Thomas Pynchon
From Decadence to ’Death-Struction’
Eine textimmanente Untersuchung der
‘In / Animateness’ in Thomas Pynchons Roman V.
Inhalt
I. Einleitung S.2
II. ‘In / Animateness’ in Thomas Pynchons Roman V.
II.1. Dekadenz S.9
II.1.1. Foppl’s crew S.10
II.1.2. The Whole Sick Crew S.15
II.2. Tourismus: Zweidimensionales Baedecker-Land S.22
II.3. Pervertierte Sexualität: Narzissmus und Fetischismus S.30
II.3.1. ‘V. in love’ S.32
II.4. ‘In / Animateness’ in ausgewählten Romanfiguren S.38
II.4.1. Benny Profane S.39
II.4.2. Herbert Stencil S.43
II.4.3. Lady V. (et al) S.47
III. ‘Death-Struction’:
Überlebensstrategien in einer Welt der ’inanimateness’ S.52
IV. Epilog S.60
V. Bibliographie S.64
I. Einleitung:
”A decadence [...] is a falling-away from what is human and the further we fall the less human we become. Because we are less human, we foist off the humanity we have lost on inanimate objects and abstract theories.”
Dekadenz und ihre Folgen, so wie Monsieur Itaque, Leiter einer Theatergruppe in Paris, sie hier gegenüber seinen Freunden unter den russischen Polit-Aktivisten definiert, stellt das umfassendste Thema in Thomas Pynchons 1963 erschienenen Erstlingsroman V. dar. Man begegnet ihr auf nahezu allen historischen und personellen Ebenen des Romans. Ob 1922 in Deutsch-Südwestafrika während des Bondelswaartz-Aufstands oder in der Hauptperson Benny Profane, in New Yorks Künstler Bohème der 50er Jahre oder in den Straßen Paris’ 1913. Dabei deutet es Monsieur Itaque bereits an: Dekadenz ist kein statischer Zustand. Die Entwicklung endet nicht auf dieser Stufe, und so geht auch V. über die bloße Darstellung der Dekadenz hinaus. Figuren wie Benny Profane, der Schlemihl, oder die ominöse Lady V. sind mehr als dekadent und dabei gleichzeitig weniger als menschlich. In vielerlei Hinsicht ist V., wie Bernhard Bergonzi richtig bemerkt, ”a monument to the possibilities of dehumanisation.” Nicht das Streben des Menschen und seiner Erfindungen nach Zerstörung ist das Thema des Romans. Das wäre nichts Neues und Pynchon erbringt den Nachweis zu dieser These wie nebenbei mit einer einseitigen Auflistung von Unglücken, die er scheinbar einem Almanach entnimmt und lapidar einleitet: ”The world started to run more and more afoul of the inanimate.” (290) Vielmehr ist Pynchons Ziel in V., die im 20. Jahrhundert weithin feststellbare Tendenz zu dokumentieren, ”Menschen als Objekte zu betrachten oder andere als solche zu benutzen und, was vielleicht noch schlimmer ist, sich selbst zum Objekt zu machen.”
Was uns - als Leser und Mensch - hinter dem Streben nach Entmenschlichung erwartet, bleibt schemenhaft und undeutlich. Auch wenn beispielsweise das Cyborg-Wesen SHROUD, dessen Name ebenso wörtlich zu nehmen ist, wie viele andere des Romans, bei Zeiten recht explizit wird:
”What do you mean we’ll be like you and SHOCK someday? You mean dead?”
Am I dead? If I am then that’s what I mean.
”If you aren’t then what are you?”
Nearly what you are. None of you have very far to go. (286)
Dass SHROUD in seinen Prophezeihungen dabei weder eindeutig Tod noch Leben ankündigt, zeigt lediglich, dass was uns der amerikanische Autor in V. vor Augen führt, um mit J.W. Hunt zu sprechen, ”the coming of a Nameless Horror, a horror not even bestial but insensible” ist. Bis auf die unter verschiedenen Namen auftauchende Lady V. - die paradigmatische Personifizierung dieser Entwicklung - werden keine handfesten Schreckgespinste eines entmenschlichten 20. Jahrhunderts ausgebreitet. Der Autor entwickelt vielmehr durch zahlreiche Details, sowie der in der Mehrzahl der Akteure sichtbaren Entwicklung hin zu einer in jeder Hinsicht leblosen Welt, ein gesellschaftliches Bild, das den Lesern das Lachen über die zahlreich vorhandenen skurril-komischen Elemente im Halse stecken bleiben lässt. Der Weg dorthin nutzt die Alloplastik, das Verfahren, lebendem Geweben, tote Stoffe einzupflanzen. Beispiele für die Vermengung der vermeintlich strikt getrennten Welten des Organischen und Anorganischen durch die Aufnahme von ”inanimate objects” gibt es zahlreiche. Fergus Mixolydian beispielsweise konstruiert einen Schlafschalter in seinem Arm, der automatisch dafür sorgt, dass der Fernseher sich beim Sinken seiner Aufmerksamkeit unter ein bestimmtes Niveau ausschaltet. ”Fergus thus became an extension of the TV set.” (56) Evan Godolphin erhält nach seinem Flugzeugunglück ”a nose bridge of ivory, a cheekbone of silver and a paraffin and celluloid chin”. (100) Bongo-Shaftsbury - ”a mechanical doll” (80) - erschreckt das Mädchen Mildred mit einem Schalter in seinem Arm, dessen Drähte mit seinem Gehirn verbunden sind.
Der Grund dieser Entwicklung bleibt unbenannt und stellt doch gleichzeitig V.s Hauptthema dar. Während einer weiteren ”imaginary conversation” die Benny Profane mit SHROUD führt, bemüht sich der Schlemihl um die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine, indem er SHROUD vorhält, nicht begraben, sondern verschrottet werden zu müssen. Eine Unterscheidung, die SHROUD sofort durch einen Vergleich zwischen den Bildern gestapelter Leichen aus deutschen Konzentrationslagern und jenen gigantischer Autofriedhöfe relativiert. Indem er sagt ”’Hitler did that. He was crazy’” bemüht sich Profane weiter (mehr aus Angst denn aus Überzeugung) um die Unterscheidung zwischen Leben und Tod. SHROUD wiederum leugnet diese mit dem Verweis auf ein unbestimmtes ”it”. ”Hitler, Eichmann, Mengele. Fifteen years ago. Has it occured to you there may be no more standards for crazy or sane, now that it’s started?” (295) Was dabei gerade begonnen hat, ”of course, is man’s decline toward the inanimate.”
Das ”Gespräch” zwischen Profane und SHROUD demonstriert gleichzeitig, dass Pynchons Roman nicht als bezuglose Fiktion einer imaginierten Zukunft zu verstehen ist. Der Holocaust-Vergleich macht die soziale und historische Relevanz V.s im 20. Jahrhundert bei allem schwarzen Humor überdeutlich . Nazi-Deutschlands effektive Tötungsmaschinerie, der sechs Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, stellt den perversen Beweis dafür dar, dass die Reduzierung von Menschen zu Objekten keine soziale Fiktion ist. Doch auch die individuelle Ebene der Entmenschlichung, der V. in Figuren wie Benny Profane oder Herbert Stencil großzügig Raum gewährt, findet ihre gesellschaftliche Entsprechung im 20. Jahrhundert. Schönheitschirurgie unter Gebrauch von Silikon und Paraffin ist zur Selbstverständlichkeit geworden, Biographien, die von medial vermittelten Idealen und der Jagd nach Konsumfetischen geleitet werden, keine Seltenheit.
Die Entwicklung von Dekadenz zur Selbstzerstörung führt, wie Pynchon sie beschreibt und Raymond Olderman treffend kommentiert, über drei sukzessive Stufen. Ausgangspunkt ist hierbei Dekadenz und ihre Ablehnung alles Menschlichen. Die zweite Entwicklungsstufe beinhaltet eine Reduktion auf das Leblose (”inanimate”), die sich in einem hybriden Zustand zwischen Tod und Leben manifestiert, der das Zeichen extremer Passivität trägt. Die letzte Stufe schließlich ist die der Auslöschung selbst, der Übergang zum tatsächlichen Tod.
Wie es Pynchon im Eingangszitat von Monsieur Itaque deutlich macht, tritt Dekadenz dann ein, wenn der Mensch nicht mehr an seinen inhärenten menschlichen Eigenschaften festhält, wenn die eigene Würde, der Respekt für andere, aufgegeben wird, wenn sich bewusst der Korruption und dem Verfall hingegeben wird, die das 20. Jahrhundert kennzeichnen. Dass Dekadenz einher geht mit einer zunehmenden Entmenschlichung, zeigt sich innerhalb des Romans hauptsächlich auf zwei Arten. Zunächst in der Umkehrung von zwischenmenschlicher Zuneigung, kurz Liebe genannt, und damit zusammenhängend der Perversion von Sexualität. Darüber hinaus zeigt sich dieser Zusammenhang jedoch auch in der andauernden Präsenz und sogar schrittweisen Steigerung von Krieg und Zerstörung. In beiden Fällen kehrt sich Liebe in Indifferenz und Haß um, wird Menschlichkeit zu einem Objekt degradiert, das ausgebeutet und zerstört werden kann.
In der auf die Dekadenz folgenden Entwicklungsstufe sinkt der Mensch schrittweise weiter in die Leblosigkeit, wie ich das häufig auftauchende Adjektiv ”inanimate” übersetzen möchte. Als Folge der Ablehnung von zwischenmenschlicher Achtung im allgemeinen und Liebe im besonderen als Möglichkeit der Rettung vor der Entmenschlichung, beginnt der Mensch, die ihn umgebende Leblosigkeit selbst aufzunehmen. Bezogen auf den Roman, sind es insbesondere die näher an der Gegenwart spielenden Kapitel, in denen die Menschheit die Charakteristika der Dekadenz bereits hinter sich gelassen hat. In vielerlei Hinsicht verdeutlicht V. in diesen Teilen die zeitgenössische Leblosigkeit. Ein Anliegen, das den Lesern in der fast penetranten Häufung des Wortes ”inanimate” in den besagten Kapiteln nicht entgehen kann. Auf dem Weg zur Vernichtung ist Leblosigkeit der nächste, auf die Dekadenz folgende Schritt. Das Ziel dieser Entwicklung beschreibt Robert Golden wie folgt: ”In the logic of V. everything comes to rest in the inanimate void which Pynchon projects as the end of history and which always awaits us outside our human sphere.”
In dem der Mensch sich erlaubt, in einen Zustand der Leblosigkeit zu sinken, gibt er das Ziel vor. Am Ende der Entwicklung steht die eigene Auslöschung (”annihilation”). Durch die zunehmende Verdinglichung seiner (auch sozialen) Umwelt und seiner selbst, nähert der Mensch sich weiter jener ”inanimate void”, von der Golden im obigen Zitat schreibt. Jedoch ist dieser freudianische Todeswunsch, in dem sich der Mensch in den anorganischen Zustand zurücksehnt, aus dem er entstand, in V. stets verbunden mit bewussten und unbewussten Anstrengungen der jeweiligen Personen. Nicht der unmittelbare Weg, der Freitod, ist die letzte Stufe, sondern unterschiedlich ausgeprägte Aktivitäten, die ablenken sollen, von der Leere des Lebens, diese letztlich jedoch in ihrer Sinnlosigkeit weiter betonen. In V. wechselt der Tod von einer Definition als Endpunkt des Lebens, zu einem statischen Zustand des Lebens selbst. Weil der Tod in V. kein körperlicher, sondern ein konstruiert-symbolischer ist, möchte ich diese letze Entwicklungsstufe mit dem bewusst ambivalenten Neologismus ”Death-Struction” benennen.
Im Rahmen dieser Arbeit soll die beschriebene dreigliedrige Entwicklung nachgezeichnet und belegt werden. Teil II wird dabei die ersten beiden, schwer zu trennenden Stufen der Entwicklung beschreiben. Zunächst werden zwei unterschiedliche Ausprägungen der Dekadenz anhand der beiden ”Crews” des Romans beleuchtet. Die Gruppierung um den sadistischen Großgrundbesitzers Foppl, die in Deutsch-Südwestafrika 1922 einen Belagerungszustand in eine Karnevalsparty umfunktioniert, vertritt dabei auf der historischen Ebene die ursprüngliche Ausprägung der Dekadenz. Die Persiflage der Künstler Avantgarde des New Yorker East Village der 50er Jahre, die Whole Sick Crew, hingegen verdeutlicht den Übergang der ursprünglichen Dekadenz, in ”Death-Struction”. Trotz vermeintlicher Kreativität vermittelt die Whole Sick Crew das Bild einer bis zur Leblosigkeit übersteigerten Dekadenz.
Ein weiterer Aspekt, der den V.-typisch verschwommenen ”In/Animateness”-Übergang zum Thema hat, ist der des Tourismus. Des Touristen Revier, oftmals in Anspielung auf den traditionsreichen deutschen Reisebuchverlag als Baedecker-Land bezeichnet, wird wiederholt als zweidimensionales Land der Oberflächen beschrieben. Nicht nur die vorgefertigten Routen und Wege, auf denen sich die Touristen nach Anweisung der ”little red books from Leipzig” bewegen, sind ähnlich kontur- und leblos wie die Seiten der sie beschreibenden Handbücher; auch die Bewohner dieses Landes, Taxifahrer und Hotelangestellte, werden weniger als Menschen, denn als institutionalisiertes Urlaubsinventar beschrieben.
Ein weiterer prominenter Punkt, der in diesem Zusammenhang untersucht werden soll, ist die Perversion von Sexualität. Besonders auffällig innerhalb V.s sind hierbei Narzissmus und Fetischismus. Zwei Thematiken, die zu untersuchen sich insbesondere in Kapitel 14, ‘V. in love’, anbietet, da hier ein komplexes Verhältnis zwischen der hochgradig narzisstischen Mélanie L’Heurmaudit und der auf Fetische fixierten Lady V. entsteht.
Die naheliegendste Möglichkeit, die Entwicklung von Dekadenz hin zur Leblosigkeit nachzuzeichnen, bietet fraglos die Karriere von Lady V. in ihren vielfältigen Pseudonymen. Als V. schließlich während des 2. Weltkriegs, eingeklemmt von einem Balken nach einem Luftangriffs auf Malta, wortwörtlich auseinander genommen wird, entfaltet sich Pynchons Schreckgespenst in seiner ganzen Größe. Doch auch die beiden anderen Hauptfiguren, Benny Profane und Herbert Stencil, zeigen in ihrer jeweiligen Art und Weise unbestreitbare Anzeichen jener für V. charakteristischen Leblosigkeit. Im Falle Stencils führt der Weg dorthin über einen gleichermaßen zwanghaften wie sinnlosen Aktionismus. Bezogen auf Profane hingegen entsteht dieser Eindruck durch extreme Passivität an der Grenze zur Objekthaftigkeit. Ob dieser offensichtlichen Unterschiede, sollen alle drei Figuren auf ihre individuelle Art der ”inanimateness” hin untersucht werden.
Der anschließende dritte Teil der Arbeit, soll die Ambivalenz des Begriffs ”Death-Struction”, der letzten Entwicklungsstufe der oben beschriebenen Evolution, in seinen unterschiedlichen Konnotationen beleuchten. Mögliche Überlebensstrategien, die Pynchons Figuren zwischen zweidimensionaler Straße und entropischen Treibhaus inmitten eines Jahrhunderts der Entmenschlichung entwickeln, werden nachgezeichnet und diskutiert.
Der letzte Punkt, der Epilog, möchte eine persönliche Einschätzung des Romans unter den hier behandelten Aspekten versuchen, sowie auf Weggabelungen hinweisen, die in der Entwicklung dieser Arbeit absichtlich nicht weiterverfolgt wurden.
Von letzteren seien einige bereits vorab benannt, um möglicherweise entstandene Erwartungshaltungen zu entkräften. Dass sich Pynchon mit der Thematik seines Debütromans nahtlos einfügt in den Kontext postmoderner Theorien der Simulation und Dekonstruktion, dass mit Textverweisen auf beispielsweise Wittgenstein V. explizit auch eine philosophische Lesart bekommt, ist mir bei allem gesagten und noch zu sagenden durchaus bewusst. Dennoch würde eine nähere Untersuchung dieser Zusammenhänge jenseits knapper Querverweise den Rahmen meiner als textimmanent konzipierten Arbeit sprengen. Zudem kann eine Kontextualisierung des Romans in das Denken postmoderner Theoretiker in Anbetracht des Veröffentlichungsjahres, 1963, nie mehr sein, als eine nachträgliche theoretische Bestätigung von Pynchons Einschätzungen. Schließlich setzt der postmoderne Diskurs in der Philosophie offiziell erst 1979 mit Lyotards Schrift La condition postmoderne ein. Auch in der Soziologie tritt der Ausdruck ”postmoderne Gesellschaft” erstmals 1968, fünf Jahre nach dem Erscheinen von V., auf . Selbst die Literaturtheorie, obwohl paradigmatisch für die Formation des Begriffs, spricht erst ab 1959 von der Postmoderne, wobei der Begriff hier noch überwiegend negativ besetzt ist. Erst Mitte der 60er Jahre kommt es durch Kritiker wie Leslie Fiedler und Susan Sontag zu einer positiven Neubewertung der Postmoderne. Mit anderen Worten könnte am Ende einer theoretischen Kontextualisierung des Buchs nur die Erkenntnis stehen, dass Pynchon, gemeinsam mit Romanen amerikanischer Autoren wie etwa John Barth (The Sot-Weed Factor, 1960) oder William Gaddis (The Recognitions, 1955), mit V. den Epochenwechsels zwischen literarischer Moderne und Postmoderne beschrieben hat. Die drei genannten Werke sind nicht als Reaktion auf theoretische Vorarbeit, sondern als eigenständige Romane aufmerksam beobachtender Autoren zu werten, die mit Inhalten hantieren, die bestenfalls parallel, meist erst in den folgenden Jahren den Weg in eine breitere Diskussion fanden.
Weiterhin möchte ich auf den folgenden Seiten darauf verzichten, die vielfältigen literarischen, historischen und naturwissenschaftlichen Andeutungen Pynchons mit mehr als gelegentlichen Fußnoten und Kurzverweisen zu erwähnen. Eine ernsthafte Untersuchung des referentiellen Bezugrahmens, in dem V. gelesen werden kann, würde in Anbetracht von Pynchons schier enzyklopädischen Wissen zu ähnlich umfangreichen Projekten geraten, wie Douglas Fowlers A Reader’s Guide To ‘Gravity’s Rainbow’ oder Steven Weisenburgers A ‘Gravity’s Rainbow’ Companion es für seinen dritten Roman wurden. In diesem Sinne möchte ich die folgenden Seiten als das gelesen werden wissen, was sie seien soll: eine nah am Text arbeitende Untersuchung der unterschiedlichen Komponenten der von Pynchon beschriebenen gesellschaftlichen Bewegung in Richtung Leblosigkeit, sowie mögliche Auswege aus dieser vermeintlichen Sackgasse.
II. ‘In / Animateness’ in Thomas Pynchons Roman V.
II.1. Dekadenz
Decadence, decadence. What is it? Only a clear movement toward death or, preferably, non-humanity. (321)
Fausto Maijstral greift noch einmal auf, was schon Monsieur Itaque im Zitat der Einleitung deutlich gemacht hat. Dekadenz ist die erste Stufe der von Pynchon beschriebenen kontinuierlichen Entwicklung hin zu einer entmenschlichten Welt. Von hier aus führt der Weg weiter zu einer schwer faßbaren Definition von Tod, die eher von geistig-emotionalen Komponenten dominiert wird und sich nicht auf eine biologische Ebene reduzieren lassen will. Dabei wird jenes Geschichtsverständnis offenbar, das Pynchon dem gesamten Roman zu Grunde legt und das sich mit der ”ausgesprochen antihistoristische[n] These” zusammenfassen lässt, dass geschichtlicher Fortschritt unterschwellig stets von seiner eigenen Antithese Dekadenz begleitet wird. Und daran, dass sich die Menschheit in einer Phase der Dekadenz befindet, lässt V. keinen Zweifel. In einem Ausblick auf die Zukunft charakterisiert der ”soul dentist” Eigenvalue mit diesem Ausdruck gleichzeitig die Gegenwart: ”[I]n the next rising period of history, when this Decadence was past.” (297) Der Maler Slab wählt das selbe Wort, wenn er über die Popularität des Katholizismus nachdenkt: ”For some reason it always becomes fashionable during a Decadence.” (353) Der Begriff Dekadenz wird laut Andrea Best in V. ”mit einer unheilvollen, lebensentziehenden Mechanisierung sowie einer Neigung zum unbelebten Objekt” (96) identifiziert. Deutlich macht dies neben Itaque auch Fausto Maijstral, der in seinen ”Confessions” notiert: ”To have humanism we must first be convinced of our own humanity. As we move further into decadence this becomes more and more difficult. More and more alien from himself, Fausto II began to detect signs of lovely inanimateness in the world around him.” (322) Die Tatsache, dass Dekadenz den Ausgangspunkt der Entwicklung darstellt, die in dieser Arbeit behandelt werden soll, macht es sinnvoll, mit einer Untersuchung des Begriffs und seinen verschiedenen Verwendungen zu beginnen.
