15. September 2003

Für "Neon" zu alt

 

Ricarda Junge hätte dieses Jahr (2003) gut in Klagenfurt lesen können. Und es wäre nicht ganz abwegig anzunehmen, dass sie dort mit einer ihrer Geschichten auch einen Preis erhalten hätte. Das spricht für sie, aber nicht unbedingt für die junge deutschsprachige Literatur. Die Bachmann- Wettbewerbs-Beiträge zeichneten sich nicht gerade durch Spannung oder Avantgardismus aus, waren die meisten doch statische Selbstreflexionen oder traurig psychologische Analysen. Das literarische Handwerkszeug hatten die Teilnehmer nichtsdestotrotz redlich erlernt.

 

Von "neuer Ernsthaftigkeit" war in letzter Zeit viel die Rede, und davon muss man wohl auch bei Junges Debüt-Erzählband "Silberfaden" sprechen. Spaß haben die Protagonisten keinen. Alle jungen Ich-Erzählerinnen befinden sich geografisch wie psychisch in wagen Zwischenreichen. Sie leben in New York, in Berlin, in Leipzig oder sind auf der Durchreise in Krakau oder am Timmendorfer Strand. Die Ortswechsel spiegeln ihre Unsicherheit wider. Das Erwachsenwerden fällt ihnen schwer, da sie sich nicht mehr mit der "Generation Golf" identifizieren können, für "Neon" aber schon zu alt sind.

 

Bei solch postpubertären Problemen hat Humor anscheinend nichts verloren. Oder handelt es sich um ein Missverständnis, und müssen die Erzählungen ganz anders gelesen werden?

 

Es könnte zum Beispiel sein, dass manches zu dick Aufgetragene als ironische Übertreibung verstanden werden muss. Ein guter Grund, Ricarda Junge nächstes mal nach Klagenfurt einzuladen. Das ist der Vorteil von Literaturwettbewerben, dass die Literaten selbst zu Wort kommen. Nicht in den unsinnigen Porträt-Filmchen, wie sie die Veranstalter des Bachmann-Preises ins Netz stellen, sondern durch das Vortragen des Textes selbst. Da könnte man dann vielleicht raushören, ob die am Leipziger Literaturinstitut studierende Autorin mit belegter Raucherstimme tatsächlich so verrucht und frech ihre Geschichten präsentiert, wie zu hoffen wäre.

 

Der Vergleich Ricarda Junges mit Judith Hermann liegt nah. Atmosphäre und Personal ähneln sich, und auch formell gleichen sich die pointenlosen Storys. Erzählungen haben gewiss den großen Vorteil, dass sie aufhören können, bevor sie richtig anfangen. Zumindest genügt es für Kurzgeschichten im Allgemeinen, Figuren nur zu skizzieren, und ein wirklicher Plot ist auch nicht unbedingt vonnöten. Leider kann es aber auch so wirken, als wolle ein Autor seine Protagonisten vor ihrem eigenen Ausverkauf bewahren. Trotz tragischer Attitüde kommen die Charaktere bei Junge zu wenig komplex daher, als dass man sie über einen längeren Zeitraum ertragen könnte. Was bleibt, sind Stimmungen, aber der schale Beigeschmack mangelnder Handlung und fehlender Intention.

 

Die Geschichte, die auf Grund ihrer gelungenen Komposition am ehesten in Erinnerung bleibt, hat den Titel "Barenberg". Innerhalb einer einzigen Nacht wird eine ganze Beziehung abgehandelt. "Ich habe Barenberg das Rauchen beigebracht, dass man Alkohol trinkt und mit Frauen schläft, ohne sie zu lieben." Das hilft dem Angebaggerten nicht wirklich weiter. "Kaum, dass ich Barenberg das Rauchen beigebracht hatte, wollte er schon sterben. Ich bin unglücklich, sagte er. Ich bin unheimlich unglücklich." So funktioniert das ganze Buch. Das Unglück überträgt sich von einem auf den anderen und letztlich auf den Leser.

 

Ricarda Junge: Silberfaden S. Fischer Collection, Frankfurt 2003