18. September 2003

Sing den Verdi, schreib den Proust

Javier Marías, Der Gefühlsmensch. Roman, Stuttgart 2003 (Klett-Cotta)

 

Dieses Buch, dessen Schauplatz, dessen Figuren und dessen Zeit viel älteren Datums sind als das jetzige Erscheinen eines auch schon nicht mehr ganz neuen spanischen Originals (1986) zunächst vermuten lassen, geht auf eine Epoche zurück, in der sich Exklusivität auf eine bisweilen perverse Art literarisch zu gestalten suchte. Es war eine Zeit (um 1900), in der die literarische Klammer so sehr beansprucht wurde, dass sie darunter zerbarst und das Literarische abtransportiert oder nur noch als so Genanntes, als Pastiche, als nur noch unter dem Deckmantel des Historischen Erträgliches oder Erlaubtes akzeptiert wurde. Auf was man damals gestoßen war, noch vor der Entdeckung der Unmöglichkeit des Schreibens, war die Entdeckung der Unmöglichkeit des Lebens, mit der sich literarische Figuren wie Huysmans Des Esseintes oder Valérys Herr Teste konfrontiert sahen. Es war die Zeit der literarischen Vergossung (Naturalismus), der Asozialisierung, der zunehmenden Abstraktion. Der Traum beanspruchte mehr und mehr Platz. Depressive Romantik. Die Nuance emanzipierte sich und begann ihre eigene Kartografie. So fing dann auch die Unlesbarkeit an. Immer kleinere Zirkel, die für sich eine, manchmal auch die Welt beanspruchten.

?Der Gefühlsmensch? ist ein entschieden altes Buch. Obwohl es kein historischer Roman ist (es spielt ?heute?), geht man anders mit ihm um. Man liest langsamer, man muss langsamer lesen, es ist ein ganz und gar undogmatischer (im filmischen Sinn des Spontanen), völlig artifizieller Text, er erinnert, trotz seiner Kürze (180 Seiten), an die Ausführlichkeit von Proust ebenso wie an dessen Personal. Der Roman wird als eine Art Bekenntnis von einem Ich-Erzähler erzählt, der vor einer gewissen Zeit als fast schon sehr berühmter Opernsänger eine nicht mehr ganz junge, sehr traurige, elegante und schöne Frau kennen lernt, die seit fünfzehn Jahren mit einem Mann verheiratet ist, den sie nicht liebt, der aber ihren Vater seinerzeit vor dem sicheren Ruin gerettet hat. Eine ökonomische Heirat also. Aber dann doch nicht nur.

In einem Luxushotel in Madrid, wo der Sänger, das Ehepaar und der ständige Begleiter (und Spion) der Frau residieren, sehen sich der Sänger und die Frau täglich beim Essen, später auch bei Proben. Aber fast will es scheinen, als ob sich das Geschehnis einem bloßen Traum verdankt, den der Erzähler am Tag, als er den Traum aufschreibt, geträumt hat. Die eigentlichen Ereignisse, die das Buch und der Traum erzählen, liegen schon vier Jahre zurück, genießen beinahe schon die friedhofsmäßige Ruhe der Abgeschlossenheit eines Grabs. Erst der Traum bringt eine Wirklichkeit zurück ans Licht, die man nur als eine sich anbahnende erzählt bekommt und die gleichzeitig für den Erzähler schon längst Vergangenheit ist. Der Leser wird Zeuge einer wachsenden gegenseitigen Liebe zwischen dem Sänger und der melancholischen Frau, und die Traumhaftigkeit dieser vergangenen Wirklichkeit, die für den Leser niemals Realität werden wird, ist die traurige Anzeige dafür, dass auch diese Liebe nur ein weiteres Kapitel an Freundschaften mit Frauen dem Leporello des Sängers anfügt. Der Traum des Sängers ist Anlass, Literatur entstehen zu lassen, die offen lassen kann, ob es sich genau so zugetragen hat, die aber sehr genau markiert, dass Liebe vor allem etwas ist, auf das man sich zubewegt, und die umgekehrt in ihrem Abgang eine merkwürdige Intensität entstehen lässt, die vergessen macht, wann sich die Richtung änderte. Dies Buch ist also kein eitles Traumspiel; die Zeit der Vergangenheit ist reif.

 

Dieter Wenk