14. Oktober 2003

Heimat und andere Konstruktionen

Von Gustav Mechlenburg

 

"Das Thema der zeitgenössischen Literatur ist die leere Mitte", lautete letztes Jahr der Kommentar des Kritikers Burkhard Spinnen anlässlich der Lesung Jörg Matheis' zum Bachmann-Wettbewerb bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Das war gar nicht so negativ gemeint, wie es zunächst klingen mag. Gewonnen hat Matheis mit seiner Kurzgeschichte den Preis trotzdem nicht. Der Jury war der Text "zu konstruiert", und sie hatte auch keine rechte Lust, die darin enthaltenen "Worträtsel" zu lösen. Dafür sind jetzt zehn seiner Erzählungen, darunter auch der Wettbewerbstext "Schnitt", unter dem Titel "Mono" erschienen, die Spinnens Diagnose, aber auch das Urteil der anderen Juroren noch einmal zu bestätigen scheinen. Personal und Handlung bleiben in allen Geschichten absichtlich vage. Der Autor konzentriert sich auf Stimmungen und Landschaftsbeschreibungen. Es ist allein die Sprache, mit der Matheis Bedeutung kreiert, nicht der Inhalt.

Das Buch ist in zwei Kapitel gegliedert. Die ersten sechs Erzählungen drehen sich allesamt um die Thematik "Heimat". Matheis, Jahrgang 1970, ist in Altenglan in der Pfalz geboren und lebt heute in Ingelheim am Rhein. Beide Gegenden bestimmen den Großteil der Geschichten. In der Titelgeschichte "Mono" sind die mit Moped ausgestatteten Jugendlichen erstaunlich glücklich in ihrer ländlichen Umgebung. Werden sie nach einer Tour in die nahe gelegene Stadt gefragt: "Ist da was in der Stadt?", lautet die Antwort nur: "Da ist nichts in der Stadt." Wer mit den Wiesen, den Wäldern, dem Fluss und dem Provinziellen so zufrieden ist, für den sind Menschen, die nur ein wenig mehr wollen, suspekt. Wie Boris, von dem berichtet wird, er lese sogar Bücher. "Sein Lieblingsbuch ist ,Der letzte Mohikaner'. Manchmal denke ich, Boris wird sich eines Tages erschießen oder totfahren."

In der Erzählung "Aquarium" dagegen strahlt die benachbarte Stadt Saarbrücken dann doch einen gewissen Reiz auf den Ich-Erzähler aus. Eine seiner beiden Freundinnen studiert dort, was sie für ihn geheimnisvoll macht. "Über ihr Studium und die Leute, mit denen sie dort zusammen ist, weiß ich so gut wie nichts. Sie erzählt von ihren Reisen nach Kuba und Kolumbien, sie macht mir Liebeserklärungen auf Spanisch." Leider wird das Thema "Heimat" dann auch noch explizit mit einem befreundeten Fotografen thematisiert. Allzu verheißungsvoll weiß dieser, was für den Erzähler das Beste ist. "Du wirst weggehen, hatte er einmal gesagt, du schaffst es sonst nicht, du brauchst eine andere Perspektive."

Der Text "Schnitt" behandelt die Diskrepanz zwischen Stadt und Land auf eine andere Weise. Der empfindsame Architekt Holzmann arbeitet für ein Büro, das "Stadterlebnisse" mit Glas, Beton und Chrom gestaltet. Dem vom Land Kommenden passt das gar nicht. Zu feige und inkonsequent aber, seinen ästhetischen Unmut darüber zu äußern, betrügt er lieber seinen Chef mit dessen Frau und begeht Sabotage am Bauprojekt. Die Gegensätze zwischen Natur und Synthetischem, die Matheis dabei konstruiert, sind vielleicht etwas überholt. Raffiniert aber, wie er die Unzufriedenheit Holzmanns psychologisiert. Eine Freundin entgegnet ihm genervt, nachdem er zum x-ten Mal seinen Musikgeschmack geändert hat: "Dein Problem ist doch, dass du kein Zuhause hast. Dass du es nicht schaffst, deinen Kinderzeiten im Dorf etwas Gleichwertiges hier in der Stadt entgegenzusetzen."