Zwei Gruppierungen eignen sich besonders, die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Dekadenz zu verdeutlichen. So soll unter II.1.1 mit ”Foppl’s crew” zunächst einer der chronologisch gesehen frühesten Belege für Dekadenz untersucht werden. Ein Beispiel, auf das sich sowohl das Itaque-Zitat der Einleitung, als auch Fausto Maijstrals obiger Ausspruch problemlos anwenden lässt. Im Unterpunkt II.1.2 hingegen wird mit der 35 Jahre später auftauchenden Whole Sick Crew eine Gruppierung angesprochen, die sich bereits jenseits der ursprünglichen Dekadenz-Definition bewegt und sich der besagten Leblosigkeit bereits ein Stück weiter angenähert hat. Ein weiterer Grund, der für die Wahl dieses Beispielpaars spricht, liegt in der Tatsache, dass sich in beiden jene Dualität aus ”hothouse” und ”street” findet, die sich auch in den beiden Hauptpersonen der Gegenwartsebene, Stencil und Profane, widerspiegelt.
II.1.1. Foppl’s crew
Dass ”Foppl’s crew” eine frühe und angesichts der sich zunehmend verstärkenden Entwicklung folglich auch schwächere Variation der Dekadenz repräsentiert, verdeutlicht bereits die zeitliche Begrenzung, in der die Gruppendefinition greift. Obwohl die Farm des Großgrundbesitzers bereits zuvor in einer Aneinanderkettung einzelner Festivitäten im Licht eines ”seemingly eternal Fasching” (231) erscheint, konstituiert sich die Gruppe bei ”Foppl’s Siege Party” (235) doch erstmalig in der hermetischen Abgeschlossenheit des Geländes von der Außenwelt, die dem beginnenden Aufstand des Stamms der Hereros folgt. Wir erfahren nichts über die Lebensgewohnheiten der Gruppe vor oder nach der zweieinhalb Monate andauernden Belagerungsparty.
Dass die Zeit der Belagerung wiederholt als Fasching bezeichnet wird, demonstriert dabei Pynchons eigentümliches Humorverständnis, das sich durch den gesamten Roman zieht. Während Fasching oder Karneval als Lach-Ritual vormals als ”Sieg über die Furcht [...] vor Tod” begriffen wurde, dreht sich die Funktion des Lachens in V. um. Pynchons schwarzer Humor erklingt nicht als befreiende Waffe wider den Tod, sondern vielmehr als Begleitmusik des Siegs der Entmenschlichung über das Menschliche, ”making comedy an adjunct to nihilism and eliminating it as a means of salvation.” Je weiter die Bewohner der Farm in die Dekadenz abgleiten, desto ausgelassener erscheint der Fasching. ”Foppl’s crew” feiert die eigene Entmenschlichung.
Ein weiteres Thema, das sich kontinuierlich durch Thomas Pynchons Romanwerk zieht, Entropie, taucht bereits in der ersten Beschreibung der Belagerungsparty auf. Entropie, wie im zweiten Gesetz der Thermodynamik definiert, evoziert Tod als Endstadium, das jegliches Leben innerhalb eines geschlossenen Systems in einem Meer der Gleichförmigkeit erstarren lässt. Das Ergebnis dieses Zustands höchster Unordnung oder Durchmischung der Elemente des Systems ist vollständiger Stillstand, Wärmetod genannt. Auch der weitere Verlauf der zweieinhalb Monate, die der deutsche Ingenieur Mondaugen auf der hermetisch abgeriegelten Farm verbringt, und die wir in einer ”stencilised” (228) Version in Kapitel 9 erzählt bekommen, betonen den entropischen Charakter des Lebens auf der Farm. Übertragen auf das geschlossene System ‘Foppl’s Farm’ lässt sich Wärmetod so auch als Dekadenz bezeichnen.
Den Zusammenhang zwischen Bewegungslosigkeit und Dekadenz illustriert der Versuch von ”Foppl’s crew”, im Verlauf des Belagerungsfaschings die Zeit des seiner Grausamkeit wegen berüchtigten deutschen Generals Lothar von Trotha wieder auferstehen zu lassen . William Plater charakterisiert die verschiedenen Ebenen der Dekadenz in Foppls Villa wie folgt: ”not only is there a physical and spiritual decadence, but time itself is confused as the party merges with von Trotha’s death campaign of 1904.” Durch die Re-Inszenierung vergangener Begebenheiten, einschließlich der grausamen Hinrichtungen bediensteter Einheimischer im Stile von Trothas, zeigt sich, dass hier nicht nur der Versuch unternommen wird, die Zeit auf das Jahr 1904 zurückzudrehen, sondern auch, sie dort festzuhalten. So zeigt sich das Belagerungsfest nicht nur als Bollwerk gegen die potentiellen Angriffe der Einheimischen, sondern auch als ”a defense against the passage of time.” Das dekadente ”Kingdome of Death” (273), das so häufig Erwähnung findet in V., zeigt sich hier in seiner statischsten Inkarnation.
Ein Beispiel für das entropische Streben nach höchster Unordnung innerhalb des abgeriegelten Geländes der Farm, manifestiert sich auch in der Vermengung unterschiedlicher Persönlichkeiten. Zum einen lässt sich in diesem Zusammenhang der deutsche Leutnant Weisshaupt nennen, der bei Zeiten (260) im weißen Rüschenkleid und Mieder erscheint. Ein weiterer Beleg für das Ineinanderfließen einzelner Personen findet sich im folgenden Zitat: ”Below, dancing about the body and flicking its buttocks with a sjambok, was old Godolphin. Vera Meroving stood by his side and they appeared to have exchanged clothes.” (278) Hugh Godolphin, der ehemalige Kapitän und Forscher, zu dieser Zeit bereits weit über 70 Jahre alt und im Vorfeld als gutmütiger, wenn auch verwirrter alter Mann erscheinend, übernimmt die Rolle der Lady V., die hier als Vera Meroving firmiert. Neben ihrer Kleidung nimmt Godolphin auch V.s Habitus an, der von der Faszination für Gewalt und Gefühllosigkeit bestimmt wird. Die Entwicklung von der Ordnung eindeutig unterscheidbarer Persönlichkeiten hin zu einem chaotischen Persönlichkeitshybrid lässt nicht nur geschlechtliche Grenzen verschwimmen, auch die Differenzierung individueller Identitäten wird undeutlich.
Auch andere Unterscheidungen werden im Verlauf der Belagerungsparty zunehmend schwieriger. So fallen dem entropischen Treiben auch die klaren Regeln bürgerlicher Moralvorstellungen zum Opfer. Liebe beispielsweise, zeigt sich nur in verzerrten Extremen wie Voyeurismus (vgl. Mondaugen) und Sado-Masochismus. Eine Entwicklung, deren Perversion schließlich auf Seite 277, kurz bevor Mondaugen die Farm verlässt, kulminiert: ”It had become an amusement to visit an invalid each night, to feed him wine and arouse him sexually.” Die Ohnmacht erkrankter Teilnehmer des Belagerungs-Faschings wird schamlos zur Nährung des debilen Humors der verbliebenen gesunden Gäste ausgenutzt. In den (Fieber-) Träumen Kurt Mondaugens wiederum lösen sich die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und imaginierter Traumwelt auf. Weder er noch die Leser können letztlich unterscheiden zwischen Fiktion und Wirklichkeit des Berichts der ”Siege Party”, der ohnehin aus der hochgradig subjektiven Sicht des manisch nach Zusammenhängen suchenden Stencils erzählt wird.
Für Mondaugen, den radikalen Voyeur, verläuft die verschwimmende Demarkationslinie nicht nur zwischen Fiktion und Realität, sondern zudem zwischen wesentlich existentielleren Optionen. ”[I]f no one has seen me then am I really here at all” (258), fragt der ängstliche Ingenieur, dessen persönliche Konstruktion der Wirklichkeit untrennbar mit der visuellen Wahrnehmung durch dritte verknüpft ist. Anders als für das Kind, das glaubt mit verschlossenen Augen unsichtbar zu sein, ist es für Mondaugen nicht die eigene visuelle Wahrnehmung, die ihn sich als Teil der Umgebung begreifen lässt, sondern erst die Wahrnehmung durch eine andere Person versichert ihn seiner eigenen Existenz. Das Resultat ist mit der Animation einer Marionette vergleichbar, wobei die Blicke des sozialen Umfelds die Funktion der belebenden Schnüre übernehmen.
Während Mondaugen, ohnehin nur zufälliges Mitglied der Belagerungsparty, zu pflichtbewusst und zu passiv ist, sich an den ausufernden Festivitäten zu beteiligen, und dementsprechend in der distanzierten Position des Voyeurs verharrt, weisen andere Bewohner der Farm deutlichere Anzeichen zunehmender Dekadenz auf. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Foppl selbst. Der wohlhabende Landbesitzer begreift sich als Nachlassverwalter des deutschen Generals Lothar von Trotha und empfindet eine unmenschliche Freude daran, seine Bondel Bediensteten zu Tode zu quälen.
”He [von Trotha] told us not to fear. It’s impossible to describe the sudden release, the comfort, the luxury, when you knew you could safely forget all the rote-lessons you’d had to learn about the value and dignity of human life. I had the same feeling once in the Realgymnasium when they told us we wouldn’t be responsible in the examination for all the historical dates we’d spent weeks memorizing...
”Till we’ve done it, we’re taught that it’s evil. Having done it, then’s the struggle: to admit to yourself that it’s not really evil at all. That like forbidden sex it’s enjoyable.” (253)
Pynchon geht es in der Deutsch-Südwestafrika Episode, offensichtlich inspiriert von Joseph Conrads Heart of Darkness, auch um eine harsche Kritik des Kolonialismus. Foppl, wie auch Fleische in der historischen Rückblende in die Zeiten von Trothas, repräsentiert dabei das Dilemma aller Kolonisten in ihrem Streben nach kultureller Hegemonie. Diese lässt sich nur in vollständiger Assimilation der Einheimischen oder ihrer vollständiger Annihilation erreichen. Foppl, als geistiger Erbe von Trothas, befürwortet eindeutig letzteres und betont dadurch die mehrfach vorhandenen Anspielungen des Kapitels auf den Nazi-Holocaust. Die Verbindung, die die vorherrschende ”inanimateness”-Thematik V.s in ’Mondaugen’s Story’ mit einer Kritik politischen Totalitarismus eingeht (ein Thema, das in Gravity’s Rainbow explizit erneut aufgegriffen wird), lässt Kapitel 9 zum politischsten des gesamten Romans werden.
Weiterhin findet sich in Foppls obigen Zitat eine unübersehbare Analogie zu Itaques ”falling away from what is human” und damit ein deutlicher Hinweis auf die sich ausbreitende Dekadenz innerhalb der Treibhausatmosphäre der Villa. ”The reader witnesses a microcosm of the attempts of modern man to eradicate the responsibilities that civilization imposes on him”, wie Robert Newman es ausdrückt. Denn jene ”fear”, von der in Foppls Zitat die Rede ist, bezieht sich auf die Angst, die Grenzen des Wertesystems zu überschreiten, über das sich Menschlichkeit definiert. Dabei wird das Ausrotten der Verantwortungen durchaus als befreiendes, angenehmes Moment erfahren. Die Lesart dieser Freude als Rückschritt zu einer wenn nicht animalischeren, so doch zumindest weniger menschlichen Daseinsform stützt die These, in Foppl eine Personifizierung der Dekadenz zu sehen. Dabei ist es wiederum bezeichnend, dass Foppl die erleichternde Verantwortungslosigkeit mit der Erleichterung vergleicht, sich keine geschichtlichen Daten merken zu müssen. Der Farmbesitzer sehnt sich nach dem Ausweg einer zeitlosen, ahistorischen Befreiung aus der Zwangsjacke der mit moralischen Determinanten gefüllten Geschichte.
Während Foppl jedoch von Beginn an als sinistrer, sadistischer Mensch dargestellt wird, so lässt sich an den restlichen Teilnehmern, die bis auf wenige Ausnahmen (Vera Meroving, Hugh Godolphin, Hedwig Vogelsang, Kurt Mondaugen, etc.) nur als anonyme Masse auftauchen, eine zunehmende Dehumanisierung feststellen, die schließlich in der Beschreibung der Betrachtung des Bondel-Gemetzels in der Nähe der Farm gipfelt.
A battle, a real one, was in progress across the ravine. Such was their elevation that they could see everything spread out in panorama, as if for their amusement. [...] Someone had come up from below with wine and glases, and cigars. The accordionist had brought his instrument, but after a few bars was silenced: no one on the roof wanted to miss any sound of death that should reach them. (275)
Das Massaker an der einheimischen Bevölkerung wird für ”Foppl’s crew” zum unterhaltsamen Hintergrund einer weiteren Party-Inszenierung. In guter Gesellschaft, bei Wein, Zigarren und der Musik des Kampfes, genießt die Faschingsgemeinde das Gemetzel im Panoramablick. Aus sicherer Distanz verwandeln sich Tod und Gewalt in eine willkommene Abwechslung für das Gros der von Sex und Alkohol gelangweilten Partygäste. Schließlich erkennt schon Vera Merowing einige Seiten früher: ”’This siege. It’s Vheissu. It’s finally happened.’” (248). Vheissu, jenes sagenhafte Land, das Hugh Godolphin gefunden zu haben behauptet, das er ”a dream of annihilation” (206) nennt, und das in seiner schillernden Leere, doch nur die Leere Godolphins eigenen Lebens widerspiegelt, ist inzwischen Allgemeingut geworden. ”[O]ur Vheissus are no longer our own , or even confined to a circle of friends; they’re public property.” (248) Das nächste Kapitel wird dieses Thema ausführlicher untersuchen. Die Beschreibung des unpersönlichen, nahezu geräuschlosen Abschlachtens einheimischer Männer, Frauen und Kinder in einem Luftangriff beweist, was Tony Tanner erst vermutet: ”the world may now be engaged in making actual a mass dream of annihilation, submitting reality to a nihilistic fantasy.” Godolphins vormals persönlich geglaubte Leere, sein persönlicher Traum der Vernichtung: in Deutsch-Südwestafrika 1922, nach der Massenvernichtung des ersten Weltkriegs, die Individualität verschwinden lässt, findet sich auch die anonyme Öffentlichkeit von ”Foppl’s crew” in dieser Leere wieder. Die entemotionalisierte Leere der Villa entspricht der Leere hinter Vheissu, das sich zwar als bunt schillernde, letztlich aber doch tote Oberfläche, als Haut ohne Körper entpuppt hat.
In welchem Maße die Entmenschlichung bereits Besitz ergriffen hat von den Zuschauern der Greueltaten, wie weit ihre Erscheinung sich nach einer scheinbar endlosen Abfolge von Völlerei und Trunkenheit inzwischen von den Standards der zivilisierten Welt entfernt hat, zeigt die folgende Beschreibung, die Foppls Gäste in einem animalischen, nahezu monströsen Licht erscheinen lässt:
[...]eyes sleep-puffed, hair in disarray and dotted with dandruff, fingers with dirty nails clutching like talons the sun-reddend stems of their wine goblets; lips blackened with yesterday’s wine, nicotine, blood and drawn back from the tartared teeth so that the original hue only showed in cracks. (275/276)
Als Mondaugen Foppls Farm nach zweieinhalb Monaten verlässt, betont sein letzter Blick zurück erneut die dekadente Dehumanisierung der Bleibenden. ”The morning’s sun bleached their faces a Fasching-white he remembered seeing in another place. They gazed across the ravine dehumanized and aloof, as if they were the last gods on earth.” (279) Jener ”another place”, an den er sich von den weißen Gesichtern erinnert fühlt, war ein Münchener Fasching während der Weimarer Republik, und Mondaugens Beschreibungen (234/244) erinnern an einen ähnlichen ”Dance of Death”, wie wir ihn in Foppls Villa vorgeführt bekommen.
Bezeichnenderweise hat man in der abschließenden Szene des Kapitels (279), als der deutsche Ingenieur seinen Kopf an den zernarbten Rücken des Bondels legt, auf dessen Esel er mitreitet, das Gefühl, dem ersten Moment menschlicher Emotionalität des gesamten Kapitels zu begegnen.
II.1.2. The Whole Sick Crew
[F]or here was The Whole Sick Crew, was it not, linked maybe by a spectral chain and rollicking along over some moor or other. Stencil thought of Mondaugen’s story, the Crew at Foppl’s, saw here the same leprous pointillism of orris root, weak jaws and bloodshot eyes, tongues and backs of teeth stained purple by this morning’s homemade wine, lipstick which it seemed could be peeled off intact, tossed to the earth to join a trail of similar jetsam – the disembodied smiles or pouts which might serve, perhaps, as spoor for next generation’s Crew ... God. (296)
Herbert Stencil selbst hebt die Ähnlichkeiten zwischen Foppls Crew und der Whole Sick Crew heraus. Zwei Gruppen, zwischen denen nicht nur massive geographische (Deutsch-Südwestafrika vs. New York City) und gesellschaftliche (eine Enklave europäischer Kolonialmächte vs. ein Ausschnitt der US-amerikanischen Bohème) Unterschiede liegen, sondern auch 35 Jahre (1922 vs. 1956). Dabei spricht die Gegenüberstellung der Analogien zweier Gruppen, zwischen denen mehr als drei Jahrzehnte liegen, sowie die im obigen Zitat anklingende Möglichkeit, dass auch die Whole Sick Crew, die Nachfolger von Foppls Crew, ihrerseits als Vorbild einer zukünftigen weiteren Crew herhalten kann, die Idee menschlicher Evolution Hohn. Die Statik der Duplizierung steht der Idee einer linearen Entwicklung diametral entgegen.
Schlimmer noch: bei näherer Betrachtung entpuppt sich jene vermeintliche Evolution eher als Deterioration. Zwar bewegt sich auch die Whole Sick Crew in New Yorks East Village der 50er Jahre in einem endlosen Fasching, der dem auf Foppls Farm 1922 gleicht, doch benötigt die Gruppe zu ihrer monotonen Lethargie nicht mehr die mythisierten Eingeborenen. Ohne die äußere Notwendigkeit, die in Deutsch-Südwestafrika noch der Belagerungszustand war, bewegt sich das Kollektiv der Whole Sick Crew in gemeinschaftlicher Dekadenz über die Straßen New Yorks von einer Party zur nächsten. Stand die Party in früheren Texten Pynchons synonym für die Entwicklung von Ordnung zu Chaos, so symbolisiert sie in den New York Kapiteln V.s lediglich noch Monotonie. Bereits die erste Beschreibung einer Feierlichkeit der Whole Sick Crew liest sich wie die Blaupause aller folgenden:
The lights in the living room would go out one by one, Schoenberg’s quartets (complete) would go on the record player/changer, and repeat, and repeat; while cigarette coals dotted the room like watchfires and the promiscuous Debby Sensay (e.g.) would be on the floor, caressed by Raoul, say, or Slab [...] (57)
Während das wiederkehrende ”would” die Vorhersagbarkeit des Ablaufs der Party betont, lässt die explizite Austauschbarkeit der Namen (”e.g.”, ”[...] say, or [...]”) die Beschreibung wie eine beliebig zu besetzende Inszenierung erscheinen. Dass sich dabei keine der zahlreichen Party-Beschreibungen in den New York Kapiteln auch nur entfernt festlich liest, stützt lediglich Joseph Slades Feststellung: ”[T]he members of the Whole Sick Crew have already succumbed to lassitude.”
So wundert es auch nicht weiter, dass kein Mitglied der Crew, trotz ihres Avantgarde-Anspruchs, kreativ erscheint. ”[T]hey produced nothing but talk and at that not very good talk” (297), erkennt der ”psychodontist” (249) Dudley Eigenvalue, wenn er über die Gesamtheit der Crew nachdenkt. Selbst ihr innerer Künstlerkreis erscheint alles andere als schöpferisch. Am extrem passiven Ende finden wir Fergus Mixolydian, ”the laziest living creature in Nueva York” (56), der seinen Fernseher mit einem Schalter in seinem Unterarm verbunden hat und so zu dessen Verlängerung wird. Seine künstlerischen Unternehmungen (”all uncomplete” (56)) beschränken sich auf eine Neuauflage dadaistischer ready-mades, sowie die Erzeugung von Wasserstoff, womit er einen Luftballon füllt, der wiederum anzeigt, ob Fergus gerade schläft. Auf der aktiveren, jedoch nicht minder dekadenten Seite der Gruppe steht der selbsternannte ”Catatonic Expressionist” (56) Slab, ein Maler, dessen Bilder als Persiflage auf die späten Jahre Monets (282) endlose Variationen desselben Themas (in Slabs Fall ”cheese danishes” statt Seerosen) zeigen und die er als ”the ultimate in non-communication” (56) lobt. Roony Winsome, einer der wenigen klarsichtigeren Mitglieder, erkennt dabei, wie gerechtfertigt der Gruppenname ist: ”there is a word for all our crew and it is sick. [...] there is no one of us you can point to and call well.” (360) Der Schluß, den Ronny aus seiner Erkenntnis zieht, mag konsequent sein, endet jedoch lediglich in einer weiteren der crew-typischen Slapstick-Einlagen.
