9. September 2003

Die Apokalypse erreicht Heiligensee

Wer freiwillig in Hausarrest sitzt, erwartet entweder nichts mehr von draußen oder nur Schlimmes. In Tim Staffels Theaterstück "Hausarrest", das im Berliner Prater aufgeführt wurde, geht es um sechs Menschen, die während der Mai-Krawalle Schutz in einer Berliner Wohnung suchen. Kennt man Staffels Romane "Terrordrom" und "Heimweh", weiß man, was sie außerhalb erwartet: Gewalt und Terror. Dass das Drinnen zunehmend zum Fluchtpunkt wird, weil das Draußen immer unerträglicher zu werden droht, ist nun auch Thema seines neuen Romans "Rauhfaser".

 

Der Erzähler Paul ist sich selbst nicht sicher, ob es sich für ihn bei seiner Wohnung um einen Schutzraum oder ein Schutzgewahrsam handelt. Die meiste Zeit verbringt er zu Hause und ertrinkt in den Fernsehbildern, die per Videobeamer über seine Rauhfasertapete flimmern. Die Informationsflut reicht vom Einsturz des Moskauer Fernsehturms über die Intifada in Palästina bis zur Haarprobe des Bundestrainers. Banalitäten und Tragödien wechseln sich scheinbar gleichberechtigt ab. Paul räsoniert über den negativen Einfluss von Informationen, kann sich den Medien aber trotz seiner Skepsis nicht entziehen. "The Matrix has you", heißt es immer wieder.

 

Durch seinen neuen Nachbarn David kehrt er zurück in die äußere Welt und raus aus seiner kritischen Distanz. Der 19-Jährige bringt ihn um den Verstand. ?Ich rede davon, dass mein Kopf-Herz-Schwanz-Imperium einzustürzen droht?, teilt er seiner besten Freundin Sonja mit. Die 14 Jahre Unterschied machen die Sache nicht einfach. "David ist ein Geschenk, das ich besser nicht annehme. David ist mein ungefickter Sohn. Das bedeutet Verantwortung. Das beschreibt ein Tabu." Das Faszinierende an David ist neben seiner jugendlichen Unbeschwertheit seine Spielernatur. Der Bruce-Lee-Fan geht aufs Ganze: "Spiele ohne Gewinner sind für Sozialpädagogen." Und so erleben die beiden Szenen, die man bereits aus den beiden anderen Romanen Staffels kennt. Sie touren durch das aggressive Nachtleben Berlins, werfen Speed und Ecstasy ein und saufen wie die Löcher.

 

Doch Paul ist nicht mehr so fit und nicht mehr so jung, er kann der ständigen Suche nach dem Kick nichts mehr abgewinnen. Nachdem David sich ihm immer mehr entzieht und in zwielichtigen Kreisen verkehrt, flüchtet Paul erneut in sein Fernseh-Reich. Der mediale Overkill am 11. September 2001 mit seiner Gleichschaltung aller Programme und den immergleichen Bildern aber gibt ihm den Rest. "Die Fernbedienung wurde überflüssig. Man war sich einig. Ich riss die Rauhfastertapete von den Wänden, drehte die Lampen aus dem Videobeamer, öffnete das Fenster und begann zu atmen." Paul flieht, nun endgültig, aus der echten wie medial vermittelten Realität in die abgeschiedene Einsamkeit. Er entdeckt das Fallschirmspringen und richtet sich halb in Fehrbellin halb in Mexiko ein, auf der Suche nach der "Lücke einer gedankenlosen Gegenwart".

 

Erst zwei Jahre später kommt es wieder zum Kontakt mit David, der mittlerweile mit Sonja ein Kind hat und sich in einem Haus in Heiligensee außerhalb von Berlin eingerichtet hat. Auch diese Idylle wirkt wie ein selbstgewählter Hausarrest. Nicht Stadt, nicht Land und trotzdem weit genug von allem, um sich in Sicherheit zu wiegen. Was zunächst nach einer Spießerwelt aussieht, hat einen doppelten Boden. David unterrichtet tödlichen Kampfsport und ist umgeben von rechten Kameraden. "Hier wird gewusst, wovor man sich zu schützen hat, gegen wen man sich verteidigt, warum man eng zusammenrückt, alles eine Frage des Glaubens." Es ist nur eine Stimmung, die Staffel beschreibt, denn mehr, als dass David nicht nach London ziehen würde, da ihm dort zu viele Pakistaner und Inder leben, erfährt man nichts über seine politische Einstellung. Auch von seinen Freunden bekommt Paul nicht mehr mit als die provokanten Aufdrucke ihrer T-Shirts. Und doch ist die Atmosphäre der sich hier zusammenbrauenden Parallelwelt für ihn beängstigend.

 

Nach seinen beiden trashigen Romanen "Terrordrom" und "Heimweh" ist Staffel zu sich selbst und zur bundesrepublikanischen Wirklichkeit gekommen. "Rauhfaser" ist realistisch und reflektiert und vollkommen ironielos. Es geht um intellektuell begabte Menschen, moralische Einstellungen und die Grenzen des Verstehens. War die Kritik an den zynischen Medien und der gewaltlüsternen Spaßgesellschaft in "Terrordrom" immanent angelegt und suchten die Helden aus "Heimweh" im bürgerkriegsgeschüttelten Ausland nach Liebe und Freundschaft, reflektiert hier der Protagonist explizit die Sinnentlehrung der deutschen Medienkultur und die in seinen Augen damit in Zusammenhang stehende rechte Gefahr.

 

Dass wir über die Meinungen und Argumente Davids oder seiner rechten Gesinnungsgenossen nichts erfahren, ist vielleicht literarisch geschickt, da es dem Leser Raum zu Interpretation lässt, macht "Rauhfaser" jedoch auf der Handlungsebene zu einem reinen Beziehungsproblem. Die gesellschaftlichen Ursachen des Konflikts zwischen den beiden Hauptfiguren wirken somit ohne weiteres austauschbar. Das fatalistische Ende des Romans ist denn auch weniger die Konsequenz politischer Resignation als vielmehr die persönlichen Scheiterns. Staffel hat zwei Ebenen miteinander verbinden wollen, beide aber nur angerissen. Die Unterschiede in den Lebenseinstellungen und -erfahrungen zwischen den Protagonisten sind auch von vorneherein zu stark angelegt, als dass es zu gleichwertigen Auseinandersetzungen kommen könnte. Zugleich liegt aber genau darin auch das Spannende an Staffels Roman, dass seine ungleichen Helden, wenn auch vergeblich, zumindest versuchen, Grenzen zu überschreiten, statt sich in ihrem selbstgewählten Hausarrest zu verbarrikadieren.