25. September 2003

Jenseits der Provokation

 

Von Dieter Wenk

 

Ins Haus der Kunst tritt man nicht unvermittelt ein. Die eigenen Assoziationsnetze sind immer schon da, die Gespinste des Verstehens können aber auch durchaus als materialisierte, zum Beispiel in der Form von Fäden, dem Betrachter entgegenstehen, was so weit gehen kann, dass sie diesem den Zutritt verweigern. Die aus ihrer Heimat vertriebenen Künstler Marcel Duchamp und André Breton hatten sich 1942 diesen Spaß in New York erlaubt, als sie den ganzen Ausstellungsraum kreuz und quer mit gespannten Fadennetzen durchziehen ließen. Vielleicht war das aber auch ein durchaus ernst gemeinter Kommentar zum Thema „Besatzung“.

 

Die performative Installationskunst der 1972 in Japan geborenen und seit 1996 verstärkt im europäischen Ausland und hier wieder vor allem in Deutschland tätigen Chiharu Shiota ist ohne die Idee des Netzes undenkbar. Dies gilt auch für ihre jüngste Installation, die unter dem Namen „The Way Into Silence“ vom 25.4.-15.6. dieses Jahres im Württembergischen Kunstverein Stuttgart zu sehen war. Der zu diesem Anlass entstandene und bei Wunderhorn erschienene Katalog versteht sich weniger als Bebilderung oder Wegweiser dieser Installation – genauer gesagt gibt es von dieser Ausstellung buchstäblich nichts zu sehen – als dass er umgekehrt wegweisende Arbeiten Shiotas bebildert und ihr bildnerisch-installatives Tun in einen weiteren Kontext stellt. Drei unterschiedlich lange und in deutscher und englischer Sprache gebotene Texte durchsteppen den Katalog und überlassen es angenehmerweise dem Leser, die Polsterknöpfe zu setzen, wenn er denn überhaupt etwas festzurren möchte.

 

Andrea Jahn vom Württembergischen Kunstverein und Herausgeberin des Katalogs weist in ihrem Eingangsessay auf verschiedene Wurzeln und Vorbilder hin, die das performativ-installative Werk Chiharu Shiotas mehr oder weniger orientiert und geprägt haben. Marina Abramovic, bei der die Japanerin seit 1996 studiert hat, ist hier ebenso zu nennen wie Ana Mendieta, Eva Hesse und überhaupt die Performance- und Installationskunst der 70er Jahre. Einige der in dem Katalog vorgestellten Arbeiten Shiotas werden bereits den Texten gewissermaßen als verkleinerte Links an die Seite gestellt, sodass der Leser und Betrachter nicht ständig auf die hinteren Seiten blättern muss, wenn die betreffenden Arbeiten genannt werden. Aber natürlich sind die eigentlichen Ereignisse des Katalogs nicht die Texte sondern die teilweise DIN A4 großen farbigen Abbildungen von Shiotas Performances, Installationen oder Videostills. Die erste Bildstrecke zwischen den beiden ersten Essays umfasst Shiotas frühe Arbeiten von 1994-1999, so zum Beispiel 4 Aufnahmen der Performance „Becoming Painting“ von 1994, bei der sie ihren Körper zur Malfläche erweiterte, die Installation „Similarity“ von 1996, die wie ein Remake von Duchamp/Breton (s.o.) aussieht, oder die Installation „Return to Consciousness“, gezeigt 1996 in der Galerie im Vorwerkstift in Hamburg, bei der die Künstlerin ebenfalls den Zugang zu den Räumen erschwerte bzw. verhinderte und zugleich mit ihrer eigenen Abwesenheit spielte, indem sie in dem Fadengeflecht ein Reagenzglas mit ihrem eigenen Blut versteckte.