Ein gutes Beispiel für den ”Romanticism in its furthest decadence”, (56) den die Mitglieder der Whole Sick Crew zelebrieren, findet sich in einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen: ”Subway Yo-Yoing”. Darunter ist das Langzeitfahren, der Regel nach in volltrunkenem Zustand, in einer von Up- nach Downtown verlaufenden U-Bahnlinie New Yorks zu verstehen. Eine Disziplin, deren Rekord mit 69 Zyklen von Slab gehalten wird und die zunächst Bewegung impliziert, in ihrer fremdbestimmten, monotonen Ziellosigkeit jedoch eigentlich als Chiffre passiver Bewegungslosigkeit zu lesen ist. Eine dekadente Statik – ”a parody of purpose” – die sich als Variation auch in anderen Ausformungen des Crew-eigenen ”rollicking” (303) finden lässt. Beschreibungen der Whole Sick Crew finden fast unweigerlich im Kontext einer schier endlosen Kette von Partys oder in einem ihrer Stammlokale (Rusty Spoon, V-Note) statt. Auch hier wird sich einem YoYo gleich repetitiv und monoton bewegt, ohne dabei von der Stelle zu kommen: von Party zu Party, von Kneipe zu Kneipe. Bestenfalls die Kulissen, nicht jedoch die Situationen wechseln für die abgestumpfte Crew.
Die Gruppe bewegt sich in allen Bereichen ihres Lebens, sei es künstlerisch, sozial oder kommunikativ, in einem sehr eingeschränkten Bereich an Möglichkeiten. Dadurch entwickelt sie sich, wie William Plater es ausdrückt, zu einem ”emblem of modern decadence and pure redundancy.” Denn was bei ihren Aktivitäten an Optionen offen bleibt, beschränkt sich auf die Wiederholung oder die Permutation des bereits Bekannten. Beides trägt die Crew weiter in Richtung totaler Leblosigkeit. Eigenvalue, ihr Patron, kennt die Richtung, in die Entropie die Gruppe führt, die nie eigenständige Kunst oder Gedanken produzieren wird.
”Mathematically, boy” he told himself, ”if nobody else original comes along, they’re bound to run out of arrangements someday. What then?” What indeed. This sort of arranging and rearranging was Decadence, but the exhaustion of all possible permutations and combinations was death. (298)
Die Anzahl unterschiedlicher Kombinationsmöglichkeiten der vorhandenen Ideen ist beschränkt, ihre Erschöpfung folglich nur eine Frage der Zeit. Da sich die Crew, wenn überhaupt, ihrer eigenen Lebendigkeit jedoch nur über ihre künstlerischen Werke und Schlagwörter (”proper nouns” (297)) austauschenden Gespräche versichert, wäre die letzte Permutation gleichzeitig der Tod der Whole Sick Crew. Demnach lassen sich die Aktivitäten der Gruppe mit der Aushebung ihres eigenen Grabes gleichsetzen. Die Ambivalenz des in der Einleitung eingeführten Begriffs ”Death-Struction” spiegelt sich wider in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Vermeintliche Kreativität reicht der leblosen Objekthaftigkeit der Whole Sick Crew die Hand in ihrer ”exhausted impersonation of poverty, rebellion and artistic ‘soul’”. (56)
Die Tatsache, dass die Whole Sick Crew trotz ihrer Eigenwahrnehmung als kreative Künstlergruppe wie das kraftlose Abbild westlicher Konsumgesellschaften erscheint, hebt die zunehmende Intensität der Dekadenz hervor. Etwas, das sich nicht allein in Pynchons auch hier bezeichnender Namensgebung von Crew-Mitgliedern nach Industriematerialien (Teflon und Chiclitz) zeigt, sondern auch in der Betätigung der Gruppenmitglieder. Raoul etwa ”can produce drama devious enough to slip by any sponsor’s roadblock and still tell the staring fans what’s wrong with them and what they’re watching.” (360) Trotz seines Talents begnügt sich Raoul mit dem Schreiben von TV-Skripten für Western und Krimiserien. Mafia Winsome wiederum produziert Bestseller-Romane mit ihrer abstrusen ”Theory of Heroic Love”, die polygame Sexualgymnastik mit bigottem Rassismus kombiniert und dadurch dem Ausdruck ”fucking Fascist” (349) eine wörtliche Bedeutung verleiht. Pynchon lässt viele der Charaktere der Gegenwartsebene als Nachahmung jener Bilder erscheinen, die die amerikanischen Medien ihnen vorsetzen. Eine Entwicklung, die Daniel J. Boorstin mit mehr als einer wachsenden Oberflächlichkeit verbindet:
Rather these things express a world where the image, more interesting than its original, has become the original. The shadow has become the substance. Advertising men, industrial designers, and packaging engenieers are not deceivers of the public. They are simply acolytes of the image.
Der Sieg des Zeichens über das Subjekt, der Simulation über das Reale: was Pynchon mittels der Whole Sick Crew 1963 zeigt, deutet bereits an, was Theoretiker der Postmoderne wie Jean Baudrillard erst 15 Jahre später ausformulieren sollten. Doch geht dem Author V.s das Original noch nicht vollständig verlustig. Es wird lediglich bedeckt von Bildern, Zeichen und Klischees: ”[...] for Pynchon the real has become smothered in layers of representation .”
Pynchon exemplarisiert die Tendenz, Individualität einer medial vermittelten Stereotype zu opfern, anhand von Esther Harvitz und ihrem Schönheitschirurgen Shale Schoenmaker, zwei weiteren Charakteren, aus der Peripherie der Whole Sick Crew. Schoenmaker war bezeichnenderweise vor seiner medizinischen Laufbahn als Flugzeugmechaniker während des ersten Weltkriegs tätig. Seine besondere Bewunderung galt dabei einem Piloten mit Namen Evan Godolphin. Als sein Held eines Tages schwer verletzt mit zerfetztem Gesicht zurückkehrt, beschließt Schoenmaker sich von nun an der plastischen Chirurgie zuzuwenden, um entstellten Unfallopfern das Weiterleben zu erleichtern und gleichzeitig das Vordringen der Alloplastik, ”the introduction of inert substances into the living face” (99) zu verhindern.
Doch zwischen der ursprünglichen Motivation eines jungen Mechanikers, der 1917 noch voller ”catholic rage” (101) ist, und jenem Schoenmaker, der seine Arbeit im New York des Jahres 1956 mit einem Verweis auf die Regeln von Angebot und Nachfrage verteidigt, wandelt sich die Intention des Chirurgen. ”It was in short a deterioration of purpose, a decay.” (101) In Einklang mit der Unterstützung der Konsumgesellschaft, die auch viele andere Crew-Mitglieder an den Tag legen, gibt Schoenmaker den humanistischen Anspruch seiner Jugend auf und bezeichnet sich selbst nun als Verkäufer von Schönheit. (47) Genauer gesagt verkauft Schoenmaker eine Vorstellung von Schönheit, die keine individuelle sondern eine mediale ist. Nach den Vorgaben von Spielfilmen und Werbespots repariert Schoenmaker die äußerlichen ”Defekte” (= Abweichungen von der Schönheitsnorm) seiner Patienten, wie er im ersten Weltkrieg beschädigte Flugzeuge nach Anleitungen reparierte. Der Erzähler benennt den Ursprung dieser Schönheitsharmonie sehr deutlich: ”Identical with an ideal of nasal beauty established by movies, advertisements, magazine illustrations. Cultural Harmony, Schoenmaker called it.” (103) Dabei vermittelt der erwartete Verlust ihrer äußerlichen Individualität in Form einer jüdisch gebogenen Nase, die auf Seite 103 geradezu stigmatisiert wird, Esther das Gefühl, ihre eigene Geburt mitzuerleben, während sich Schoenmaker gleichzeitig zu ihrem Schöpfer erhebt. ”It was like waiting to be born, and talking over with God, cold and businesslike, exactly how you wanted to enter the world.” (104)
Esthers spätere Erinnerung an die in schmerzhafter Detailliertheit geschilderte Operation (105-108), lässt sich auch als Glaubensbekenntnis der Whole Sick Crew lesen. Fasziniert vom entpersonifizierten Driften in passiver Objekthaftigkeit, jeglicher Verantwortung enthoben, genießt die Whole Sick Crew ebenso wie Esther die anästhetisierende Wirkung eines Lebens innerhalb der westlichen Konsumkultur.
”It was almost a mystic experience. What religion is it – one of the Eastern ones – where the highest condition we can attain is that of an object – a rock. It was like that; I felt myself drifting down this delicious loss of Estherhood, becoming more and more a blob, with no worries, traumas, nothing: only Being....” (106)
Ob nun bei Esthers Kino-Nase oder den dem Time Magazine entlehnten ”proper nouns” der Crew-Unterhaltungen, in beiden Fällen ist es die Übernahme jener eindeutig vorgegebenen ”Cultural Harmony”, die jene ”degeneracy into the inanimate” hervorruft.
Dass diese Degeneration, wie bereits eingangs erwähnt, eine Entsprechung, ja sogar eine Verschärfung der Dekadenz von ”Foppl’s crew” ist, lässt sich an unterschiedlichen Beispielen nachweisen. Beispielsweise an dem ”virtually inanimate sex”, den Mitglieder der Whole Sick Crew wie Mafia Winsome praktizieren. Ihre Theorie der heldenhaften Liebe basiert auf einer einzigen Annahme: ”the world can only be rescued from certain decay through Heroic Love”. Dabei hat ihre Vorstellung von Liebe mehr mit Sport, denn mit Emotionen zu tun und ist letztlich noch weiter von einer verantwortungsvollen Beziehung entfernt, als die (nicht existenten) zwischenmenschlichen Bindungen der Gäste auf Foppls Farm. Im Gegensatz zu diesen legt Mafia in ihren Romanen wie auch in ihrem Leben mehr als eine Spur Rassismus und Antisemitismus an den Tag. (126) Dass auch die Wertschätzung menschlichen Lebens eine vergleichbar geringe ist, wie die auf Foppls Farm, wird mehr als deutlich, wenn Slab mit Esther über ihre geplante Abtreibung diskutieren. Während Esther ethische Bedenken hat, ist der Fall für Slab ganz eindeutig. ”’It’s murdering your own child, is what it is.’ ‘Child, schmild. A complexe protein molecule is all.’” (354)
Die Implikation, die sich aus Pynchons Nebeneinanderstellen der degenerierten Zuschauermenge in Deutsch-Südwestafrika, die dem Abschlachten wehrloser Hereros indifferent bis mäßig amüsiert gegenübersteht und den entmenschlichten New Yorker Bohemiens ergibt, ist offensichtlich. Beide Gruppen befinden sich näher an dem, was Pynchon wiederholt als Zustand der ”inanimateness” bezeichnet, als an etwas, was wir Leben nennen würden. So wie Mondaugen ”Foppl’s crew” in seinem letzten Blick zurück als ”dehumanized and aloof” (279) charakterisiert, so erkennt auch Rachel das Wesen der Whole Sick Crew: ”’[T]hat crew does not live, it experiences.’” (380) Wo das Publikum in Foppls Villa noch jenes Maß an Interesse aufbringt, dass es neugierig gaffend auf das Dach des Hauses treibt, so ist die Whole Sick Crew bereits derart mit sich selbst beschäftigt, dass zu befürchten steht, ein vergleichbares Ereignis in New York würde weniger Resonanz finden. Zudem sind die Figuren der New Yorker Crew zu dünn und oberflächlich gezeichnet, um überhaupt von Charakteren sprechen zu können. Nicht das Fehlen von Humanität fällt bei ihnen auf sondern vielmehr jeder Akt der Menschlichkeit sticht als Abweichung aus der uniformen ”inanimateness” heraus. Während sich die Gruppe in Foppls Farm zuletzt zu einer Form von Touristen entwickelt hat, deren Konzentration auf das Visuelle das Fehlen einer moralischen Involviertheit beinhaltet, verdeutlicht die Whole Sick Crew die Tendenz, die Pynchon auf der Gegenwartsebene vermitteln möchte und die der Dekadenz Deutsch-Südwestafrikas eine neue Qualität verleiht: ”[people] reduce themselves to objects.”
II.2. Tourismus: Zweidimensionales Baedecker-Land
This is a curious country, populated only by a breed called ‘tourists’. Its landscape is one of inanimate monuments and buildings, near-inanimate barmen, taxi-drivers, bellhops, guides [...] More than this it is two-dimensional, as is the Street, as are the pages and maps of those little red handbooks. (408/9)
Obiges Zitat nennt bereits zwei der unterschiedlichen Aspekte, die bei einer Betrachtung von V.s Tourismus-Anleihen unter dem Gesichtspunkt der ”Inanimateness” zu Tage treten. Dazu empfiehlt sich eine nähere Untersuchung von Kapitel 3, einer stark abgewandelten Form von Pynchons zwei Jahre früher erschienenen Kurzgeschichte Under the Rose.
In acht Teilen, die von Einheimischen in Kairo und Alexandria ”erzählt” werden, führt Pynchon verschiedene Aspekte des Tourismus und die Idee der Baedecker-Welt ein. Mit dem häufig wiederkehrenden Namen Baedeker bezieht sich Pynchon auf den 1827 von Karl Baedeker in Leipzig gegründeten deutschen Verlag für Reisehandbücher. Bis zum ersten Weltkrieg wurde Baedecker synonym für ”Reiseführer” und zum Maßstab für Authentizität, Verlässlichkeit und Vollständigkeit. William Plater schätzt den Einfluß der ”little red books from Leipzig” Ende des letzten Jahrhunderts als beträchtlich ein: ”By 1880 the influence of Baedecker was so great that art had overtaken reality and begun literally to shape the world to the guidebooks’ representation.” Eine Einschätzung, die Pynchon bestätigt als in Florenz wider die Gewohnheiten der Stadt, unvermittelt eine Frau in der Straße von ihrer verstorbenen Liebe zu singen beginnt: ”’She’s singing for the tourists,’ the Gaucho complained bitterly, ‘she must be. No one ever sings in Florence. No one ever used to.’” Öffentliches Singen gehört weder zu den gegenwärtigen noch zu den ausgestorbenen Gebräuchen der Stadt. Hier formt tatsächlich die falsch vorgegebene Realität der Touristenführer die tatsächliche der Einheimischen. Doch erst einmal zurück zu den Implikationen des einleitenden Zitats.
Zunächst ist es natürlich die Landschaft selbst, die steinernen Denkmäler und toten Gebäude, die innerhalb der touristischen Reviere als Vertreter der Welt der ”inanimate objects” auffallen. Doch auch die einheimischen Bewohner des Baedecker-Lands werden in das Reich der leblosen Objekte eingebürgert. Taxifahrer und Führer, Hotelpagen und Barmänner, sie alle wandeln sich in den Augen der Touristen zu selbstverständlichem Inventar dieser exotischen Welt. So fragt sich beispielsweise der Anarchist Yusef, Angestellter eines Hotels in Kairo, ”was he human?”, nur um die Antwort wenig später selbst zu geben. ”He might as well be a fixture on the wall.” (68) Auch seitens des Erzählers wird der einheimischen Bevölkerung die Zugehörigkeit zur ”animate world” abgesprochen, wenn dieser sie mit dem pädophilen Schmarotzer Max (aka Ralph MacBurgess) vergleicht: ”He was that kind of vagrant who exists, though unwillingly, entirely within the Baedecker world – as much a feature of the topography as the other automata: waiters, porters, cabman, clerks. Taken for granted.” (70)
Ebenso wie die Reisenden die einheimische Bevölkerung als Kulisse instrumentalisieren, werden ihrerseits die Touristen von den Einheimischen nicht als Menschen, sondern als Mittel zum Zweck gesehen. Gebrail, ein Kutscher in Alexandria, sieht in den europäischen Besuchern lediglich den Lebensunterhalt für sich und seine Familie: ”How could you say they were people: they were money.” (84) Ironischerweise erscheinen im dritten Kapitel mit Porpentine und Goodfellow Figuren, die den Status des Touristen lediglich vorgeben, während sie in Wahrheit als Geheimagenten arbeiten. Innerhalb der touristischen Scheinwelt entsteht eine weitere Stufe der Simulation, auf der Menschen wiederum die Partizipation in dieser imaginierten Welt simulieren. Doch findet sich im Wesen des Touristen noch eine weitere Variante der ”inanimateness”. So wie das menschliche Jo-Jo Benny Profane als ”man on a string” bezeichnet wird, so werden auch Touristen als Marionetten des mächtigen Baedeckers beschrieben. Seine Vorgabe der Wirklichkeit lässt sie nach uniformen Komfortstandards von Hotels (409) suchen und in nationalen Stereotypen denken und handeln. Während Individualität bei den Bewohnern der bereisten Länder in der Fremdwahrnehmung durch die Touristen als selbstverständliche Serviceinfrastruktur verschwindet, reduziert sich die Vitalität der Touristen durch das Fügen in die Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster, die der Reiseführer vorgibt. So entsteht eine supranationale, anonyme und letztlich leblose Touristengemeinde, die sich in einem ”Dance of Death” (201) bewegt.
[...] perhaps the most absolute communion we know on earth: for be its members American, German, Italian, whatever, the Tour Eiffel, Pyramids, and Campanile all evoke identical responses from them; their bibel is clearly written and does not admit of private interpretations; they share the same landscape, suffer the same inconveniences, live by the same pellucid time-scale. They are the Street’s own. (409)
Mit anderen Worten leben Touristen nicht mehr in der Wirklichkeit, die sie bereisen, sondern in deren Repräsentation, wie sie ein Reisehandbuch vorgibt. William Plater überträgt den passiven Konstruktivismus, in den sich die Touristen fügen, auf das umfassendere System ”Wirklichkeit”, wenn er erkennt, dass ”Pynchon shows that reality becomes apparent only to the degree of its artificiality.” Eine Einsicht, die Pynchon selbst in der Beschreibung einer deutschen Bierhalle in Alexandria verdeutlicht.
The bierhalle north of the Ezbekiyeh Garden had been created by north European tourists in their own image. One memory of home among the dark-skinned and tropical. But so German as to be ultimately a parody of home. (88)
Der missglückte Versuch, eine Oase der Heimat in der Fremde zu installieren, verdeutlicht Lesern und Erzähler in ihrer angestrengten Authentizität, die letztlich zur Parodie verkommt, die Realitätsferne der touristischen Vorstellung von Wirklichkeit.
In seinem Buch The Tourist entwickelt Dean MacCannell eine noch perfidere Theorie der Konstruktion touristischer Habitate. Anders als Pynchon, der sich freilich auf eine viel frühere Form des Tourismus bezieht, spricht MacCannell heute von einer touristischen Matrix, die sich aus den von Reiseführern empfohlenen Stadtteilen, Gegenden, Nachbarschaften und anderen Details ergibt und die der Tourist mit seinen eigenen kleinen Entdeckungen innerhalb dieser Vorgaben mit typischen kleinen Märkten, originellen Restaurants und charismatischen Einheimischen auffüllen kann. ”This touristic matrix assures that the social structure that is recomposed via the tour, while always partial, is nevertheless not a skewed or warped representation of reality.” Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den Sujets der beiden Autoren, bestätigt MacCannells Zitat doch die Tendenz, die Pynchon bereits am Beginn dieses Jahrhunderts ausgemacht hat: Nicht die Wirklichkeit sieht der Tourist auf seiner Tour, sondern allein eine Repräsentation.
Pynchon lädt uns ein zu einem weiteren Vergleich zwischen der touristischen Philosophie, die Realität zur Konformität mit einer Illusion zu zwingen, und einer anderen Suche nach entmenschlichter Uniformität. Denn V.s Affäre mit Mélanie, die von Narzissmus und Fetischismus bestimmt wird und auf die unter II.3 näher eingegangen werden soll, wird in ihrem Streben, im Gegenüber Teile des Selbst zu sehen, verglichen mit der Praxis der Touristen, kleine Kolonien ihrer Kultur in der fremden zu installieren.
