13. Oktober 2003

Amerikanische Leitkultur

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Da wird auf den politischen Bühnen von Überfremdung geredet, in den Universitäten seit Jahren über Globalisierung/Ethnizität diskutiert und andererseits streitet ein unerschrockener Ritter namens Richard Rorty immer noch für den wohlbehüteten Liberalismus amerikanischer Prägung. Die Windmühlen, gegen die er auf den philosophischen Anhöhen kämpft, sind platonischer oder kantischer Bauart. Als durch Deweys Schule gegangener Pragmatist wendet sich Rorty schon seit Jahren gegen jegliche Wesensmetaphysik, die versucht, einen Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit aufrecht zu erhalten, um den autoritären Anspruch auf das einzig „wahre“ Wissen zu festigen. All diese Theorien gründen auf der Prämisse, dass Wahrheit eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit darstellt. Genau dies wird vom Pragmatismus bestritten. Über die Wirklichkeit lässt sich nichts aussagen. Es gibt nur nützliche und weniger nützliche Beschreibungen der Welt.

 

Aber es gibt doch einen nicht zu bestreitenden Fortschritt zumindest in Technik und Naturwissenschaft, entgegnen die Realisten. Doch „woher weiß man, daß man durch gesteigerte Prognosefähigkeit und verbesserte Umweltkontrolle der Wahrheit näher kommt?“, fragt Rorty zurück. Das mag zunächst nach radikalem Konstruktivismus klingen, doch handelt es sich dabei eher um einen methodischen Skeptizismus. „Es gibt eine Fülle von Überzeugungen (wie z.B. zwei plus zwei ist vier, Der Holocaust hat stattgefunden), in bezug auf die niemand, mit dem wir uns auseinandersetzen wollen, den geringsten Zweifel hegt. Aber es gibt keine Überzeugungen, von denen man wissen kann, dass sie gegen jeden möglichen Zweifel gefeit wären.“ Wer wie Rorty behauptet es gebe keine Wahrheit, muss seiner Meinung nach aber keineswegs auf eine kritische Einstellung verzichten. Nur sind die Kriterien dabei rein pragmatische, da nach dem praktischen Nutzen für die jeweiligen Ziele gefragt werden sollte. Dass Argumente nicht auf unhintergehbare Wahrheiten fußen, macht rhetorische Überredung in diesen Diskursen zu einem legitimen Mittel.

 

Der gerade vom Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Aufsatzband „Wahrheit und Fortschritt“ hätte auch den Titel „Fortschritt statt Wahrheit“ tragen können. Denn obwohl Rorty jeglicher Erkenntnistheorie eine Absage erteilt, glaubt er doch an einen Fortschritt. Wohlgemerkt nicht in der Annäherung von Theorie und Vokabular an eine vermeintliche Wirklichkeit, sondern im Sinne von nützlicheren, fantasievollen Neubeschreibungen. Der Fortschritt aber, der sich an den von einer Gemeinschaft gewünschten Zielen orientiert, ist ein durch und durch moralischer. Und so sind vor allem die Texte des zweiten Kapitels, die Fragen der Menschenrechte, des Feminismus und der Politik behandeln, für das Selbstverständnis Rortys entscheidend.

 

Genauso wenig wie es in der Physik unverzichtbar geworden ist, mit dem Begriff „Quark“ zu arbeiten, ohne dass wirklich dessen Existenz bewiesen werden kann, ist es für die Menschheit unabdingbar von Menschenrechten zu reden. Doch hilft es wenig, von Philosophieprofessoren beweisen zu lassen, dass es diese wirklich gibt. Die Frage ist nicht mehr, was ist der Mensch? und was soll er tun?, sondern vielmehr, was können wir versuchen aus uns zu machen? „Moralischer Fortschritt sollte nicht als Annäherung der menschlichen Meinung an die moralische Wahrheit oder als Anfangspunkt gesteigerter Rationalität begriffen werden, sondern als Verbesserung unserer Fähigkeit, immer häufiger die moralische Belanglosigkeit der Unterschiede zwischen den Menschen einzusehen.“ Das klingt schön und spiegelt den unerschütterten Glauben Rortys an den Liberalismus wider. Es bleibt nur zu fragen, wie die Einsicht in diese Belanglosigkeit weltweit hergestellt werden kann, ohne auf eine gemeinsame Begründung zurückgreifen zu können. Bereits in seinem Werk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ plädiert Rorty in dieser Hinsicht für die Manipulation von Gefühlen. Romane seien die nützlichsten Hilfsmittel der moralischen  Bildung, da mit ihnen die Empfindsamkeit und Fantasie gesteigert und dadurch das Mitgefühl für uns bisher fremde Lebensbedingungen und –ansichten geweckt wird.

 

In Auseinandersetzung mit einem Fundamentalisten welcher Coleur auch immer wird man damit nicht weit kommen. Das Mitgefühl reicht immer nur so weit, wie es reicht.  Doch innerhalb von Demokratien, die zumindest in ihrem Selbstverständnis sich als zivilisiert und liberal bezeichnen, gehört unweigerlich die Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen. Dass bei diesem „Kampf um Anerkennung“ Rhetorik und Fantasie eine nicht zu verachtende Rolle spielen, ist Rorty unumwunden zuzugestehen.

 

 

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Richard Rorty: Wahrheit und Fortschritt, Suhrkamp 2000