition suhrkamp), 240 Seiten, 12 Euro