[T]heir love was in its way only another version of tourism; for as tourists bring into the world as it has evolved part of another, and eventually create a parallel society of their own in every city, so the Kingdom of Death is served by fetish-constructions like V.’s, which represent a kind of infiltration. (411)
Der eigenen Infiltration durch Fetische durchaus bewusst, liebt V. in Mélanie einzig den Fetisch und dadurch sich selbst. Liest man Lady V. nun, wie es der Roman mit der Bezeichnung als ”Bad Priest” nahelegt, als Prophetin einer leblosen Welt, so wird die Implikation dieses Vergleichs deutlich. Zwischenmenschlichkeit wird ersetzt durch eine andere Form des Tourismus, die der Bezeichung der Touristen als ”lovers of skin” (184) eine wörtliche Bedeutung gibt.
Der bedeutsamste Aspekt des Zusammenhangs zwischen ”inanimateness” und Tourismus und gleichzeitig jener, der sich am nachhaltigsten durch den Verlauf des Romans zieht, wird jedoch von Hugh Godolphin eingeführt. Der Forscher und Kapitän versucht, seine Besessenheit mit dem ominösen Land Vheissu als Gegenteil der Motivation der Touristen zu erklären. ”’I think it is the opposite of what sends English tourists reeling all over the globe in the mad dances called Cook’s tours. They want only the skin of the place, the explorer wants its heart.’” (204) Dabei verkennt Godolphin, dass er in seinen Reisen lediglich als ”scientific tourist” agiert, demnach der Unterschied zu den Touristen nicht der eklatante ist, den er beschreibt. Beide, Godolphin wie Touristen, sind auf der Suche nach dem Fremden, verfolgen diese Suche jedoch mit unterschiedlicher Intensität. Touristen, ”the lovers of skin” (184), begnügen sich dabei mit der Oberfläche, dem äußeren Erscheinungsbild fremder Länder und Menschen, ohne bis zum eigentlichen Wesen einer anderen Kultur vordringen zu wollen. Mit den Tips und Erläuterungen ihres Baedeckers nehmen sie einen kulturellen Simultandolmetscher mit auf die Reise, der zu allen Stationen der Tour bereits die passende Leseart aus der eurozentrischen Perspektive eines Karl Baedecker vorgibt. Gleichzeitig sorgt eine touristische Dienstleistungslandschaft in Form von Hotels und Restaurants für das Entstehen der Parallelwelt einer westlichen Kulturoase.
Der Forscher Godolphin hingegen möchte sich nicht mit der Haut des Fremden begnügen. Er versucht hinter die oberflächlichen Illusionen zu blicken, den Schein zu zerreißen und zum eigentlichen Wesen der Welt vorzudringen. Ein Anliegen, dessen Konnotationen zunächst eine Spur Freiheitssuche und Abschied aus der beengenden Bilderwelt enthalten. Dennoch ist die Implikation übertragen auf Pynchons V.-Welt eine, die nichts mit Befreiung zu tun hat: ”[T]here is a more ominous feeling that if you did cut through the painting a something or a nothing more frightening might be revealed.”
So wird das einzige Mal, dass Pynchon jemandem in V. gestattet, hinter die bunte Oberfläche der Welt zu schauen, prompt zu einem Alptraum. Nach dem Blick unter die schillernde Haut Vheissus findet Hugh Godolphin keine Ruhe mehr. In einem Gespräch in Florenz 1899 ahnt Godolphin bereits, dass jenes geheime, sagenumwobene Land, das er während einer Expedition 1884 entdeckt haben will, ebenso seelenlos und nicht weniger zweidimensional ist als die Welt der Baedecker-Jünger. ”I wondered about the soul of that place. If it had a soul. Because their music, poetry, laws and ceremonies come no closer. They are skin too.” (170) Doch erst eine zweite Expedition, diesmal zum Südpol, zum ”dead center of the carousel” (205), wo sich Godolphin die Ruhe erhofft, das Rätsel des in ständiger Veränderung begriffenen Vheissus zu lösen, gibt dem Forscher die befürchtete Antwort auf seine quälende Vermutung. Hatte er in diesem verborgenen Land tatsächlich die Wahrheit des Lebens gesehen? Waren die schillernden Farben wirklich das Wesen des Landes, die Oberfläche gleichzeitig sein Inneres? Beim Graben am Pol stößt der Forscher auf einen eingefrorenen, leblosen und dennoch regenbogenfarben leuchtenden Klammeraffen, wie er ihn aus Vheissu kennt. Während der Klammeraffe in seiner farbenfrohen Unversehrtheit Leben suggeriert, ist er in Wahrheit ein Leichnam. Die Erfahrung, das Objekt des Wissens nur noch als Totes in einem Meer der Vernichtung vorzufinden, führt Godolphin zu der einzigen Wahrheit, die sich hinter Vheissu verbirgt: ”’It was not till the Southern Expedition last year that I saw what was beneath her skin.’ ‘What did you see?’ asked Signor Mantissa, leaning forward. ‘Nothing,’ Godolphin whispered. ‘It was Nothing I saw.’” (204) Zu schrecklich war die Implikation seines Erlebnisses am Pol – dass Affe und Mensch essentiell dasselbe, nämlich leblos sind - für den Kapitän, als dass er sie laut aussprechen könnte. Godolphin begreift, was seine Vheissu-Obsession war: ”a dream of annihilation” (206), eine Obsession mit Haut, mit Leblosigkeit, mit dem Nichts, letzlich mit dem Tod. Die Erfahrung am Südpol weist Godolphin seine eigene destruktive Natur nach und konfrontiert ihn mit der Tatsache, dass die Faszination mit Vheissu Ausdruck eines inneren Verlangs nach Zerstörung ist. Eine Einsicht, die den Forscher nachhaltig verstört. Sein Wissen isoliert ihn. Er fühlt sich nicht nur aus der menschlichen Gemeinschaft, sondern auch von einer gemeinsamen Menschlichkeit ausgeschlossen. Nachdem er Victoria Wren von Vheissu erzählt hat, betrachtet er die Touristen in Florenz, wie sie die Campanile begaffen und ”[h]e felt isolated from a human community – even a common humanity [...]”. (184)
Diesem Schicksal entgeht Signor Mantissa nur, weil er sich im letzten Augenblick entscheidet, seinem kriminellen Besitzstreben nicht nachzugeben. Schon beim Versuch, Botticellis ‘Geburt der Venus’ zu stehlen, spürt Mantissa denselben namenlosen Horror, den Hugh Godolphin am Südpol packt. Er wird übermannt von der Angst vor der Vorstellung dessen, was hinter der ”gorgeous surface” des Gemäldes liegen könnte, davor, dass vielleicht auch dieses Bild nur ein ”gaudy dream, a dream of annihilation” (210) sein könnte. Die Vorstellung, keine gemeinsame Sprache mit der Verkleidung des Nichts, die von Pynchon zur Gottheit erhoben wird, finden zu können, genügt Mantissa, seine ”entire love” (210) zurückzulassen.
”’If Eden was the creation of God,” überlegt Godolphin ”God only knows what evil created Vheissu.’” (206) Dabei ist offensichtlich, dass der Mensch dieses Böse ist, das den nihilistischen Traum Vheissu erschaffen hat. Vheissu selbst, das innerhalb des Romans wie das Initial V. als ”free-floating signifier” fungiert und von ”Venezuela” über ”Vesuvius” bis zu ”volcano” etliches bedeutet, steht als anderer Name für die Welt, in der wir leben. Eine schillernd bunte Oberfläche, wie Vheissus ”irridescent spider monkeys”, wie die Bäume und Berge dieses Landes, die jede Stunde ihre Farbe wechseln und einem das Gefühl geben, in einem ”madman’s kaleidoscope” (170) zu leben. Eine Haut, die das kalte Nichts kaschieren soll, das sich hinter der Welt verbirgt, die des Menschen Bilder in einen bunten Traum verwandelt haben. Dass seine Entdeckung des Nichts hinter der farbenfrohen Leinwand der Illusionen in der Zeit zwischen 1898 und 1922 - und zu einem guten Teil sicher durch die Schrecken des ersten Weltkriegs - keine private mehr sondern eine öffentliche ist, bemerkt Godolphin, als er in Foppls Villa erneut über Vheissu räsoniert. ”’[O]ur Vheissus are no longer our own , or even confined to a circle of friends; they’re public property.’” (248) Eine Erkenntnis, die Robert Golden so interpretiert: ”[W]hen the private vision of nada of the nineteenth century becomes the public property of the twentieth [...] the entire world is threatened with annihilation.”
Eine Gefahr, die 35 Jahre später, auf der Gegenwartsebene des Romans1956, wenn schon nicht Realität geworden, so doch zumindest näher gerückt ist. In New York City finden wir eine Welt, die fast durchgehend aus schillernder Oberflächlichkeit besteht. Die Whole Sick Crew, deren Mitglieder versuchen, eben jene Persönlichkeiten darzustellen, die ihnen selbst abgehen , beschäftigt sich überwiegend mit dem Austauschen leerer Worthülsen, sogenannter ”proper nouns”, sowie literarischer und philosophischer Andeutungen. Die vollständige Abhängigkeit des Wertesystems der Crew von diesen hohlen rhetorischen Bausteinen, erkennt der Zahnarzt Eigenvalue bereits sehr deutlich: ”Depending on how you arrange the building blocks at your disposal, you were smart or stupid. Depending on how others reacted they were In or Out.” (298)
Ausgerechnet Benny Profane spricht gelassen aus, was Godolphin um den Verstand gebracht hat: ”there’s nothing inside” (370). Damit artikuliert er zwar pointiert die Quintessenz der Forschungen des Seefahrers, erkennt jedoch nicht die verschwimmende Grenze zwischen Leben und Tod, die im Mittelpunkt von V. steht und die The Whole Sick Crew vorlebt. ”Vision must be the last to go. There must also be a nearly imperceptible line between an eye that reflects and an eye that receives” (94), überlegt der Erzähler am Ende des dritten Kapitels. Die Linie, von der er spricht, ist natürlich der Tod, doch im Kontext des Romans verlieren die Gleichungen ‘Sinneswahrnehmung (”receive”) = Leben’, ‘Widerspiegelung (”reflect”) = Tod’ ihre Eindeutigkeit. Natürlich sind die Touristen in Kairo und Alexandria unter biologischen Gesichtspunkten ebenso am Leben wie die Crew in New York, müßten also ihre Umwelt wahrnehmen. Aber spiegeln ihre Augen nicht lediglich das wider, was ihnen die geschriebene Baedecker Welt, was ihnen der ungeschriebene Verhaltenskodex der Crew vorgeben? Nimmt ein Tourist, der sich ausschließlich im eingeschränkten Areal zwischen Museum und Hotel, Bahnhof und Bank bewegt, überhaupt die Lebensrealität der einheimischen Bevölkerung wahr? Erkennt ein Crew-Mitglied wie Raoul in einer Frau etwas anderes als ein Kopulationsobjekt, in einer Flasche Wein etwas anderes als den Eingang zum Delirium? Die Grenze zwischen Reflektion und Wahrnehmung, zwischen Leben und Tod wird tatsächlich ”nearly imperceptible”, wenn Pynchon in V. wiederholt Personen beschreibt, die an ”a mobile object which reflects but does not receive” erinnern. Die Tatsache, dass sich diese Personen Anfang des Jahrhunderts innerhalb des Romans auf die Gattung des Touristen beschränken, während Pynchon sie 1956 fast die Gesamtheit der in Erscheinung tretenden Figuren ausmachen lässt, macht die These des Romans mehr als deutlich.
II.3. Pervertierte Sexualität: Narzissmus und Fetischismus
Während Sexualität ein wichtiger Bestandteil von zwischenmenschlicher Zuneigung ist, wird sie an den Grenzen zur Perversion zum genauen Gegenteil dessen, nämlich zum Zeichen von Dekadenz. Da eben diese in V., wie im Vorangegangenen gezeigt wurde, als adäquate Zustandsbeschreibung des 20. Jahrhunderts verstanden werden muß, nimmt es nicht weiter wunder, dass uns Thomas Pynchon in seinem Roman ein weites Spektrum an, aus der Perspektive bürgerlicher Moralvorstellungen betrachtet, ”extremer” Sexualität präsentiert. Die unterschiedlichen Formen reichen dabei vom passiven Voyeurismus eines Kurt Mondaugens, über Fetischismus, den uns die junge Rachel Owlglass im Hinblick auf ihr Auto vorführt, bis hin zu Foppls Sado-Masochismus und der Sexualisierung von Esthers Nasenoperation. Das nahezu vollständige Fehlen einer reifen Form von Emotionalität in V. erhöht eben jene in Pynchons Wertesystem immens. Ein Kritiker versucht, die Diskrepanz zwischen den omnipräsenten negativen Charaktereigenschaften und den nahezu nicht existenten positiven folgendermaßen zu erklären: ”The most common negative traits of his characters – paranoia, aggression, and anality – stand in the way of their achieving mature love, the most important positive trait he depicts.” Im Hinblick auf Sexualität ist es dabei sicherlich Aggression, die das Erreichen einer reifen Emotionalität verhindert. ”The degree to which men and women want each other to be ever-ready erotic tools, needing neither tenderness nor love, is one sign of sexual hate.”
Wenn V. vermeintlich von Liebe spricht, handelt es sich entweder um Sex oder um krankhafte Selbstliebe. Es ist klar, dass Narzissmus nicht unserer Vorstellung von Liebe entspricht. Doch auch der Sex in V. ist weit entfernt vom Ideal einer verantwortungsvollen, emotionalen Körperlichkeit. ”Sex with a piece of plastic could not differ very much from the kind of virtually inanimate sex practiced by characters such as The Whole Sick Crew”. Somit untertreibt David Seed, wenn er schreibt: ”Love becomes distorted through the various substitutions characters find”. Vielmehr ist Liebe in V. nicht mehr existent. So wirft Esther dem Schönheitschirurgen Shoenmaker zu Recht vor, kein wirkliches Interesse an ihrer Person zu haben. Mit seinen permanenten Vorschlägen weiterer Operationen wolle er seine eigene, neue Esther schaffen, die mit der jetzigen nichts mehr zu tun hätte. (296/7) Benny Profane wird von Rachel Owlglass bezichtigt, in jene ”schlemihlhood”, deren Prototyp er ist, verliebt zu sein. Somit würde Profane in jedem betrunkenen Obdachlosen, dem er Sympathie entgegenbringt, immer nur sich selbst mögen. In beiden Fällen wird in die Person des Gegenüber etwas hineinprojeziert, was ursprünglich nicht vorhanden gewesen ist und was vollkommen unabhängig von der Projektionsfläche das Abbild des Betrachters darstellt. Der oder die Gegenüber wird vom Individuum zum Spiegel umfunktioniert.
Gleich dem mit der Spiegelthematik zusammenhängenden Narzissmus zieht sich auch eine andere Form von Sexualität, ”love for an object” (23), kurz Fetischismus, dominant durch V. und wird schon früh eingeführt. Wir begegnen ihm bereits zu Anfang des Romans, als Rachel Owlglas ein überaus intimes Verhältnis zu ihrem Auto demonstriert. (28/9) Doch die Faszination mit Fetischen bekommt einen zunehmend bedrohlicheren Beigeschmack. Während Pynchon zu Beginn des Romans noch unbeschwert den Witz des Jungen mit der goldenen Schraube im Bauchnabel erzählt (40), verliert der Gedanke des Auseinandernehmens bereits wenige Zeilen später seinen humorigen Beigeschmack. Der Ton wird spürbar dunkler:
To Profane, alone in the street, it would always seem maybe he was looking for something too to make the fact of his own disassembly plausible as that of any machine. It was always at this point that the fear started: here that it would turn into a nightmare. Because now, if he kept going down that street, not only his ass but also his arms, legs, sponge brain and clock of a heart must be left behind to litter the pavement, be scattered among manhole covers. (40)
Als viele Seiten später Kinder auf Malta den Bad Priest wortwörtlich auseinandernehmen, erzeugt ”disassembly” kein Lachen mehr. V.s bizarre, unwirkliche Extremform der Liebe zum leblosen Fetisch wird hier zum erschreckenden Alptraum.
Je weiter wir uns der Gegenwartsebene annähern, desto offensichtlicher wird, dass Frauen aus der männlichen Perspektive vermehrt als Maschine wahrgenommen werden. Während man in den historischen Passagen durchaus noch liebevollen Beziehungen (etwa die zwischen Fausto Maijstral und seiner Frau Elena) begegnet, nimmt in New York 1956 das mechanisierte Bild der Frau überhand. Deutlich wird dies bereits in einer frühen skurrilen Szene in einer Bar in Norfolk, dem Sailor’s Grave. Dort findet ein werktäglich wiederkehrendes Ritual namens ”Suck Hour” (13) statt, in dem sich durchschnittlich 250 Seeleute in einem Pynchon-typischen fröhlichen Chaos darum streiten, aus einer von sieben aus Schaumgummi geformten Brüsten, Bier zu saugen. Ein weiteres Beispiel liefert Benny Profane, der sich auf einer Tour mit zwei Arbeitskollegen durch die Stadt inmitten der von individualitätslosen Passanten bevölkerten Straße nicht wohl fühlt. Seine Bemerkung ”[t]hey don’t have faces” wird vom Erzähler wenige Zeilen später am Beispiel des Erscheinungsbilds dreier Frauen konkretisiert. ”Three jailbait, all lipstick and shiny-machined breast- and buttock-surfaces, stood in front of the wheel of fortune, twitching and hollow-eyed.” (139) Dabei fügt sich die offenkundig werdende Fixierung auf Oberfläche nahtlos in die im Tourismus-Kapitel aufgestellte These ein, dass nicht das Wesen eines Menschen interessiert, sondern lediglich seine faszinierende Oberfläche, so profan deren Reize auch sein mögen. Profanes Fantasie spinnt die Idee der Frau-Maschine bis zu einem Bild weiter, das dem V.s bei ihrer Auseinandernahme auf Malta nahe kommt und selbst Marshall McLuhans Überlegungen aus den frühen 50ern in den Schatten stellt. ”Someday, please God, there would be an all electronic woman. [...] Any problems with her you could look up in a maintanance manual. Module concept: fingers’ weight, heart’s temperature, mouth’s size out of tolerance? Remove and replace, was all.” (385) Dabei ist das ”remove and replace”-Prinzip bereits dort gang und gäbe, wo Sexualität gewöhnlich nach rein ökonomischen Gesichtspunkten von Statten geht: in der Prostitution. Dass Frauen in diesem Berufszweig als Gebrauchsgegenstände fungieren, die bei Nichtgefallen jederzeit ausgetauscht werden können, sieht Paola/Ruby trotz ihrer Teilzeittätigkeit bereits sehr deutlich: ”[W]hat business does a whore have going anywhere? A whore isn’t human.” (291) Man fühlt sich merklich an die instrumentalisierten Hotelbediensteten in Kairo erinnert, mit dem Unterschied, dass die Definition von entmenschlichter ‘Dienstleistung’ in der Jetzt-Zeit des Romans eine Breite angenommen hat, die sie in Kairo noch nicht kannte.
Nachfolgend soll die Thematik des Narzissmus und Fetischismus, deren Bedeutung sich bereits im historischen Teil des Romans abzeichnet, exemplarisch anhand des 14. Kapitels behandelt werden. Hier verdeutlicht das Schicksal der Hauptfigur des Kapitels, Mélanie L’Heurmaudit, eindrucksvoll die Folgen der Mechanisierung dessen, was wir Lieben nennen.
II.3.1. ‘V. in love’
‘V. in love’, ein Kapitel, das im Sommer 1913 in Paris spielt, verbindet zwei Handlungsstränge. Einerseits die Vorbereitungen und die Premiere eines avantgardistischen Balletts, andererseits die Affäre zwischen V. und Mélanie L’Heurmaudit, der Primaballerina des Stücks. Auch hier erzeugt Pynchon eine Stimmung erschöpfter Dekadenz, die sich in Anspielungen auf satanistische Aktivitäten, der gleichermaßen komplexen wie exzentrischen Affäre der beiden Frauen und nicht zuletzt den regelmäßigen Verweisen auf das schwülwarme Juliwetter, das ganz Paris zum Treibhaus macht, manifestiert. Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen Dekadenz und Sexualität zunächst am Beispiel der 15jährigen Tänzerin Mélanie, später dann im Hinblick auf die komplexe Beziehung der beiden Frauen beleuchtet werden.
