13. Oktober 2003

Das langweilige Leben einer Diva

 

Zu Susan Sontags neuem Roman "In Amerika"

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Man stelle sich vor, Susan Sontag hätte ihren Roman "In Amerika" nicht unter ihrem Namen, sondern unter einem Pseudonym veröffentlicht. Gut, viel wäre damit nicht gewonnen. Es ist eine müßige Frage, ob große Literatur von der einmal anerkannten Größe ihres Autors abhängt. Doch in zahlreichen Interviews zu ihrem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch tut die Amerikanerin so, als wäre ihre Bekanntheit als Essayistin und streitbare Denkerin hinderlich für ihre Anerkennung als Romanautorin. "Ich bin keine Intellektuelle! Ich bin Schriftstellerin, alles andere ist ein Missverständnis", entgegnete Sontag empört auf Fragen zu ihren umstrittenen Äußerungen anlässlich des 11. September.

 

Anders als viele ihrer Kritiker ist sie der Meinung, ihre beiden letzten Romane, "Der Liebhaber des Vulkans" und "In Amerika", wären das Beste, was sie je geschrieben habe. In dieser Selbstinszenierung ähnelt die Autorin der Protagonistin ihres neuen Romans. Beide folgen sie dem großen Versprechen der amerikanischen Nation, sich selbst zu erfinden: Heute Essayistin, morgen Prosa-Schriftstellerin. Was kümmert sie ihr politisches Geschwätz von gestern, wo sie doch jetzt in die Weisheit der Kunst eingetaucht ist.

 

Nicht von Ungefähr erzählt "In Amerika" die Geschichte einer Theater-Schauspielerin, fühlt sich die Autorin doch schon von jeher dem Theatermilieu verbunden. "Der Anspruch des Schauspielers, sich zu verwandeln oder auch nur die perfekte Illusion davon zu erzeugen, ist für mich ein unerschöpfliches Thema", so Susan Sontag. "Und es ist zugleich das Zentrum des amerikanischen Mythos: nach Amerika gehen, um jemand anderes zu werden." Genau davon handelt das Buch.

 

Wiederum ist es ein historischer Roman geworden. Als reale Vorlage für die Protagonistin dient die 1840 in Krakau geborene Helena Modrzejewska, eine der erfolgreichsten Shakespeare-Darstellerinnen auf amerikanischen Bühnen. Im Roman trägt sie den Namen Maryna Zalezowska.

 

Aus für den Leser nicht ganz ersichtlichen Gründen beschließt die über weite Strecken hinweg vertraulich einfach nur Maryna genannte Schauspielerin, das unter russischer, preußischer und österreichischer Fremdherrschaft dreigeteilte Polen zu verlassen. Sie gibt damit nicht nur ihre Karriere als Schauspielerin auf, sondern auch ihren Ruhm als Widerstand verkörpernde Nationalheldin. Nach einigen Vorbereitungen - und nachdem eine Vorhut den richtigen Standort ausgekundschaftet hat - emigrieren Maryna, ihr adliger Ehemann sowie einige Freunde 1876 nach Amerika, um dort ein neues Leben als Farmer zu beginnen. Die mehr oder minder utopische Lebensgemeinschaft dieser polnischen Intellektuellen zerbricht jedoch sehr rasch. Weder sind ihre Ideale radikal genug, noch reichen ihre praktischen Fähigkeiten aus, um eine Farm zu bewirtschaften. Während ihr Mann Bogdan noch den Konkurs verwaltet und seine homoerotische Neigung entdeckt, wendet sich Maryna bereits erneut der Karriere als Schauspielerin zu, diesmal in ihrer neuen Heimat Amerika. Der Rest des Buches handelt von ihrem grandiosen Erfolg, der sie mit ihrer Truppe im eigenen Eisenbahnwagon durch das gesamte Land führt.

 

Susan Sontag erzählt hier auch eine Liebesgeschichte, und zwar zwischen Maryna und Ryzard, im wahren Leben der polnische Schriftsteller Hanryk Sienkiewicz, unter anderem der Verfasser von "Quo vadis". Schon in Polen hatte er die Schauspielerin angehimmelt, doch erst nach dem Scheitern des utopischen Siedlerprojekts und nach der Entfremdung von ihrem Mann lässt Maryna eine Beziehung zu, die mit ihrer Erfüllung aber auch schon wieder ihren Reiz verliert. Zu zahlreich sind die Möglichkeiten, die Amerika zur jeweiligen Selbstverwirklichung bietet.

 

Selbstverständlich wird auch sonst kein Diskurs ausgelassen: Migration, Integration, Utopien, Amerikas Religionseifer, Homosexualität, der Gegensatz zwischen Alter und Neuer Welt und darüber hinaus jede Menge dokumentarischer Fakten, wie beispielsweise die Weltausstellung in Philadelphia 1876, die Maryna in ihrer manipulierten Biografie nachträglich als Grund angibt, nach Amerika gekommen zu sein.

 

Man hat Schwierigkeiten, Susan Sontag ihre Trennung zwischen der Essayistin und der Schriftstellerin abzunehmen. Zu konstruiert und theoretisch wirken entscheidende Passagen des Werks. Nicht nur zieht sie stilistisch alle Register der modernen und postmodernen Literatur, sondern auch intellektuell scheint sie eine Botschaft vermitteln zu wollen, die dem Stoff des Romans nicht angemessen ist. Die Handlung in der Vergangenheit anzusiedeln, hat nicht nur, wie Sontag selbst sagt, mit ihrer Abscheu vor Ironie, modernem Skeptizismus und psychologischer Ausdeutung zu tun, wozu man automatisch neige, würde man eine romantische Liebe im New York von heute erzählen. Nein, es ist zum Teil wirkliche Nostalgie, die einem hier zugemutet wird. So erklärt die Autorin, die in einer Zeitreise zu Beginn die Figuren des Romans selbst konstruiert: "Die Vergangenheit ist das größte Land überhaupt, und es gibt einen Grund dafür, dass man sich dem Wunsch beugt, eine Geschichte in der Vergangenheit anzusiedeln: Nahezu alles Gute scheint in der Vergangenheit zu liegen, vielleicht ist das ja eine Illusion, aber ich empfinde Sehnsucht nach jeder Zeit vor meiner Geburt; und man ist von modernen Befangenheiten freier, vielleicht weil man für die Vergangenheit keine Verantwortung trägt, manchmal schäme ich mich einfach für die Zeit, in der ich lebe."

 

Könnte man die Bewunderung, die der Protagonistin im Roman durchgehend gezollt wird, teilen, wäre ein derart nostalgisches Schwelgen ja noch verständlich. Doch an dieser Diva prallt einfach alles ab. Sie geht aus allem als unbeschadete Gewinnerin hervor. Das ist so langweilig, wie es Maryna wohl liebt. "Anders als auf der Bühne, wo der Ehebruch einer Frau niemals ungestraft blieb, musste das wirkliche Leben, wie Maryna dankbar feststellte, kein Melodram sein. Das Leben war ein langes heißes Bad, das Leben war eine Glyzerinmassage und eine Pediküre."

 

Susan Sontag: In Amerika. Roman.

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.

Carl Hanser Verlag, München 2002.

478 Seiten, 24,90 EUR.

ISBN 3446200916