13. Oktober 2003

Der wahre Schein

 

Von Gustav Mechlenburg

 

 

"Ich glaube nicht an Vampire", sagt ein Filmheld in Robert Rodiguez´ "From Dusk Till Dawn", nachdem er Unzählige von ihnen niedermetzeln musste. "Aber ich glaube an das, was ich sehe." Diese Maxime könnte als Motto zu Martins Seels Abhandlung "Ästhetik des Erscheinens" dienen. 

 

Ästhetische Erfahrungen und Werke der Kunst sind keine bloße Fata Morgana. Sondern ihr Schein ist wirklich, zumindest für den Augenblick, in dem wir uns auf dieses Spiel einlassen. Ästhetische Wahrnehmung besteht in dem Vermögen, Dinge und Ereignisse so zu vernehmen, wie sie den Sinnen momentan und simultan erscheinen. Bei Immanuel Kant hieß dies damals „interesseloses Wohlgefallen“. Es ist ein Aufnahmezustand, in dem wir weder mit den Kategorien wahr oder falsch hantieren noch auf einen bestimmten Zweck aus sind. 

 

Für so manches meditative Dahinsinnen mag man dies gern glauben. Aber was ist mit Kunstwerken der Gegenwart, deren Bedeutung ohne weitgehende Kenntnis der zu Grunde liegenden Theorie sich meist nicht erschließen will?  

 

An dieser Frage entzündet sich Seels eigentliches Interesse. Seine umfassende Theorie der ästhetischen Praxis richtet sich gegen die seiner Meinung nach zu Unrecht totgesagte Sinnlichkeit moderner Kunst. Die Existenz der Kunst verdankt sich nicht zuallererst irgendwelchen Theorien und Manifesten, sondern die einzelnen Werke bringen von sich aus unmittelbare ästhetische Wirkung hervor. Die Installationen von Beuys oder Duchamps ready mades lassen sich nicht auf A-ha-Effekte reduzieren. Es handelt sich um konstellative Darbietungen, um Kombinationen von Elementen, die durch keine anderen ersetzbar sind, schon gar nicht durch Worte.  

 

Damit ist allerdings immer noch nicht das Problem gelöst, dass der besondere Charakter moderner Kunstwerke für eine vorkünstlerische Wahrnehmung oftmals noch gar nicht existiert. Ohne kunstgeschichtliches Wissen muss ein ausgestelltes Pissoir unverständlich bleiben. Seel plädiert jedoch keineswegs für eine von historischen und sozialen Einflüssen abstrahierende Kunsttheorie. So bringt er etwa das Beispiel der Großbaustelle am Potsdammer Platz in Berlin, die für einen Kunstkenner wie eine Installation von Ilja Kabakov wirken konnte. Es ist ein Wechselspiel. Am Umgang mit Objekten der Kunst haben wir gelernt, Dinge und Ereignisse der menschlichen Welt zu Objekten der Imagination zu erheben. 

 

Worum es ihm aber geht, ist zu zeigen, dass es sich bei der ästhetischen Wahrnehmung niemals um pure Projektion handelt. Ästhetische Erfahrung bleibt an das sinnliche und signifikante Geschehen und damit an das spezifische Erscheinen der künstlerischen Objekte gebunden. „Alle Kunstwahrnehmung geht von einem Erscheinen aus und ist auf ein Erscheinen aus.“ Will man über Kunst sprechen, muss man über die Werke der Kunst reden. Diese Sicht hat nicht zuletzt etwas Egalitäres an sich. Dass zeitgenössische Kunst nicht ohne Theorie zu haben ist, heißt nicht, sie oder ihre Rezeption wäre abhängig von einer bestimmten. 

 

Ohne großen philosophischen Balast gelingt es Seel eine ästhetische Theorie allein von dem Begriff des Erscheinens her zu entwickeln, mit der er zu interessanten Schlüssen gelangt, egal ob zum engeren Bereich der Kunst oder zu Film und Pop. Wie immer bei Seel sind es die bildreichen Beispiele die seine Theorie anschaulich und verständlich machen. Oft sind sie es aber auch, für die man auf seine Theorie auch gerne verzichten könnte.

 

 

 

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Martin Seel: "Ästhetik des Erscheinens", Hanser-Verlag 2000