Bereits zu Beginn wird die psychoanalytische Färbung der historischen Sequenz im Hinblick auf Mélanie deutlich. Monsieur Itague, der Leiter der Theatergruppe, bittet das Mädchen mit einem ”’Come, fétiche, inside’” (395) herein. Was wir dabei unter einem Fetisch zu verstehen haben, erläutert Lady V., die Patronesse des Theaters, wenige Seiten später. ”Do you know what a fetish is? Something of a woman which gives pleasure but is not a woman. A shoe, a locket ... une jarretière. You are the same, not real but an object of pleasure.” (404) Wie recht V. dabei mit ihrer Einschätzung hat, belegt bereits die erste autoerotische Szene, in der Mélanie kurz nach ihrer Ankunft auf dem Bett liegt und sich selbst in einem Deckenspiegel betrachtet. Sie bewegt ihre Beine ”till the hem of the blue skirt had worked high above the tops of the stockings. And lay gazing at the black and tender white.” (397) Dabei folgt die Richtung ihres Verlangens bereits einer männlichen Perspektive. Mélanies Erregung entsteht aus der Inszenierung ihres eigenen Körpers als Lustobjekt eines männlichen Verlangens, genauer gesagt dem Verlangen ihres Vaters, der sie in früheren Zeiten zu intimen Spielen benutzte. Indem sie den Blickwinkel des Verlangens ihres Vaters in Bezug auf sich selbst annimmt, degradiert sich Mélanie bereits in die Rolle eines Fetischs. Dabei benennt ihre eigene Faszination für die Polarität zwischen weißer Haut und schwarzen Strümpfen, zwischen Fleisch und Plastik, bereits die Demarkationslinie, die im Zentrum dieses Kapitels meiner Arbeit steht. Wo findet der Übergang von der Seite eines Menschen (”animate”) auf die eines Fetischs (”inanimate”) statt?
Kurz darauf bekommt Mélanies Fetisch-Rolle eine neue Qualität. Sie sieht nicht nur ihren Körper als Lustobjekt aus der Perspektive eines Mannes, auch in ihrer eigenen Wahrnehmung konzentrieren sich die Sexualattribute ausschließlich auf zusätzliche Accessoires, nie alleine auf ihren Körper. ”She was not pretty until she wore something. The sight of her nude body repelled her.” (397) Ihre Reizwäsche, mit der das Mädchen offenbar die ”lay figure” auf dem Bett verführen möchte, bedeckt ihren Körper nahezu vollständig. Für sie und den Leser bleibt lediglich noch eine Oberfläche aus männlichen Fetischen sichtbar, bestehend aus Unterröcken, Strumpfbändern, Mieder und Strapsen. Wie Hanjo Berressem erkennt, bekommt Mélanie dadurch eine rein bezeichnende Funktion. Das Mädchen wird zum Zeichen.
Within this ‘phallic grammar,’ the female body itself is strictly excluded and banned from representation. All the signs that cover it are male signs, so that a male erotics ultimately has to detach itself from the body proper and affix itself to the overlying signs themselves, the endpoint of which process is the ‘body as sign,’ defined within and dominated by a ‘phallic code.’
Dass dieser ”phallic code” allein der Code ihres Vaters ist, dass Mélanie zum Produkt seiner erotischen Phantasie geworden ist, erkennt auch der klarsichtige Monsieur Itague deutlich, wenn er über das Vater-Tochter Verhältnis räsoniert und rhetorisch fragt: ”’He gave her all that. Or was he giving it all to himself, by way of her?’” (399) Wie sehr Pynchon in der Figur Mélanies bereits mit der Idee des ”body as sign” spielt, macht wiederum Itague deutlich. In Anspielung an ihren pädophilen Vater (”that wretched man”), der seine Tochter als Projektionsfläche seiner eigenen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse instrumentalisierte, sagt er: ”The girl functions as a mirror. You, that waiter, the chiffonnier in the next empty street she turns into: whoever happens to be standing in front of the mirror in the place of that wretched man”. (399) Die Grenze zwischen Fetisch und Körper verläuft nicht mehr auf dem Körper selbst, sondern löst sich von ihm. ”The line of demarcation, the bar that separates the fetish (the fetish as human) from the object (the human as fetish), is the plane of the mirror.” Mélanie repräsentiert die vollständige Externalisierung des Fetischs von sich selbst und in sein Spiegelbild hinein.
Die implizite Komplizenschaft zwischen Sexualität und Leblosigkeit, die in der Figur Mélanies personifiziert wird und um die es in diesem Kapitel geht, klingt bereits in einem Traum an, in dem die junge Tänzerin ihren Vater mit einem Ingenieur gleichsetzt.
The German stood over the bed watching her. He was Papa, but also a German.
”You must turn over,” he repeated insistently. She was too embarrassed to ask why. Her eyes – which somehow she was able to see, as if she were disembodied and floating above the bed, perhaps somewhere behind the quicksilver of the mirror – her eyes were slanted Oriental: long lashes, spangeled on the upper lids with tiny fragments of gold leaf. [...] The face was turned away. ”To reach between your shoulderblades,” said the German. What does he look for there, she wondered.
”Between my tighs,” she whispered, moving on the bed. [...] The Mélanie in the mirror watched sure fingers move to the center of her back, search, find a small key, which he began to wind.
”I got you in time,” he breathed. ”You would have stopped, had I not...” [...]
She woke up, not screaming, but moaning as if sexually aroused. (401-2)
Obwohl Mélanie den Ort der Berührung durch den Ingenieur vom Rücken zu ihren Genitalien lenken möchte, fühlt sich der Automat, als der Mélanie hier dargestellt wird, bereits durch das mechanische Aufziehen erregt. Die Mechanisierung und damit Entmenschlichung von Sexualität in diesem Traum findet in der Premiere des Theaterstücks eine grausame Entsprechung. ”Adorned with so many combs, bracelets, sequins, she might have become confused in this fetish-world and neglected to add to herself the one inanimate object that would have saved her.” (414) Mélanie stirbt tatsächlich den Tod, den sie lediglich spielen sollte: Sie wird von einer Horde Automaten auf einen Pfahl gespießt. Ironischerweise findet ausgerechnet die Figur, die einem Phallus am nähsten kommt, durch einen ebensolchen den Tod. Erst im Moment des Todes, dem letzten Übergang zwischen der Welt des ”animate” in die des ”inanimate”, zeigt ”the expression on the normally dead face” (414) Spuren von Leben. Die implizite Logik des fatalen Ende des Kapitels wird auch David Seed offenbar: ”Mélanie has been in love with the inanimate and mimicked the animate; it is therefore in a sense only a marginal change for her literally to become a dead object.”
Die Dualität aus Liebe und Tod, die in der abschließenden Szene in der Figur Mélanies vereint wird, taucht zuvor bereits in der Beziehung zwischen V. und Mélanie auf. Das Verhältnis der beiden Frauen, von Porcépic als komplexes ”still-life of love at one of its many extremes” (409) geschildert, ist letztlich nur ”a variation on the Porpentine theme, the Tristan-and-Iseult theme, indeed, according to some, the single melody, banal and exasperating, of all Romanticism since the Middle Ages: ‘the act of love and the act of death are one.’” (410) Erst tot wären beide nicht nur eins mit dem leblosen Universum, sondern auch eins mit sich selbst. Das Liebesspiel auf dem Weg dorthin wird zu einer Nachahmung bewegungsloser Leblosigkeit und hat weit eher symbiotischen als emotionalen Charakter. Schließlich reagieren beide Frauen nur auf ihresgleichen, auf andere leblose Fetische oder Menschen, die sich als solche verkleiden. Dadurch wird Mélanies Verkleidung zu einem ”transvestism not between sexes but between quick and dead; human and fetish.” (410) Mélanie, als reines Fetischprodukt der Fantasie ihres Vaters, kann sich auch nur in ein solches ”verlieben”. Ihr eigenes Spiegelbild und das von Lady V. werden dadurch zum Fetisch eines Fetischs. Alles, was jenseits dieser ”virtual reality” liegt, kann sie nicht berühren. Schon vor Beginn der Beziehung wird V.s ”you are not real” (404) in Bezug auf das Mädchen bestätigt: ”The eyes would not respond. Not with fear, desire, anticipation. Only the Mélanie in the mirror could make them do that.” (404) Gleichermaßen findet sich auch hinter Lady V.s Vorliebe für das Leblose, wie sie in ihrer unübersehbaren Faszination mit Mélanie offenbar wird, eine narzisstische Selbstverliebtheit. ”[Mélanie’s and V.’s] meeting is from the beginning a meeting of two variously defined objects that are mirrored and grafted onto each other.”
Wenn das Verhältnis zwischen V., Mélanie und ihren eigenen Spiegelbildern tatsächlich, wie der Erzähler anmerkt, ”one solution to a most ancient paradox of love: simultaneous sovereignty yet a fusing-together” (409) ist, dann ist diese Lösung ähnlich unbefriedigend wie die wenigen anderen, die Pynchon in V. anbietet (vgl. III.). V.s und Mélanies vereinnahmender Voyeurismus, der das Betrachtete zur Verlängerung der Betrachtenden werden lässt, ist symptomatisch für V.s Verständnis von Zwischenmenschlichkeit und darin auch für Pynchons Auffassung von Intersubjektivität im 20. Jahrhundert. Denn wenn die solipsistischen Charaktere des Romans auch selten wirklich miteinander sprechen, so schauen sie sich doch um so öfter an. Jeder Versuch des zwischenmenschlichen Austauschs bleibt in der Wahrnehmung des Menschen als Objekt stecken. Eine Tendenz, die Tony Tanner auf die Formel ”inside the field of vision, but outside the range of sympathy” bringt, nur um letzteres kritisch zu hinterfragen: ”if such a range exists.” Über die knapp 500 Seiten des Romans tauchen regelmäßig Augen auf, die als ”dead” oder ”blank” charakterisiert werden, finden sich zahlreiche Akteure (Mondaugen, Melanie, ...), die in ihrem Voyeurismus ihrem eigenen Selbst aus dem Weg gehen und der Möglichkeit ausweichen, Liebe zu erfahren.
Doch wenn Liebe nach Pynchon tatsächlich der Weg in die Leblosigkeit ist, wie begegnet man dann dieser Erkenntnis? Pynchon spielt die beiden Möglichkeiten am Beispiel V.s durch:
[S]he might have [...] come to establish eventually so many controls over herself that she became – to Freudian, behaviorist, man of religion, no matter – a purely determined organism, an automaton, constructed, only quaintly, of human flesh. Or by contrast, might have reacted against the above, which we have come to call Puritan, by journeying even deeper into a fetish-country until she became entirely and in reality – not merely as love-game with any Mélanie – an inanimate object of desire. (411)
Beides, der Roboter des Puritanismus und der Fetisch der Psychoanalyse, definieren sich über ”inanimateness”, arbeiten der Entmenschlichung also weiter zu. Im ersten Fall im Wandel vom Subjekt zu einer rein wirtschaftlichen Simulation innerhalb der Gesellschaft, im zweiten im Wandel vom Subjekt zum Fetisch Objekt. In ihrer Verallgemeinbarkeit könnte diese Szene als Grabstein jeglicher Anstrengung gesehen werden, der Infiltration durch die Leblosigkeit mittels Liebe zu entfliehen. Doch lässt V. einige wenige Beispiele zu, die am Erlösungspotential der Humanität festhalten. Diese sollen in Kapitel III. diskutiert werden.
II.4. ‘In / Animateness’ in ausgewählten Romanfiguren
Thomas Pynchons V. lässt im wesentlichen in zwei Textperspektiven unterteilen, die sich gleichzeitig an zwei Hauptfiguren festmachen lassen. Beide Perspektiven treten in alternierenden Kapiteln in den Vorder- bzw. Hintergrund. Während die eine sich auf das Leben und den Umkreis des Ex-Marines Benny Profane konzentriert, folgt die andere den historischen Segmenten, die meist aus der Sicht Herbert Stencil, Sohn des britischen Geheimagenten Sidney Stencil erzählt werden. Dabei sind die räumlichen, zeitlichen und stilistischen Unterschiede beider Perspektiven so eklatant, dass bereits von ”verschiedenen Wirklichkeiten” gesprochen werden kann. So treffen Profane und Stencil, die die beiden Wirklichkeiten beinahe allegorisieren, erst im 13. von 17 Kapiteln direkt aufeinander, leben dann in New York eine Weile nebeneinander her und gehen auf Malta schließlich wieder auseinander, ohne sich merklich beeinflußt zu haben.
Neben den beiden Erzählsträngen, die den Hauptpersonen Benny Profane und Herbert Stencil folgen, existiert jedoch noch ein dritter, der sich überwiegend aus der Stencil’schen Erzählperspektive heraus konstituiert. Lady V., die erst durch Stencils Ausschmückungen der Erzählungen dritter, durch seine ”stencilisations” Kontur annimmt, verbindet die historischen Sequenzen mit der Gegenwart. Als das zentrale Objekt von Stencils Suche, seiner ”epistemological quest”, beherrscht sie seine Rezeption von Wirklichkeit und Geschichte. Gleichwohl weder Stencil noch Profane je in direkten Kontakt mit V. kommen, ja die Existenz letzterer dem erstgenannten nie zweifelsfrei nachgewiesen wird und Profane nicht interessiert, ist die Verbindung der drei Figuren doch eine sehr enge. Ein Zusammenhang, den ein an seiner Lebensaufgabe zweifelnder Stencil auf den Punkt bringt. ”’V.’s is a country of coincidence ruled by a ministry of myth.’” (450) Denn wie im folgenden Kapitel geklärt werden soll, steht ”V.’s country” für die Gesamtheit der westlichen Kultur des 20. Jahrhunderts, auf deren Gegenwartsebene sich Benny Profane, der paradigmatische Schlemihl, in einer Aneinanderkettung von Zufällen bewegt. Herbert Stencil wiederum möchte der Welt der Zufälligkeiten entkommen, indem er ihr die künstliche Ordnung des Mythos überstülpt. ”Profane and Stencil thus come to symbolize two sides of contemporary culture, chaos and order.” Dass Stencil und Profane ungeachtet ihrer Unterschiede zwei Seiten der selben Medaille sind, dass sie sich trotz ihres geringen persönlichen Kontakts und ihrer völlig verschiedenen Lebenskonzeptionen ähnlicher sind, als sie selbst merken, lässt sich gerade anhand einer Untersuchung unter dem Gesichtspunkt der ”inanimateness” belegen. Das folgende Kapitel wird die genannten drei Figuren, Profane, Stencil und Lady V. unter diesem Aspekt untersuchen, weil sie prototypisch für die individuellen Umgehensweisen mit dem alle konfrontierenden Angriff der Leblosigkeit stehen, den Pynchon in der westlichen Welt des 20. Jahrhundert erkennt.
Gleichzeitig wird in diesem Kapitel meine Behauptung der Einleitung gestützt, dass sich die Menschheit auf dem Weg in die Leblosigkeit befindet. Denn während Stencil, der in seiner rückwärtsgerichteten Suche die Vergangenheit verkörpert, zumindest äußerlich einen aktiven und vitalen Eindruck vermittelt, gibt der einzig auf der Gegenwartsebene existierende Profane in vielerlei Hinsicht nicht einmal mehr vor, menschlich zu sein. Lady V., als Bindeglied zwischen historischen Sequenzen und der Gegenwart des Romans, zeichnet die Entwicklungslinie von Dekadenz bis zur Leblosigkeit konsequent nach.
II.4.1. Benny Profane
Der ehemalige Marine Benny Profane steht am extremen Ende der Passivitätsskala. Er hat weder Ziele oder Bedürfnisse, noch stört ihn deren Nichtvorhandensein im Geringsten. Profane übt keinerlei Einfluß auf die ihn umgebenden Geschehnisse aus. Er überlässt sein Leben in einem absurden Mass dem Zufall. Die Falte, die seine abschwellende Erektion in den Stellenangeboten der Times hinterlässt, entscheidet welche Arbeitsvermittlung er aufsucht, und sein unvermitteltes Auftauchen im ersten Satz V.s erscheint ebenso zufällig wie seine Affären mit Frauen. Profane lässt sich treiben im Strom von Menschen, wird eine Zeitlang im Sog ihrer Aktivitäten mitgezogen, bemüht sich jedoch nie um eigene Einflußnahme. Seine Bedürfnisse lassen sich nahezu vollständig auf Ernährungs-, Überlebens- und Sexualtrieb reduzieren. Abgesehen von Angstgefühlen (vor Verantwortung, vor ”inanimate objects” im allgemeinen und davor, eine Maschine zu werden im besonderen) sind Profane Emotionen eben so fremd wie Wissensdurst. Wenn er gegen Ende des Romans ohne Bedauern eingesteht, ”offhand I’d say, I haven’t learned a goddamn thing” (454), weder über sich selbst, noch über andere Menschen oder die Welt, in der er lebt, gibt es keinen Grund, seine Erkenntnis zu bezweifeln. ”Profane is”, wie William Plater es treffend ausdrückt, ”an object amid the chaos of the world, at the mercy of fortune.”
Dabei symbolisiert keine andere Figur in V. die wechselseitige Beziehung zwischen der ”animate world” und der ”inanimate world” besser als Benny Profane, dessen zielloses ”yo-yoing” entlang der Ostküste der Vereinigten Staaten im Winter und Frühjahr 1955/56, entgegen Herbert Stencils vertikal durch die Zeit verlaufender ”V.-quest”, die horizontale, weil durchweg in der zeitlosen Gegenwart stattfindende Hauptachse des Romans darstellt. Zunächst legt Profane eine geradezu panische Angst vor ”inanimate objects” an den Tag. Sie erinnern ihn an das, womit er sich überall konfrontiert sieht und wovor er ängstlich zurückschreckt: Leblosigkeit. Eine nicht unbegründete Furcht, wie die folgende Textstelle verdeutlicht, die gleichzeitig als gutes Beispiel für Pynchons Vorliebe für Slapstick-Komik dient. Hier zeigt sich die Ungeschicklichkeit des Schlemihls Profane, der im Versuch, den Kontakt zu den leblosen Objekten seiner Umgebung zu vermeiden, umso öfter mit ihnen in Konflikt gerät.
He has a problem with the world of objects: he made his way to the washroom of Our Home, tripping over two empty mattresses on route. Cut himself shaving, had trouble extracting the blade and gashed a finger. He took a shower to get rid of the blood. The handles wouldn’t turn. When he finally found a shower that worked, the water came out hot and cold in random patterns. He danced around, yowling and shivering, slipped on a bar of soap and nearly broke his neck. Drying off, he ripped a frayed towel, took ten minutes getting his fly zipped and another fifteen minutes repairing a shoelace which had broken as he was tying it. All the rest of the morning songs were silent cusswords. It wasn’t that he was tired or even notably uncoordinated. Only something that, being a schlemihl, he’d known for years: inanimate objects and he could not live in peace. (37)
Die umgebenden ”inanimate objects” erinnern Profane zu sehr an seine eigene schwache Verankerung in der ”animate world”, als dass er sie nicht als Bedrohung empfinden würde. Schließlich könnte er in seiner amorphen Individualitätslosigkeit, ebenfalls leicht als lebloses Objekt wahrgenommen werden. Die Chancen dazu werden umso größer, je höher der Anteil der Leblosigkeit in seiner Umgebung ist, schwinden doch dadurch gleichzeitig die Vergleichsmöglichkeiten zur lebenden Welt. ”Profane was afraid of land or seascapes like this, where nothing else lived but himself.” (20) Paradoxerweise erwachsen seine rudimentären Spuren der Menschlichkeit aus dieser Angst. Wenn er hofft jemanden zu finden, der ”for once on the right or real side of the TV screen” (359) steht, dann spiegelt sich darin lediglich die Hoffnung auf eine Möglichkeit, sich der eigenen Vitalität zu bestätigen.
Profanes Verhältnis zu der ihn bedrohenden ”annihilation” (vgl. 40) ist ein ausgesprochen ambivalentes. Indem er einem emotionalen Verhältnis zu anderen Menschen kontinuierlich aus dem Weg geht, stellt sich Profane freiwillig in die Reihe der von ihm gefürchteten ”inanimate objects”. Er benutzt seine Bezeichnung als Schlemihl als Schutz vor Bindungen, ”which further reduces his responsiveness towards complete passivity.” Gefühle sind nicht sein Metier, und selbst seine Heimat die Straße, auf der wir ihm erstmals in Norfolk begegnen und auf der wir ihn am Ende des Romans auf Malta auch wieder verlassen, bleibt ihm fremd. Als ”god of a darkened world” (26) zeigt er eine Neigung, die Welt auf einen Zustand der Leblosigkeit reduzieren zu wollen. Eine Eigenschaft, die wie so oft in Pynchons Romanen in einer bezeichnenden Namensgebung offenbar wird und die Harris an zwei Textbeispielen belegt:
His ‘pissing at the sun’ in an attempt to ‘put it out for good and all’ (26) certainly smacks of nihilism, as does his ‘Angel of Death’ routine during which he marks ‘the doors of tomorrow’s victims’ not with blood but with contraceptives, obviously symbols of sterility (29).