 

„Shiotas bedeutendste Arbeit entstand seit dem Jahr 2000.“ Diesem Statement von Akira Tatehata, dem künstlerischen Leiter der Yokohama-Triennale 2001, bei der auch Shiota mitwirkte, und der in diesem Katalog den zweiten Essay beisteuert, möchte man gerne zustimmen, denn was im Anschluss an seine Würdigung der Künstlerin unter dem Thema der „Allegorie der Abwesenheit“ zu sehen ist, ist mehr als beeindruckend und ließe sich vielleicht als dämonische Erhabenheit betiteln. Shiotas Installationen im Raum nehmen an Größe zu im gleichen Maße wie an Beklemmung, Verstörung und Faszination. Die in dem turnhallengroßen Maximiliansforum in München gezeigte Arbeit „Breathing from Earth“ (2000) beispielsweise beherbergt 70 im Raum verteilte Betten, die dicht und unzugänglich in schwarze Wolle eingesponnen sind. In „Memory of Skin“ (2000), das im Bonner Kunstmuseum zu sehen war, schauen 22 dreizehn Meter hohe und mit Erde beschmierte Kleider, über denen Duschköpfe, aus denen Wasser läuft, angebracht sind, in einem Halbkreis angeordnet auf den Betrachter hinab. Diese beiden Arbeiten hat Shiota im Laufe der folgenden Jahre variiert, meist in größen- und zahlenmäßig reduzierter Form. „During Sleep“ etwa ist eine Arbeit mit „nur“ 20, zeitweise auch mit schlafenden Frauen belegten Betten und wurde 2002 im Kunstmuseum Luzern gezeigt. Peter Fischer schreibt in dem dritten Beitrag, einer überarbeiteten Fassung seines Luzerner Katalogbeitrags: „Eingelullt und beschützt im Kokon der Nacht? Angeschlossen ans Netz der unendlichen Möglichkeiten? Gefangen im Gewebe der Träume? Oder verbannt hinter den Dornenranken und nie wach geküsst? Chiharu Shiotas Bettinstallationen ,During Sleep’ eröffnet verschollene Welten aus den Tiefen unseres Bewusstseins.“

 

Im Gegensatz zu den wilden, exhibitionistischen und (selbst)aggressiven Performances etwa von Carolee Schneemann, Joan Jonas oder Gina Pane präsentieren sich diejenigen Shiotas unaufdringlich, um nicht zu sagen vegetativ. Vor allem: Was als Performance angefangen hat, beispielsweise bei „In Silence“ (2000, Berlin; 2002, Stuttgart), endet als Installation. Der einmalige Akt der Zerstörung oder des Außer-Funktion-Setzens wird an einem bestimmten Punkt angehalten – das brennende Klavier von „In Silence“ gelöscht – und wird dann als transformierter Gegenstand zur Betrachtung freigegeben. Und es ist dieses kontemplative Moment, das die Arbeiten Shiotas bei der Rezeption erfordern, das auch diesen Katalog sinnvoll und notwendig macht. Und wenn der Leser und Betrachter am Ende sich fragt, was denn jetzt genau in Stuttgart zu sehen war, hat er vielleicht schon vergessen, dass es hier und da kleine Beschreibungen dieser Installation zu lesen gab, und er ist jetzt vermutlich sehr gut vorbereitet, seinen eigenen Weg in das Schweigen zu begehen, wenn er die Beschreibung noch einmal liest und auf lauter Bekannte (Objekte) stößt – allerdings in einem anderen und größeren Zusammenhang, der bestimmt nicht der letzte gewesen sein wird. Der Katalog wird wohl vor allem denen gefallen, die bei Vernetzung nicht sofort und in erster Linie ans Internet denken, obwohl die Künstlerin auch dort präsent ist: www.chiharu-shiota.com.

 

 

Chiharu Shiota, The Way Into Silence (Katalog), hg. von Andrea Jahn, Württembergischer Kunstverein Stuttgart 2003 (Verlag Das Wunderhorn), gebunden, 83 Farbabbildungen, Euro 25,80