In "Nenn es deine Abschiedstour" kommt die Ich-Erzählerin nach einer missglückten Landpartie gar in die Hauptstadt. Doch auch hier kann sie nicht richtig glücklich werden, trägt man seine "Sackgassenschilder" doch immer mit sich rum. Immerhin sind diese Stadt und ihre Bahnhöfe "andere Sackgassen als ein Sessel in einer dunklen Ecke in einem alten Haus, von dem der Wind die Ziegel holt. Deswegen musste ich mein Dorf erneut verlassen." Von daher wird in Berlin mit "Indianerblut" ein neues Leben gewagt und gleich der erstbeste Mensch auf dem Bahnsteig aufgefordert mitzumachen.

Eine Geschichte fällt schon im ersten Teil aus dem Rahmen. "Die Vögel von Samerkand" ist fast krimimäßig angelegt. Erst langsam kann sich der Leser zusammenreimen, warum die Protagonistin eine Handprotese trägt. Doch nicht zuletzt ist es auch hier das Eindringen in ein "fremdes Revier", was der Grund des Unglücks ist.

Sind die Texte anfangs insgesamt eher anstrengend, da Matheis darin mit zu vielen bedeutsamen Anspielungen arbeitet und die Thematik "Heimat" überfrachtet, gelingen ihm im zweiten Teil dafür umso stimmigere, wenn auch teils abstrusere Geschichten. "Am roten Fluss" handelt von einem Soldaten in Friedensmission, wahrscheinlich im ehemaligen Jugoslawien, der mit den Erlebnissen überfordert, den Weg zurück in die Normalität der Heimat scheut. Wie extreme Belastung Menschen zu psychischen Krüppeln werden lässt, ist darin eindrücklich beschrieben. Beispielsweise wenn der Ich-Erzähler über die mit ihm zusammenarbeitende Psychologin spricht: "Was sich in ihrem Gesicht bewegt, als sie mich sieht, soll ein Lächeln sein. Es ist ein haltloses Verschieben von mageren Fleischpartien, ein infarktisches Zucken von Haut. Antonia kommt nahezu ohne Kopfbewegungen aus. Ihre Mimik ist so armselig wie das, was sie den ganzen Tag zu sehen bekommt."

Auch die letzte Erzählung "Junikäfer" handelt vom Krieg. Allerdings nicht vor Ort. Zu Besuch mit Frau und Kindern bei den Eltern sitzt die Familie den ganzen Abend vorm Fernseher und wartet auf die Schlacht in Irak. Die nicht nur medial vermittelte Tristesse lässt den Erzähler an seine Jugend zurückdenken, die er mit verrauchten Kleidern und auch im Winter offenen Fenstern in Verbindung bringt. "Mutter und der Alte waren wie Fabriken. Vom Einkaufen brachten sie die Rohstoffe mit, und abends beim Fernsehen lief die Mechanik ihrer eingeübten Hände. Sie bedienten kleine Maschinen, auf die sie das Papier steckten und in die sie den Tabak drückten. Dann hörten wir ein Reiben, das in einem Knall endete, wenn sie den Zug an den Anschlag ruckten und den Tabak in die Hülse pressten. Oben, aus den Schloten der Münder, rauchte die Fabrik ununterbrochen. Das regelmäßige Anschlagen der Manufaktur begleitete uns im Einschlafen." In solchen Passagen zeigt sich Matheis' erzählerisches Geschick und seine Sensibilität für menschliche Schicksale. Da verzichtet man eventuell gerne auf eine volle Mitte.

 

 

 

 

Jörg Matheis: Mono. Erzählungen.

Verlag C. H. Beck, München 2003.

250 Seiten, 17,90 EUR.