Wie so viele andere Mitglieder der Whole Sick Crew, ist auch Benny Profane nicht mehr davon überzeugt, ”that life is the most precious possession you have [...] because [...] without it, you’d be dead.” (12) Unterbewusst bemerkt er die fließende Grenze zwischen dem Leben in der Jetzt-Zeit des Romans und dem Zustand der ”inanimateness”. Im selben Maße, in dem die Unterscheidung zwischen beiden Seiten schwieriger wird, wächst die Tendenz, sich über das jeweils andere zu definieren. Stefan Mettessich erkennt in der Figur Profanes das auffälligste Beispiel dieser Subjektkonstruktion, die mittels der für den Roman zentralen Dialektik aus Leben und Tod vonstatten geht. ”The line between animate and inanimate, nature and culture, human and machine, which is crossed so often throughout, delineates a space in which Pynchon’s characters apprehend themselves in (or as) the mutual determinations of each.”
Anders als Rachel Owlglass mit ihrem MG, als der verrückte Brasilianer Da Conho und seinem Maschinengewehr und anders als die vielen Figuren in V., die in Maschinen verliebt sind, oder – schlimmer – mit eingebauten Schaltern und Drähten selbst zu Maschinen werden, befindet sich Profane in einem Dilemma. Sein Hin- und Hergerissensein zwischen dem Wunsch nach und der Furcht vor ”Inanimateness” offenbart sich unter anderem in seiner Einstellung zu Sexualität: ”Sexual desire, Profane observes, reduces people to the level of objects, inserts them within a machine of imaginary projections and partial objects made to bear the weight and function of an irretrievably lost and full presence. ” Trotz seiner Abgestumpftheit entgeht Profane unterbewusst doch nicht, dass Sex im semantischen System V. irgendwo zwischen Gewalt und Monotonie steht. Ob nun Fina Mendoza, die, nachdem Profane sie abweist, Opfer einer Gruppenvergewaltigung wird, oder Mafia Winsome, die scheinbar keinen Unterschied zwischen Sexual- und Sparringspartnern macht: Profanes - und nicht nur das seine - ”Liebesleben” erstickt nur durch seine Grausamkeit nicht in der maschinenhaften Monotonie. Deshalb versucht Profane, Sexualität so gut es geht aus dem Weg zu gehen.
Es ist die unterschwellige Bedrohung der Monotonie, des Stillstands, die in Pynchons entropiegeprägtem Weltbild stets mit dem (Wärme-) Tod assoziiert ist, die Profane in Bewegung hält. Doch seine Form der Bewegung ist die des Jo-Jos, das selbst wiederum eine Art Maschine ist. Noch dazu eine, die ihrer Bewegung zum Trotz nirgendwo anlangt. ”The limits of [Profane’s] world are determined by the length of the string that binds Profane to his own self.” Dabei parodiert Profanes sinn- und zielloses Auf- und Abfahren an Amerikas Westküste und im New Yorker U-Bahnsystem das Gefühl von Freiheit und Ursprünglichkeit, das Sol Paradise in On The Road aus seinen rastlosen Autofahrten zieht. ”Profane represents an attenuated and lethargic version of Beat mobility reduced absurdly to moving in order to fill the monotony of life.” Denn dass am Ende dieser Strasse des 20. Jahrhunderts, wie Fausto Maijstral in seinen ”confessions” schreibt, ”some sense of home or safety” (323/4) wartet, das nimmt man einem Roman nicht ab, der eben jene Strasse wiederholt als ”Kingdom of Death” (325/330) beschreibt.
Doch nicht die alte Erkenntnis, dass am Ende jeder Strasse unwiderruflich der Tod wartet, macht Profane Angst, sondern die Aussicht, dass eben jene Strasse auf der er sich bewegt und in der sich nach Pynchon das 20. Jahrhundert selbst widerspiegelt, ihn nach und nach auseinandernehmen wird. ”[I]f he kept going down that street,” vermutet er schon sehr früh im Roman, ”not only his ass but also his arms, legs, sponge brain and clock of a heart must be left behind to litter the pavement, be scattered among manhole covers.” (40) Doch als Schlemihl (”Schlemihl’s don’t change” (383)) ändert diese Vorahnung nichts an der Bewegung des menschlichen Jo-Jos Benny Profane. Offenen Auges steuert er seinem eigenen Ende entgegen, das kein natürliches sondern ein kulturelles sein wird. In seiner Emotionslosigkeit, weder fähig zu lieben, zu lernen noch zu einem selbstbestimmten Leben, ist Profane bereits ein gutes Stück auf dieser Strasse unterwegs.
II.4.2. Herbert Stencil
Herbert Stencil ist vielleich die tragischste Figur des Romans. Niemand bekämpft die Infiltration des Lebens durch die Leblosigkeit energischer als er und doch kann er sich ihr nicht entziehen. Sein Rezept gegen diese Durchdringung lässt sich auf eine einfache Formel reduzieren: der Statik der ”inanimateness” ist durch vermehrten Aktivismus zu begegnen. Mittels energischer Beweissuche, versucht Stencil eine Kabale nachzuweisen, in der unzählige Personen und Geschehnisse mit der Identität dessen zu tun haben, was hinter dem Initial V. steht. Dass seine Verschwörungstheorie dabei ”merely a scholarly quest [...], an adventure of the mind” (61) seien könnte, erwägt Stencil zwar, an der Energie, mit der er seiner Aufgabe nachgeht ändert es jedoch nichts. Das ist insofern verständlich, als Stencil um die Schrecken der Statik weiss. Bevor seine Suche nach V., dem Initial das erstmals in einer kryptischen Tagebucheintragung seines Vaters, dem britischen Geheimagenten Sidney Stencil auftaucht, 1945 in einem Café in Oran beginnt, verbringt Stencil seine Tage in einem dämmerigen Zustand des Schlafwandelns. Er versteht Schlaf als ”one of life’s major blessings” (54) und ist damit nicht allzuweit entfernt von Benny Profanes amoebenhaften Dasein. Doch die Erkenntnis, dass der Weg der Statik gleichzeitig auch der Weg der Einsamkeit ist (54) verändert Stencils Leben grundlegend. ”His random movements before the war had given way to a great single movement from inertness to – if not vitality, then at least activity.” (55) Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wechselt Stencil aus einem somnambulen Dasein zu einem überaus aktiven Leben, das er dem Zusammentragen von auch noch so marginalen Informationen widmet. Deren Gesamtbild könnte irgendwann einmal die Identität V.s und seines Vaters ergeben. Stencil wird insofern zum exakten Gegenteil Profanes, als dieser nirgends Regelmäßigkeiten sieht, während Stencil überall Muster entdeckt.
Dabei stellt sich Stencil mit seinem Hang, Verschwörungen zu sehen, nicht das Problem, auf seiner Suche zuwenig Hinweise zu finden. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall. Für Stencil ist alles Hinweis. Jeder kleine Informationsfetzen ergänzt sein scheinbar unendlich großes Puzzle von V. und dem Leben seines Vaters. Stencil versucht sich in den zunehmend höher werdenden Informationswogen, mit denen sich der Mensch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert konfrontiert sieht, zurecht zu finden, indem er sie in das Muster seiner eigenen großen V.-Erzählung einordnet. Für Marshall McLuhan bekommt die in Stencil Fleisch und Blut gewordene Tendenz, den Datenstrom in ein ordnendes Muster zu zwängen, eine überlebenswichtige Dimension. In seinem Vorwort zu einem Buch über Cybernetik schreibt der Kommunikationswissenschaftler: ”The speed-up of information movement creates an environment of ‘information overload’ that demands pattern recognition for human survival.” Dass bereits der erste Versuch Stencils misslingt, aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein umfassenderes Ganzes entstehen zu lassen, demonstriert Pynchons Überzeugung von der Unmöglichkeit der Konstruktion eines solchen schlüssigen Erklärungsmusters, oder, um ein Schlagwort der Postmoderne zu gebrauchen, vom Abschied der Eindeutigkeit. So endet Stencils Fragmentierung in acht ”impersonations” (61) in Kapitel 3 nicht in einem klareren Bild des Lady V.-Vorläufers Victoria Wren, sondern vielmehr ”in acht subjektiven, von verschiedenen Interessen geleitete[n] Sichtweisen.”
Doch selbst wenn Stencil nur dadurch überlebt, dass er in seiner Suche nach V. versucht, der ihn umgebenden Welt eine Sicherheit spendende Ordnung zu verleihen, so macht ihn dies nicht zwangsläufig menschlicher. Ganz im Gegenteil nimmt seine obsessive Jagd menschenverachtende Züge an. Menschen sind für Stencil in erster Linie Informationsträger und darin Mittel zum Zweck. Erst in ihrer potentiellen Nützlichkeit für seine Suche werden sie für Stencil wahrnehmbar. Deutlich wird dies beispielsweise in seinem Abschiedsbrief an Fausto Maijstral, in dem er schreibt: ”Dispose as you will of Profane. I have no further use for any of you.” (452) In seiner Radikalität lässt sich Stencil als Exemplarisierung von Horkheimer und Adornos Kritik an den Kräften der Aufklärung lesen. In Dialektik der Aufklärung schreiben diese: ”Die Aufklärung der neueren Zeit stand von Anbeginn im Zeichen der Radikalität: das unterscheidet sie von jeder früheren Stufe der Entmythologisierung.”
Stencil präsentiert sich als derart besessener Radikal-Aufklärer, dass er vor dem Hintergrund der ihn umgebenden sexuellen Dekadenz als asexueller Puritaner erscheint. Ganz im Gegensatz zur Whole Sick Crew ist Stencil so in seiner V.-Suche gefangen, dass jede nicht-selbstbezogene Emotionalität, jeder Gedanke an Sex hinter seiner großen Aufgabe, das Rätsel der Identität V.s zu lösen, zurücktritt. Deutlich wird dies, wenn Rachel auf Seite 52 Esther ihre Antipathie gegenüber Stencil erklärt: ”’It’s the way he looks at Paola’”, woraufhin der Erzähler kommentiert: ”But it wasn’t sexual, it lay deeper. Paola was Maltese.” Stencils Verlangen nach neuen Steinchen in seinem V.-Puzzel liegt tiefer als jeder Sexualtrieb? Wie bereits im ‘V. in love’-Kapitel ironisiert Pynchon auch hier psychoanalytische Modelle.
So disqualifiziert Pynchon die psychoanalytische Interpretation von Stencils ”V.-quest” als Suche nach seiner eigenen Identität bereits dadurch, dass gerade die Whole Sick Crew diese Vermutung anstrengt, und sie so zu oberflächlichem, pseudo-intellektuellen Geplänkel, zu ’Rusty Spoon talk’ verkommt. Gleichsam lassen Stencils Hang zu ”impersonations”, der bereits im dritten Kapitel deutlich wird und seine Eigenart, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, seine Jagd eher als Produkt einer lächerlichen Paranoia erscheinen, als dass sie in Stencil glaubwürdig ein schizo- oder gar polyphrenes Wesen hervorkehren, das nicht weiß, welches der vielen nun sein wirkliches Selbst ist. Ironischerweise versteigt sich Stencil soweit in seine absurde Suche, dass diese selbst identitätsstiftend wird. Schließlich jagt er nicht mehr sein eigenes Selbst, sondern sein Selbst wird zur Jagd. In dieser Inversion kehrt sich Aktion um in die Stagnation ihrer festgeschriebenen Instrumentalisierung. Die vermeintliche ”animateness” des Suchers wandelt sich durch die Benutzung Stencils durch die (moderne ) Kraft der Suche nach Eindeutigkeit in die ”inanimateness” eines Werkzeugs.
Stencils biographische Angaben legen die Möglichkeit (wenig in diesem Buch kann mehr sein als Möglichkeit) nahe, dass es sich bei seiner Jagd um eine Muttersuche handelt. Dass daraus eine Schwangerschaft V.s von weit über einem Jahr folgte, kann die Leser nicht verunsichern, traut man V. doch problemlos eine Außerkraftsetzung biologischer Regeln zu. In seiner Muttersuche wäre die literarische Figur Herbert Stencil einmal mehr ”century’s child” (52), denn, wie Tony Tanner bemerkt, ist das Gefühl des Verlusts der Zugehörigkeit ein wichtiges Merkmal der Literatur im 20. Jahrhundert. Spinnt man diese Möglichkeit weiter, dann sucht das Kind des Jahrhunderts nicht nur seine leibliche, sonder die Mutter des 20. Jahrhunderts. Abstrakter gesprochen ist Stencil auf der Suche nach dem, was dieses Jahrhundert so schnell in Richtung Weltkriege, Genozid, Atombomben trieb, in Richtung eines Arsenals an Geschehnissen und Erfindungen also, die die Welt näher an ihre eigene Auslöschung führten.
Weil Stencil weiß, dass sein neues, aktives Leben einzig und allein auf der Suche nach V. fußt, ist ihm gleizeitig bewusst, was seine ”animatedness” beenden würde.
Finding her: what then? Only that what love there was to Stencil had become directed entirely inward, towards this acquired sense of animatedness. Having found this, he could hardly release it, it was too dear. To sustain it he had to hunt V.: but if he should find her, where else would there be to go but back into half-consciousness? He tried not to think, therefore, about any end to the search. Approach and avoid. (54)
Ebenso wie Profane befindet sich auch Stencil in einem Dilemma. Er muß weitersuchen, um sich in der jetzigen Form am Leben zu erhalten, doch gleichzeitig darf er nicht erfolgreich sein. Das Finden von V. und das vorzeitige Abbrechen der Suche sind für ihn ”two versions of the same thing” (346). Beides würde den Tod des aktiven, lebenden Stencils bedeuten und gleichzeitig die Wiederauferstehung seines schlafwandelnden, leblosen Vorkriegs-Selbst. Er ahnt die eigentliche Konsequenz seiner Suche: ”Is it really his own extermination he’s after?” (451) Das dies eine rhetorische Frage ist, wird von der Tatsache unterstützt, dass dies die letzten Worte sind die Stencil im Roman spricht.
Um die ursprüngliche These wieder aufzugreifen: die zunächst deutliche Unterscheidung eines ”inanimate” Profane, dessen Leben von Un- und Zufällen bestimmt wird und eines ”animate” Stencils, der sich in seinem unbändigen Aktionismus von einer Verschwörungstheorie leiten lässt, nimmt sich bei näherer Untersuchung weit weniger prägnant aus. Letztlich entfernt sich auch der hyperaktive Stencil immer weiter von einer (zugegebenermaßen abstrakten) Menschlichkeit, je tiefer er in sein selbstkonstruiertes, verschachteltes ”hothouse” der V.-Suche eindringt. Ähnlich wie Profane lebt auch Stencil in einer emotionslosen Welt, deren Egozentrik in den Solipsismus übersteigert wird. Beide haben sehr eingeschränkte Anforderungen an ihre Umgebung. Profane ist mit Bett, Alkohol, Essen und verantwortungslosem Geschlechtsverkehr zufrieden, während Stencil sich mit vagen Indizien für seine Verschwörungstheorie zufrieden gibt. Seine Suche mag vielleicht auf den ersten Blick Menschen wie Fausto Maijstral oder den Psycho-Zahnarzt Eigenvalue faszinieren, doch da Stencil das Ende der Jagd aus gutem Grund vermeidet, steht hinter seiner Suche die gleiche als Aktivität verkleidete Passivität, die sich hinter Profanes ”yoyoing” verbirgt.
II.4.3. Lady V. (et al)
Im Epilog des Romans glaubt Herbert Stencils Vater Sidney zu erkennen, dass ”sometime between 1859 and 1919, the world contracted a disease which no one ever took the trouble to diagnose because the symptoms were too subtle – blending in with the events of history, no different one by one but altogether – fatal.” (461) Diese Krankheit, zu deren Symptomen Krieg und Zerstörung gehören und die sich in einer katalytischen Verstärkung der Metastasen der ”inanimateness” äußert, findet ihre Personifizierung in der Figur der Lady V. und ihren vielfältigen Pseudonymen. In ihrer graduellen Entwicklung, wie Herbert Stencil sie zu erkennen glaubt, wandelt sich V. ”from a woman into a grotesque automaton, tracing the analogous course of Western civilization.” Hanjo Berressem betont diese Analogie weiter: ”[T]he text describes the infiltration of the inanimate as parallel to the growing mechanization of V., who stands metonymically for the growing usurpation of the human and the human body by the various scientific and cultural simulacra.” In Lady V. und all ihren Pseudonymen findet sich die Komprimierung der gesellschaftlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts.
Die Evolution der abstrakten Figur V. lässt sich anhand von verschiedenen Frauenfiguren in sechs historischen Kapiteln des Romans nachzeichnen. Nachfolgend sollen diese in eine chronologische Ordnung gebracht werden. Herbert Stencils Einschätzung bezüglich V.s Wesen (”[...] suspecting V.’s natural habitat to be the state of siege” (62)) bestätigt sich in jedem einzelnen Kapitel, ebenso wie die Vermutung seines Vaters (”Riot was her element” (487)). In all ihren Manifestationen und Verkleidungen steht V. in Verbindung mit Tod und Zerstörung. Erstmals begegnen wir der damals 18jährigen Victoria Wren in Ägypten, zur Zeit der Faschoda Krise. Hier ist Victoria bei der Ermordung des britischen Spions Porpentine behilflich, der den Fehler begeht, sich um Menschen zu sorgen. Sogleich warnt ihn Bongo-Shaftsbury, ein anderer Agent: ”’But someday, Porpentine, I, or another, will catch you off guard. Loving, hating, even showing some absent-minded sympathy. I’ll watch you. The moment you forget yourself enough to admit another’s humanity, see him as a person and not a symbol’”. (81) Charles Harris sieht hier berechtigterweise einen wichtigen Punkt in der Entwicklung Victorias. ”By helping kill Porpentine for the ’crime’ of human sympathy, Victoria begins her own removal from the magnetic chain of human sympathy.” Ein Jahr später, 1899, taucht Victoria als ”self-proclaimed citizen of the world” (166) in Florenz auf, wo sie in die Belagerung der venezulanischen Botschaft verwickelt ist. Zu diesem Zeitpunkt hat die 19jährige Frau bereits ein ausgesprochen unemotionales Verhältnis zum Anblick von Gewalt entwickelt. Zudem zeigt ihre persönliche Säkularisierung eine deutliche Zweckgerichtetheit, indem sie sich von ihren Liebhabern aushalten lässt.
”[S]he had crystallized into a nun-like temperament pushed to its most dangerous extreme. [...] it was as if she felt Christ were her husband and that the marriage’s physical consummation must be achieved through imperfect, mortal versions of himself – of which there had been, to date, four.” (167)
Schließlich erkennt sie selbst die umgekehrte Kongruenz zwischen Moral und Effizienz: ”skill or any virtú [...] became more effective the further divorced it was from moral intention.” (198) Doch die eigentliche Metamorphose zu V. findet erst 1913 in Paris, am Vorabend des ersten Weltkriegs statt, wo sie ihrer eigenen ”progression toward inanimateness” (410) gewahr wird. Während V.s erotischer Beziehung zu Mélanie bemerkt der Erzähler: ”Victoria was being gradually replaced by V.; something entirely different, for which the young century had as yet no name.” (410) Als Mélanie am Ende des Kapitels stirbt, stirbt mit ihr der Mensch Victoria. Sie verschwindet ”from Paris and as far as anyone on the Butte could say from the face of the earth” (414) und wird ersetzt durch die unpersönliche Lady V. Die folgende Begegnung mit V., die diesmal Veronica Manganese heißt, findet während der ”June disturbances” in Valletta im Jahr 1919 statt, wo sie an einem Aufstand gegen die italienische Einflussnahme auf Malta mitwirkt und mit Mussolini kooperiert (473). Dabei offenbart ihr ein Uhrwerk einschliessendes Glassauge bereits die Faszination für die Idee einer mechanischen Simulation des Menschen. Die fünfte Station der Entwicklung von Victoria Wren zu Lady V., zeigt erneut den mit ihrem Erscheinen einhergehenden Belagerungszustand. Als Vera Merowing taucht die 42jährige V. 1922 bei Foppls dekadenter ”siege party” in Deutsch-Südwestafrika auf, wo sie den verwirrten Hugh Godolphin dazu anhält, einheimische Bondel Afrikaner auszupeitschen und darüberhinaus an der Neuinszenierung der Pogrome des grausamen Generals von Trotha von 1904 mitwirkt. Zuletzt erscheint V. als Bad Priest 1943 inmitten des zweiten Weltkriegs während der Luftangriffe auf die maltesische Hauptstadt Valletta. Getroffen von einem niederstürzenden Balken scheint V. hier zu sterben. Mit Sicherheit erfährt dies jedoch weder Stencil noch der Leser.
Sicher ist hingegen, dass V. zu diesem Zeitpunkt den Prozess des ”bodily incorporating little bits of inert matter” (488), der 45 Jahre früher mit einem Elfenbeinkamm begann, der fünf gekreuzigte britische Soldaten zeigt, nahezu abgeschlossen hat. Nachdem eine Gruppe von Kindern beginnt, V. auseinanderzunehmen, ihr Glassauge, ihre Fußprothesen, das Gebiss, die Perücke und einen in den Bauchnabel genähten Saphir entfernen, wäre man nicht überrascht, wenn der die Szene beobachtende Fausto in seiner Vermutung Recht behielte, dass V. vollständig aus künstlichen Teilen besteht.
Surely her arms and breasts could be detached; the skin of her legs peeled away to reveal some intricate understructure of silver openwork. Perhaps the trunk itself contained other wonders: intestines of parti-coloured silk, gay balloon-lungs, a rococo heart. (343)
Analog zur räumlichen Annäherung und schrittweisen Steigerung der Gewalttätigkeiten in Victorias Umgebung (von der kampflos vonstatten gegangenen Faschodakrise, die auf das von Kairo weit entfernt im heutigen Sudan liegende Faschoda konzentriert war, bis zum mitten um sie herum tobenden zweiten Weltkrieg auf Malta) lässt sich also auch eine sukzessive Entwicklung bei V. hin zum Automaten feststellen.
Im Gegensatz zu Stencil und Profane, die beide der ”inanimateness” entgehen wollen, empfängt sie V. mit offenen Armen. Anders als die erstgenannten sieht V. in ihr keine Bedrohung, sondern vielmehr den Weg in die göttliche Unsterblichkeit und vollständige Kontrolle. Damit einher geht eine schrittweise Asexualisierung. Ausgehend von Victoria Wren, die durchaus mit ihren weiblichen Reizen zu kokettieren weiß, kulminiert diese Entwicklung schließlich in ihrer Rolle als Bad Priest auf Malta. Geschlechtliche Unterscheidungen zwischen Mann und Frau (ihr katholisches Umfeld in Valetta geht natürlich von einem männlichen Bad Priest aus) verlieren ihre Bedeutung. Als nihilistischer Priester symbolisiert sie nach der sexuellen (Paris, 1913), politischen (Malta, 1919) und sozialen (Foppl, 1922) Dekadenz nun auch ”religious decadence”. Den Mädchen Valettas rät sie ”[to] avoid the sensual extremes – pleasure of intercourse, pain of childbirth” (340) indem sie ein Leben im Kloster führen. Die Jungen lehrt sie, Stärke im Stein ihrer Heimatinsel zu finden. Des Steins seelenlose Schönheit soll ihr Ideal werden, so wie die seelenlosen leblosen Objekte, mit denen V. ihren Körper auskleidet, zu ihrem Ideal geworden sind. Father Avalanche, zu dieser Zeit ebenfalls Priester in Valletta, sieht darin den blasphemischen Versuch V.s, sich auf eine Stufe mit ihrer eigenen Definition von Gott zu stellen.
”God is soulless?” speculated Father Avalanche. ”Having created souls, He Himself has none? So that to be like God we must allow to be eroded the soul in ourselves. Seek mineral symmetry, for here is eternal life: the immortality of rock. Plausible. But apostasy.” (340)
Der religiöse Aspekt in V.s Biographie hat einen frühen Ursprung. Als Victoria Wren besuchte sie in jungen Jahren einige Wochen eine Klosterschule mit der Absicht Nonne zu werden, verlässt diese jedoch nach kurzer Zeit wieder. Unfähig den Wettbewerb zwischen den Nonnen und anderen Klosterschülerinnen um Gottes Sohn und damit die Teilung der Macht zu ertragen, entwickelt sie ihre eigene Form der Religion. Diese basiert auf ihrer Vorstellung, dass ein imperialistischer Gott einen ”aboriginal Satan” (73) bekämpft. Das darin implizierte Bild eines natürlichen (”aboriginal”) Bösen, das durch das Künstliche unterdrückt und gereinigt werden muß, wird spätestens während des Genozids an den Hereros als Hybris enttarnt. Dennoch erhebt V. diese Erkenntnis zur Maxime ihres Handelns. In ihrem ”cult of power and control” wird das Natürliche ihres Körpers sukzessive ersetzt durch künstliche ”inanimate objects”.
Dabei wird V. jedoch nicht zum Antichristen, sondern zur Personifizierung der Gleichzeitigkeit der christlichen Pole aus ewigem Leben und ewigem Tod. Im gleichen Maße wie der Anteil artifizieller Prothesen in V.s Körper steigt, nähert sie sich ihren Zielen der Unsterblichkeit und vollständigen Kontrolle an. Als Fausto Maijstral 1943 den nackten Körper der 63jährigen V. sieht, beschreibt er ihn als ”surprisingly young” (343). Gleichzeitig schwindet mit jeder neuen Prothese jedoch auch ein Stück Menschlichkeit aus V. Wenn also Josephine Hendin damit Recht hat, dass Pynchon in V. ”dared to say that what his generation required was salvation from death and life”, dann verkörpert Lady V. eine mögliche, wenn auch nicht unbedingt wünschenswerte Form der ”Erlösung”.
Vielleicht ist V. nicht, wie Hendin schreibt, ”vulnerability conquered”, schließlich deutet alles darauf hin, dass sie in Valetta, von einem Balken eingeklemmt, mit einer Bauchverletzung stirbt. Dennoch hat sie ihre Verletzbarkeit in physischer wie psychischer Hinsicht soweit reduziert, dass die Bezeichnung als ”Queen of the Inanimate” durchaus gerechtfertigt ist. V. ist die erschreckende Vision dessen, zu was eine Welt voller in Autos oder Zahnprothesen verliebter Rachels und Eigenvalues werden kann. Sie ist Abbild dafür, wie eine Steigerung der Loslösung aus emotionalen Zusammenhängen, demonstriert durch die Whole Sick Crew, aussehen könnte. Hinter V. steht die nächste Stufe der von Pynchon diagnostizierten Dekadenz unserer Zeit. V. ist ”a symptom of the direction of the twentieth century which is still at the decadent stage but is moving toward the inanimate.”
III. ‘Death-Struction’:
Überlebensstrategien in einer Welt der ’inanimateness’
Wie in nahezu all seinen Geschichten, so versucht Pynchon auch in V. jene Kräfte und Strukturen aus Wirtschaft, Technologie, Politik, Psychologie und Kultur zu skizzieren, die die Welt in ihren jetzigen Zustand gebracht haben. Darüberhinaus untersucht er jedoch auch die Arten menschlichen Lebens, die daraus erwachsen. Seine Prognosen in V. nehmen sich dabei düster aus. Sie alternieren lediglich zwischen den Optionen einer schnellen und einer langsamen Apokalypse. Wenn Fausto Maijstral von ”slow apocalypse” (316) spricht, meint er damit das entropische Treiben der westlichen Zivilisation von Dekadenz hin zu einem Zustand der Leblosigkeit, in dem der Mensch schließlich zum ”subject to the laws of physics” (321) wird. Während Pynchon diese Alternative in den Figuren Fausto oder Mehemet (460) recht vernünftig ausarbeitet, so werden Beispiele für schnelle Apokalypse nicht mit vergleichbarer Ernsthaftigkeit dargestellt. Ein Beispiel dafür ist die unpersönliche, bürokratische Navy, die scheinbar aus Kostengründen beschließt, ”to remove all of Ploy’s teeth. [...] On waking up, Ploy saw apocalypse”. (3) Hinter der Übersteigerung von Autorität ins Groteske findet sich hier im Kleinen eine der Hauptfragen, die der Roman stellt: Gibt es unmenschliche, anonyme und verschwörerische Kräfte, die es darauf anlegen, Individualität durch ”inanimateness” zu ersetzen?
Obwohl V. diese ominösen Kräfte zu keiner Zeit explizit benennt, wird ihr Erfolg doch nie abgestritten. Dabei erzeugen ”the inroads that the animate and the inanimate are making into one another’s realms” und die dafür sorgen, dass ”the alive are not so alive, but the dead seem to be taking on a life of their own” ganz unterschiedliche Reaktionen. Ihre Gesamtheit stellt eine weitere zentrale Frage des Romans: Wie ist dem Angriff der ”inanimateness” zu begegnen? Von den individuellen Antworten, die viele Figuren in V. auf diese Frage entwickelt haben, und ihrer Effektivität soll dieses Kapitel handeln.
Auf der historischen Ebene beschreibt Hugh Godolphin die unter II.2. erläuterte Möglichkeit, dem Angriff der Leblosigkeit, dem Nichts, eine vom Menschen selbsterschaffene Bilderwelt entgegenzustellen. Im Epilog des Romans erhält der Forscher Unterstützung durch den mittelalterlichen Seefahrer Mehemet, der das Bild eines Seemanns beschreibt, der alleine bei Einbruch der Dunkelheit den Rumpf eines sinkenden Schiffs streicht. Ein Bild mit einer klaren Aussage. Wir - und es ist ein leichtes, sich dieses ”wir” durch Pynchon von der Gesamtheit der Handlungstragenden in V. auf die Gesamtheit der Leser des Romans ausgeweitet vorzustellen - beschäftigen uns mit der Konstruktion eigener Lebenswelten, die wiederum vom Sinken unserer ziel- und führungslos dahintaumelnden Welt ablenken sollen. Als eine der wenigen Figuren kann Mehemet in seinem fröhlich Ausspruch ”the only change is towards death” (460) das benennen, was das Gros der Figuren nur unterschwellig spürt: all die Konstruktionen und Projektionen, mit denen wir das kalte Nichts zu über – leben versuchen, sind letztlich doch nur weitere ”infiltrations of that death we think we are so eager to postpone. They represent an avoidance of reality, by substituting for it a fetishistic construction.” Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren des Romans sieht Mehemet sehr deutlich, dass der Mensch den Tod zum Leben braucht und gleichzeitig nur lebt, um zu sterben. Im Kontext der Unterhaltung zwischen Mehemet und Sidney Stencil (459ff) ist es naheliegend, dies nicht auf der (selbstverständlichen) individuellen Ebene zu verstehen, sondern im übertragenden Sinne auf die von Stencil senior diagnostizierte gesellschaftliche Entwicklung in V. Dabei hat das Bild einer korrodierenden Gesellschaft für Mehemet nichts bedrohliches:
”Is old age a disease?” Mehemet asked. ”The body slows down, machines wear out, planets falter and loop, sun and stars gutter and smoke. Why say a disease? Only to bring it down to a size you can look at and feel comfortable?”
”Because we do paint the side of some Peri or other, don’t we. We call it society. A new coat of paint; don’t you see? She can’t change her own color.” (461)
Darin spricht Mehemt gelassen aus, was auch Norbert Wiener, der wie bereits erwähnt einen deutlichen Einfluss auf Pynchon hatte, erkennt. Anstatt ob des scheinbar unausweichlichen Zerfalls der Gesellschaft in fatalistischen Pessimusmus zu versinken und menschliche Werte zu Gunsten von Dekadenz und Leblosigkeit zu opfern, gilt es für die Figuren V.s, vielmehr auch angesichts des drohenden gesellschaftlichen Untergangs, humanistische Werte aufrechtzuerhalten.
In a very real sense we are shipwrecked passengers on a doomed planet. Yet even in a shipwreck, human decencies and human values do not necessarily vanish, and we must make the most of them. We shall go down, but let it be in a manner to which we may look forward as worthy of our dignity.
Dadurch würde V.s Eschatologie zwar nicht vermeidbar, aber zumindest menschlicher werden. In seiner V.-Welt lässt Pynchon letztlich den Soziologe Michael Harrington Recht behalten, der 1965 von unserer Epoche als ”Accidental Century” sprach und über den Zusammenhang von Tod und Zivilisation mit den Worten des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler schreibt: ”’As death comes after life,’ Spengler prophesised, ‘civilization is the inevitable destiny of culture.’ For him, and for many others, this formula meant the triumph of a mechanized, rootless existence (‘civilisation’) over the rich organic life (‘culture’).”
Dass es soweit kommen konnte, so die unausgesprochene These des Malers Slab, ist allein der menschlichen Kurzsichtigkeit verschuldet. Während er Esther das Motiv zum 35. Teil seiner ”Cheese Danish” Serie erklärt, allegorisiert der katatonische Expressionist so offensichtlich, dass auch Esther ahnt, was hinter seiner Thematik steckt.
”The beauty is that it works like a machine yet is animate. The partridge eats pears off the tree, and his droppings in turn nourish the tree which grows higher and higher, every day lifting the partridge up and at the same time assuring him of a continuous supply of food. It is perpetual motion, except for one thing.” He pointed out a gargoyle with sharp fangs near the top of the picture. The point of the largest fang lay on an imaginary line projected parallel to the axis of the tree and drawn through the head of the bird. ”it could as well have been a low-flying airplane or high-tension wire,” Slab said. ”But someday that bird will be impaled on the gargoyle’s teeth just like the poor cheese Danish is already on the telephone pole.” (282)
Wenn Esther fragt, warum das Rebhuhn nicht vor der drohenden Aufspießung davonfliegt, antwortet Slab: ”’He is too stupid. He used to know how to fly once, but he’s forgotten.’” (283) Wie das Rebhuhn, so ist auch der Mensch zu Vitalität und Humanität in der Lage, er hat das Potential zur Belebtheit. Doch er hat sich selbst erlaubt, soweit in die Dekadenz und die daran anschließende Leblosigkeit zu sinken, dass ihm die Möglichkeiten einer Umkehrung der begonnenen Entwicklung nicht mehr in den Sinn kommt, oder, schlimmer, er diese Möglichkeut schlichtweg verlernt hat. Stattdessen werden weitere Bilder entwickelt, die ”inanimateness” als ”animateness” verkaufen wollen und die ich deshalb ”Death-Struction” genannt habe. Zwei Version davon finden sich in Herbert Stencil und Benny Profane.
Wie bereits unter II.4.2. angedeutet wurde, ist V. für Herbert Stencil gleichzeitig Erlösung und Verurteilung. In seiner Suche nach dem Initial versucht er dem Informationschaos mit dem ihn die Welt konfrontiert, eine Ordnung zu geben. Schließlich kennt auch Stencil ”life’s single lesson: that there is more accident to it than a man can ever admit to in a lifetime and stay sane.” (321) Doch weil sein Bewusstsein, um in den Kategorien Lukács zu sprechen, ”schmäler” als die umgebende Welt ist, wird der vermeintliche Schlüssel aus dem Irrgarten der Informationen zum Eingang in ein noch unüberschaubareres Labyrinth aus vagen ”hints” und ”leads”. In einer Welt wie Stencils, in der alles Hinweis ist, ist nichts Hinweis. Was bleibt ist Bewegung als Selbstzweck. Nicht die finale Entdeckung, sondern vielmehr ihr kontinuierliches Hinauszögern ist der Sinn seiner V.-Suche. Nur so kann er die letzte Konsequenz der Erkenntnis vermeiden, die er selbst vermutet: ”that motion is meaningless but that stasis is death.” Der Weg als Ziel bekommt in seinem Fall eine vitale Bedeutung. Deshalb entwickelt Stencil seine eigene fiktive Version der ”Death-Struction”. Er ummantelt seinen Tod mit einer selbstkonstruierten Legierung der Aktivität, die diesen jedoch letztlich erhärtet anstatt ihn abzuwehren.
Wer in der Lage ist, sich zwischen sinnloser Bewegung und statischem Tod zu entscheiden, würde sich der auf und unter den Strassen New Yorks jojoenden Whole Sick Crew anschließen. Doch birgt diese Wahl das Schicksal eines SHROUD und SHOCK in sich: Beide sind nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig. Dahinter steht Pynchons typische ’Catch-22’-Ironie: oft verstärken die Möglichkeiten, die benutzt werden, um einen Zustand zu verlassen, eben diesen Zustand weiter. So wie Benny Profane aus Furcht vor der leblosen Statik zum fremdbestimmten U-Bahn Jo-Jo wird, so versucht Herbert Stencil seinem früheren Leben als Tagträumer mit seiner V.-Suche zu entkommen. Doch letztlich spielen beide den entropischen Kräften in die Hände. So erkennt Stencil in Profanes Erlösungsversuch vor der Bedrohung durch die ”inanimate world”, in seinem Pendeln in New Yorks U-Bahn-System, das genaue Gegenteil dessen: ”Was it the Dance of Death brought up to date?” (303) Stencils manische V.-Suche hingegen, deren einziges Ziel es ist, ihn vor der Rückkehr in sein vorheriges objekthaftes Dasein zu bewahren, ”proves to represent, if any one thing, the urge to become inanimate.” Man könnte meinen, beide Figuren, wären zur Veranschaulichung des folgenden Tolstoy-Zitats entwickelt worden:
The truth was that life was meaningless. Every day of life, every step in it, brought me, as it were, nearer the percipice, and I saw clearly that before me there was nothing but ruin. And to stop was impossible; to go back was impossible; and it was impossible to shut my eyes so as not to see that there was nothing before me but suffering and actual death, absolute annihilation.
Eine der wenigen Figuren der Gegenwartsebene des Romans, die zumindest versucht, Fausto Maijstrals Erkenntniss, der ”need to care” (324), umzusetzen und damit der ”inanimateness” etwas entgegenzusetzen, ist der afroamerikanische Jazzmusiker McClintic Sphere. Er beschreibt menschliches Verhalten in einer Theorie des Flip/Flop. Dass dieses System dabei dem Binärcode aus Nullen und Einsen ähnelt, mit dem Computer operieren, stützt einmal mehr SHROUDs These, dass Mensch und Maschine zunehmend ähnlicher werden.
[Sphere] had found out from his sound man about a two-triode circuit called flip-flop, which when it was turned on could be one of two ways, depending on which tube was conducting and which was cut off: set or reset, flip or flop.
‘And that’, the man said, ‘can be yes or no, or one and zero. And that is what you might call one of the basic units, or specialized ‘cells’ in a big ‘electronic brain’.
‘Crazy’, said McClintic, having lost him back there someplace. But one thing that did occur to him was if a computer’s brain could go flip and flop, why so could a musician’s. (293)
Doch sieht Sphere diesen Dualismus nicht als dialektischen Teil einer Epistemologie, sondern als bedrohenden Extremismus. Während er ”flipping” mit dem Wahnsinn des zweiten Weltkriegs assoziiert, steht ”flopping” für Sphere für einen emotionslosen Zustand in dem es ”no love, no hate, no worries, no excitement” (293) gibt. Um diese Extreme zu vermeiden, schlägt er ein laxes ”keep cool, but care” vor. Obwohl die Maxime des ”authentically positive character” Sphere mehr Verantwortungsbe-wußtsein demonstriert, als das Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Handlungstragenden auch nur andeutet, kann sie nicht als Ersatz für deren emotionale Vermeidungsstrategien herhalten. ”You cannot render great emotions in a comic-strip,” bemerkt dann auch Tony Tanner. ”‘Keep cool, but care’ is just such bubble talk or the sort of slogan-jargon mongered by advertisements.” Bezeichnenderweise wird Spheres Slogan auf Seite 369 von der Maschine SHROUD aufgegriffen. Doch später entwickelt der Musiker eine elaboriertere Version seiner Maxime, und erkennt, dass ”the only way clear of this cool/crazy flip/flop was obviously slow, frustrating and hard work. Love with your mouth shut, help without breaking your ass or publicising it” (365/6). Anstatt, wie soviele V.-Figuren, passiv auf einen allmächtigen Erlöser zu warten, realisiert Sphere hier, dass ein Ausweg nur in der individuellen Anstrengung liegen kann.
Eine Möglichkeit dazu stellt Liebe dar. Selbst wenn Josephine Hendin in ihrer Ansicht Recht hat, ”[Pynchon] wrote about people who knew that love could not diminish suffering because it was love that produced half the anguish there was”, so lässt der Autor inmitten des Angriffs der Leblosigkeit dennoch Beispiele für menschliche Zuneigung und Liebe erkennen. Beides mag angesichts der überwiegenden emotionalen Dekadenz irrational erscheinen, doch lässt andererseits die Existenz solcher Beispiele im Meer egomanischer Selbstverliebtheit und Gefühlslosigkeit, die Möglichkeit von Liebe als Widerstand weiter bestehen. Neben dem besorgten Spion Porpentine und Rachel Owlglass, die trotz der Zuneigung zu ihrem Auto später als ”’a good woman, member of a vanishing race’” (50) beschrieben wird, lässt sich als deutlichstes Beispiel hierfür Paola Maijstral, die Tochter von Fausto und Elena Maijstral anführen. Paola ist eine der wenigen Figuren V.s die tatsächlich zu Liebe fähig ist, und als solche vermag Paola ansatzweise eine Alternative zu jenem System aufzuweisen, das seine Bestandteile nach und nach ihrer Menschlichkeit beraubt. Indem Paola Spheres laxes Motto überzeugend lebt, wird sie zu einer ”figure of salvation”. Dabei ist es naheliegend, Paola, eines der maltesischen Kinder, das an der ”disassambly” des Bad Priest beteiligt war (Paola behält V.s Elfenbeinkamm), als Gegenpol zur personifizierten ”inanimateness” Lady V.s zu verstehen. Robert Newman sieht in dieser Szene sogar ”the possibility of a rebirth of humanistic myth through Paola.”
V.s sukzessiver Abstieg in die Leblosigkeit, spiegelt sich wider in Paolas schrittweisem Aufstieg in Regionen menschlichen Zusammenlebens, in denen Humanismus wieder möglich ist. V. seint die Bedrohung zu ahnen, die von Paola für ihr Lebenswerk ausgeht. Als Bad Priest rät sie Elena zur Abtreibung des Kinds. Doch Paola wird geboren und stellt, wie William Plater überzeugend argumentiert, ”a humanized reconciliation of dualities” dar. So wird sie trotz unterschiedlicher Erscheinungsweisen das was ihr Vater sich für sie erhofft: ”one girl: a single given heart, a whole mind at peace”. (314) In ihren unterschiedlichen Identitäten kann Paola Hure und doch eine gute Ehefrau sein, weil es ihr gelingt, sich der Entmenschlichung zu entziehen. Zunächst räumlich, indem sie sich aus dem Einflußbereich der Whole Sick Crew löst und nach Harlem zu McClintic Sphere zieht. Doch auch sprachlich entkommt Paola der Welt der Dinge. ”The girl lived proper nouns. Persons, places. No things. Had anyone told her about things?” (51) Anders als die ebenfalls in ”proper nouns” sprechende Whole Sick Crew, ist die Limitierung des Vokabulars bei Paola kein Zeichen von Dekadenz, sondern ein Schutz gegen die Infiltration durch die ”inanimateness”. ”In a world in which the human is rapidly being replaced by things, this quaint linguistic limitation offers the possibility of an enviable immunity from the tendency towards a reification of people which is inherent in the prevailing language.” Schließlich, und das ist der entscheidende Unterschied zwischen ihr und dem Rest der Figuren in V., gelingt Paola durch die Aneignung von Spheres ”keep cool, but care”-Motto, die Auflösung der Polarität zwischen Gleichgültigkeit und Fanatismus, zwischen ”flip” und ”flop”, dem man im Roman so häufig begegnet. Dadurch wird Paola, wie Kritiker wie Robert Newman bemerkt haben, zur einzigen Figur des Romans, die die Rolle des Paraklet erfüllen könnte.
Dabei mag die Tatsache, dass Thomas Pynchon, als ein Vertreter der literarischen Postmoderne, seiner überwiegend pessimistischen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Liebe den wohl klassischsten Weg der Erlösung eröffnet, zunächst als Ironisierung dieser interpretiert werden. Dass Pynchon diesen Ausweg jedoch durchaus ernst meint, beweist bereits die Tatsache, dass Paola, trotz ihrer marginalen Rolle innerhalb des Romans, eine der am vollständigsten entwickelten Figuren V.s darstellt.
Es erfordert jedoch eine aufmerksame Lesart, um den spärlichen Hoffnungsschimmern im finsteren Kulturpessimismus V.s gewahr zu werden. Dabei ist auffällig, dass alle Figuren (Stencil, V., Godolphin, McClintic-Sphere, Paola, Rachel), die versuchen, aktiv in ihre Lebensumstände einzugreifen, dies mit einer Vision tun. Dabei muß freilich zwischen einer Vision, wie sie Paola in ihrem Glauben personifiziert, dass Humanismus noch möglich ist, und der ”anti-vision” V.s oder Stencils, unterschieden werden. Letztere führen mit Zielen wie ”annihilation” (V.) oder ”approach and avoid” (Stencil) tiefer in die dekandente Leblosigkeit. In diese Richtung bewegen sich auch die zahlreichen Figuren ohne Vision.
Unterstellt man nun ein konstruktivistisches Bild der Realität, wie es Richard Lehan im Hinblick auf die Vheissu-Thematik tut, wenn er schreibt ”all reality, wether it be good or evil, is first a state of mind”, und wie es auch dieses Kapitel mit dem Neologismus der ”Death-Struction” tut, so entpuppt sich das Problem unserer Zeit, wie V. es darstellt, als die Unfähigkeit des Menschen, lebensbejahende Utopien zu konstruieren. Während ein Großteil der wenigen Utopien in egozentrischem Solipsismus (Herbert Stencil) oder nihilistischer Destruktion (V.) enden, gelingt es der weit größeren Gruppe der Lethargiker (The Whole Sick Crew) nicht einmal, eine dieser beiden Versionen zu denken, geschweige denn eine zu entwickeln, die Hoffnung spenden könnte. Figuren wie Rachel und Paola, denen dies zeitweise gelingt, spielen hingegen innerhalb V.s eine zu marginale Rolle, um darin mehr als die Andeutung einer Erlösung erkennen zu lassen. So bleibt V. letztlich Pynchons pessimistischster Roman, der dem Weg des 20. Jahrhunderts von der Dekadenz in den selbstkonstruierten Tod, die ”Death-Struction”, nur sehr wenig entgegenzusetzen hat.
IV. Epilog
Ein umfassendes Thema, wie das der ”inanimateness” in V., kann im begrenzten Rahmen einer Examensarbeit nicht erschöpfend behandelt werden. Eine zwangsläufige Vorauswahl der zu untersuchenden Aspekte ließ einige ganz außen vor, während andere nur peripher erwähnt wurden. In der Überzeugung, den Beweis meiner einleitenden These auf den vorangegangenen Seiten bereits ausreichend geführt zu haben, möchte ich diesen abschließenden Teil nicht zu einer komprimierten Rekapitulation und ihren zwangsläufigen Wiederholungen nutzen, sondern will stattdessen zwei Punkte nennen, die in dieser Arbeit absichtlich nicht oder nur teilweise behandelt wurden, die ihr unter anderem Prämissen jedoch eine andere Qualität verliehen hätten. Daran anschließend möchte ich fragen, wie erfolgreich Thomas Pynchon in V. bei der Vermittlung seiner eigenen These von einer gesellschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert in Richtung Leblosigkeit gewesen ist.
Ein Punkt, der in dieser Arbeit nicht weiter untersucht wurde, ist, in wieweit man sich auch als Leser selbst in die Welt der fremdbestimmten Objekthaftigkeit begibt, von der V. berichtet. Machen Pynchons vielfältigen Interdependenzen zwischen Personen und Geschehnissen, die teilweise (wie das Treffen zwischen V. und Sidney Stencil auf Malta 1919) nur uns Lesern, jedoch nicht den Romanfiguren offenbar werden, die Leser nicht zum Spielball seiner ”leads”? Wo jedes Wort, das mit dem Buchstaben V beginnt - Victoria, Venezuela, Veronica, Victory, Vheissu, Valetta etc. pp. - für die Leser ebenso zu dem gesuchten V. wird wie für Herbert Stencil, steht V. schließlich für alles und dadurch gleichzeitig für nichts. Stencil selbst bemerkt an einer Stelle, dass ”V. by this time was a remarkably scattered concept”. (389) Eine Vorstellung, die das Verständnis des Lesers als Tourist, der durch die zahllosen und dadurch letztlich bedeutungsleeren V.s des Romans reist, bestärkt. ”The reader himself becomes a tourist through a collection of words, his Baedecker guide an exercise in narrative point of view. In the case of V., his experience of the past is stencilised and his communion with the present is profaned,” schreibt Robert Newman in Anspielung auf die gewollt subjektive Warnehmung von Realität, mit der uns die jeweilige Erzählperspektive konfrontiert.
Was diesen Punkt vor gleichsam übergangenen (die Instrumentalisierung der Frau etwa) bedeutsam macht, ist die neue Qualität, die er der Lesart des Romans als ’quest novel’ verleiht. Neben der einem Buch wesentlichen Interaktion zwischen Autor und Leser, wird der Rezeptionsprozeß in V. ungewöhnlich übersteigert. Es findet nahezu keine Identifikation mit einzelnen Figuren statt (dazu sind die meisten zu schwach ausgearbeitet und ihre Lebensumstände zu absurd), sondern die Leser partizipieren durch die nur ihnen zugänglichen und nur von ihnen verknüpfbaren Informationen an der Entwicklung des Romans. Dessen Thema, die schrittweise Übernahme der Welt durch ”inanimateness”, nähern sich auch die radikal involvierten Leser immer weiter an, je tiefer sie in die kabalistische Struktur V.s eingedringen. Dadurch übersteigt V. die Interaktionsebene konventioneller Roman/Leser-Konstellationen und verhilft dieser zu einer Verselbständigung.
Der zweite hier zu nennende Aspekt, unterscheidet sich bereits dadurch von Unterpunkten in dem Sinne in dem Tourismus und Sexualität Unterpunkte waren, als es sich vielmehr um eine eigene Lesart für den Roman handelt. Diese Deutungsweise erwächst aus Pynchons physikalischer Vorbildung und orientiert sich am thermodynamischen Prinzip der Entropie. Die universelle Gültigkeit dieses Prinzips betont, was auch die vorangegangenen Seiten bereits gezeigt haben sollten: ”inanimatness” wird weit über die individuelle Ebene hinaus zu einer übergreifenden Zustandsbeschreibung des 20. Jahrhunderts. Pynchons ”entropic vision” folgend, droht nicht nur der Tod des Menschen, sondern der Wärmetod des gesamten (geschlossenen Systems) Universum steht bevor. Dieser Wärmetod zeigt sich, und auch hier ist es egal, ob wir soziale, biologische oder physikalische Systeme betrachten, im Verlust jeglicher Distinktionsmöglichkeiten. Am Ende steht eine ununterscheidbare Gleichheit in Form und Energie. Beides zeigt sich deutlich am Beispiel der Whole Sick Crew, doch auch weitere Belege sind schnell gefunden. Wie Harris bemerkt, ist die komplexe Erzählstruktur des Romans selbst ein Belegt für die zentrale Rolle, die Entropie in V. spielt. ”This metaphor [entropy] merges so completely with events in the novel that form and theme finally become inextricable.”
Eine Betrachtung der ”inanimateness”-Thematik durch die Brille der Entropie, wie sie sich inhaltlich durchaus (und sehr viel eher als etwa die psychologisch oder historische Perspektive) angeboten hätte, hätte jedoch eine grundlegend naturwissenschaftlichere Ausrichtung dieser Arbeit erfordert. Eine Prämisse, die mit den begrenzten physikalischen und thermodynamischen Kenntnissen des Autors nicht zu erfüllen gewesen wäre.
Nach der Erwähnung zweier bewusst ausgelassener Entwicklungen dieser Arbeit, sei an dieser Stelle noch die Frage erlaubt, wie erfolgreich es Thomas Pynchon in V. gelingt, im Rahmen seiner Thematik nicht als der ”old-fashioned moralist” zu wirken, als den ihn etwa David Seed entlarvt zu haben glaubt. Natürlich hat Seed Recht, wenn er bemerkt, dass sich hinter Pynchons grotesken Humor oft eine deutliche Wertung verbirgt. Roony Winsomes Selbstmordversuch (362) ist jenseits des Slapstick-Gehalts der Szene durchaus ernst gemeint. Inmitten der omnipräsenten ”sickness” der Whole Sick Crew, erscheint Selbstmord für Roony tatsächlich als einzig gesunder Ausweg. Die schmerzhaft realistische Szene von Esthers Nasenoperation andererseits, wächst aus der latent spürbaren Überzeugung Pynchons, dass individuelle Schönheit nicht einem medialen Idealtypus geopfert werden darf. Derartige Beispiele für eine Moral des Autors finden sich sich zuhauf hinter V.s dicker Schicht aus Sarkasmus und Zynismus. Doch bleiben diese Wertungen Pynchons immer weit genug im Hintergrund, als dass sich daraus ein moralischer Auftrag ableiten ließe, wie er beispielsweise in den Romanen Kurt Vonneguts offensichtlich ist. So wertet Pynchon zwar durchaus, vermeidet in seiner Subtilität jedoch ein offensichtliches Moralisieren.
Bedeutender für eine Beurteilung des Erfolg des Romans in der Vermittlung seiner These ist jedoch die Tatsache, dass V. auch 36 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ein zeitgemäßer Roman geblieben ist. Der Hauptgrund dafür ist, dass die gesellschaftliche Entwicklung seither viele der überspitzteren Szenen des Romans als inhaltlich zutreffende Sozialvisionen verifiziert hat. Dadurch muß V. formell noch immer als absurder Roman verstanden werden, während sich das Buch inhaltlich in der Zeit nach seiner Veröffentlichung mehr und mehr zu einem realistischen Roman gewandelt hat. Seine Themen: die Suche nach Identität, wie sie uns von Stencil vorgelebt wird, das Bedürfniss nach Liebe und die gleichzeitig zunehmende Unfähigkeit dazu, wie man sie an Profane festmachen kann, oder - verallgemeinert - das in dieser Arbeit themastisierte Abgleiten der Gesellschaft in eine stetig zunehmende Dekadenz, die schließlich in missglückten Versuchen der selbstkonstruierten Revitalisierung endet: sie alle haben in den letzten 36 Jahren eher an Relevanz gewonnen als eingebüßt. War (ist?) Douglas Couplands Generation X, die ”Slacker”-Generation der 90er Jahre, nicht ebenso antriebs- und utopielos, hedonistisch und ohne Perspektiven wie die Whole Sick Crew? Diagnostizieren nicht Theoretiker wie Paul Virilio seit Jahren die anästhetisierende Wirkung von Geschwindigkeit, der eine immer schneller werdende Gesellschaft unterworfen ist? Wenn Virilio von Flughafenstädten als ”Orte der Ausscheidung” spricht, ”die man benutzt, um in einem Bogen, leer vom beschleunigtem Umherirren, wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren”, dann erinnert das frappant an die Bewegung des menschlichen Jo-Jos Benny Profane. Wahlweise ließe sich auch der Party-Zyklus der Whole Sick Crew einsetzen. So lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass V.s Themen und Problematiken nach wie vor sowohl Teil einer theoretischen Agenda, als auch Teil gegenwärtiger Lebensrealitäten sind.
Dass Pynchon dabei keine über die individuelle Ebene hinausgehende Alternative zu seiner Auffassung von gesellschaftlicher Entwicklung als ”a dream of annihilation” (206) parat hält, lese ich im Gegensatz zu Eva Manske nicht als Manko des Romans. Vielmehr ist es ein Beweis für V.s Weitsichtigkeit. Bei aller Phrasenhaftigkeit seines ”keep cool, but care”-Slogans, behält McClintic Sphere doch insofern recht, als es ganz offensichtlich tatsächlich keine allgemeingültigen Lösungsvorschläge mehr gibt. Der Weg aus der individuellen ”Death-Struction”, die am Ende so vieler von Dekadenz geprägter Biographien in V. steht, ist ebensowenig einer der kollektiv gegangen werden kann, wie der Weg aus stumpfen Arbeitsverhältnissen und faden Beziehungsstrukturen unseres sozialen Umfelds, als die sich ”Death-Struction” heute lesen ließe.
Da Pynchons Angebot der privatisierten Erlösung, die in Figuren wie Sphere, Rachel oder Paola anklingt, letztlich nur von einer verschwindenden Minderheit wahrgenommen wird, bleibt nach der Lektüre des Romans ein düsterer, pessimistischer Nachgeschmack, den die treffsicheren und nach wie vor aktuellen Beobachtungen des Autors in ihrer anhaltenden Akkuratesse noch verstärken.
V. Bibliographie
ADAMS, Henry:
• The Education of Henry Adams, New York, 1999.
BACHTIN, Michail M.:
• Literatur und Karneval, Frankfurt a.M., 1990.
BAUDRILLARD, Jean:
• Agonie des Realen, Berlin, 1978.
BAUMAN, Zygmunt:
• Moderne und Ambivalenz, Frankfurt a.M., 1995.
• Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt a.M., 1994.
BERGONZI, Bernhard:
• The Situation of the Novel, London, 1970.
BERRESSEM, Hanjo:
• Pynchon’s Poetics. Interfacing Theory and Text, Urbana/Chicago, 1993.
BEST, Andrea:
• In / Animations. Die Medien in den Romanen von Thomas Pynchon, Trier, 1995.
BOORSTIN, Daniel J.,
• The Image. A Guide to Pseudo-Events in America, New York, 1964.
BRUMM, Ursula:
• Die Kritik des ’American Way of Life’ im Roman der Gegenwart nach 1945, Darmstadt, 1978.
COOPER, Peter L.:
• Signs and Symptoms. Thomas Pynchon and the Contemporary World, Berkeley/Los Angeles/
London, 1983.
ECO, Umberto:
• Über Spiegel und andere Phänomene, München/Wien, 1988.
EDDINS, Dwight:
• The Gnostic Pynchon, Bloomington, 1990.
ETZIONI, Amitai:
• The Active Society. A Theory of Social and Political Processes, New York, 1968.
GOLDEN, Robert:
• Mass Man and Modernism, in Critique, no.14, 1972.
HARRINGTON, Michael:
• The Accidental Century, New York, 1965.
HARRIS, Charles B.:
• Contemporary American Novelists of the Absurd, New Haven, 1971.
HEMPER, Klaus W. (Hg.):
• Poststrukturalismus - Dekonstruktion - Postmoderne, Stuttgart, 1992.
HENDIN, Josephine:
• Vulnerable People. A View on American Fiction since 1945, New York, 1978.
HIPKISS, Robert A.:
• The American Absurd. Pynchon, Vonnegut, and Barth, Port Washington, 1984
HITE, Molly:
• Ideas of Order in the Novels of Thomas Pynchon, Columbus, 1983.
HORKHEIMER, Max / ADORNO, Theodor W.:
• Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M., 1984.
ICKSTADT, Heinz:
• Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Hamburg, 1981.
• Der amerikanische Roman im 20. Jahrhundert, Darmstadt, 1998.
JENKINS, Ron:
• Systemic Waste & the Body Boundary in Pynchon’s Fiction, in Pynchon Notes, no. 28-29,
Spring-Fall 1991.
KEROUAC, Jack:
• On The Road, New York, 1957.
KLEPPER, Martin:
• Pynchon, Auster, DeLillo. Die amerikanische Postmoderne zwischen Spiel und Rekonstruktion,
Frankfurt a.M./New York, 1996.
LEHAN, Richard:
• A Dangerous Crossing. French Existentialism and the Modern American Novel, Carbondale, 1973.
LEVINE, George / LEVERENZ, David (Hg.):
• Mindful Pleasures. Essays on Thomas Pynchon, Boston, 1976.
LYOTARD, Jean-François:
• La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris, 1979.
• Das postmoderne Wissen, Bremen, 1982.
MacCANNELL, Dean:
• The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley/Los Angeles/London, 1999.
MANSKE, Eva / BRÜNING, Eberhard / FÖRSTER, Heinz:
• Studien zum amerikanischen Roman der Gegenwart, Berlin, 1983.
McLUHAN, Marshall:
• The Mechanical Bride, New York, 1951.
McHALE, Brian:
• Pöstmödern Fictiön, London, 1987.
MENDELSON, Edward (Hg.):
• Pynchon: A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs: 1978.
METTESSICH, Stefan:
• Imperium, Misogymy, and Postmodern Parody in Thomas Pynchon’s V., in ELH, Vol. 65,
no. 2, Summer 1998.
NEWMAN, Robert D.:
• Understanding Thomas Pynchon, Columbia, 1986.
OLDERMAN, Raymond M.:
• Beyond the Wasteland. A Study of the American Novel in the Nineteen Sixties, New Haven, 1972.
PEARCE, Richard (Hg.):
• Critical Essays on Thomas Pynchon, Boston, 1981.
PLATER, William M.:
• The Grim Phoenix. Reconstructing Thomas Pynchon, Bloomington, 1978.
PORTER, Arthur:
• Cybernetics Simplified, London, 1969.
PRICE, Victoria H.:
• Christian Allusions in the Novels of Thomas Pynchon, New York, 1989.
PYNCHON, Thomas:
• V., London, 1995.
• Gravity’s Rainbow, London, 1975.
• Slow Learner, London, 1995.
ROSTEN, Leo:
• The Joys of Yiddish, Harmondsworth, 1971.
SEED, David:
• The Fictional Labyrinths of Thomas Pynchon, London, 1988.
SLADE, Joseph W.:
• Thomas Pynchon, New York, 1990.
STARK, John O.:
• Pynchon’s Fictions. Thomas Pynchon and the Literature of Information, Athens, 1980.
STONIER, Tom:
• Information and the Internal Structure of the Universe, London, 1990.
TABBI, Joseph:
• Postmodern Sublime, New York, 1995.
TANNER, Tony:
• City of Words. American Fiction 1950 – 1970, London, 1971.
• Contemporary Writers: Thomas Pynchon, Suffolk, 1982.
VIRILIO, Paul:
• Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung, München/Wien, 1989.
WELSCH, Wolfgang:
• Unsere postmoderne Moderne, Berlin, 1993.
ZWEIG, Stefan (Hg.):
• The Living Thoughts of Tolstoy, New York, 1963.