18. September 2003

Landarzt

Ida Jessen: Wie ein Mensch. Übersetzung aus dem Dänischen: Sigrid Engeler, Beck 2003, 309 Seiten

 

Fünfhundert Millionen Samenzellen im Gleitflug auf den Schenkel, für sie süße Erinnerungen an das miefige Kammerspiel ihres Lebens.

 

 

Der Erfolg von Arztromanen oder -serien liegt neben der manchmal schlüpfrigen Atmosphäre wohl vor allem in der besonderen gesellschaftlichen Schlüsselrolle der jeweiligen Hauptfigur. Als Schnittstelle aller gesellschaftlichen Schichten fungiert der Arzt nicht allein nur als medizinischer Therapeut. Möglicherweise stellt er schon auf Grund seiner Funktion Autorität und Seriosität dar und gilt nicht umsonst oft als erotisches Objekt der Begierde. Gerade in ländlichen Gegenden bildet die Arztpraxis daher auch immer ein dankbares Thema für die Gerüchteküche. Das muss auch Christian Gim erfahren, und zwar bis zum bitteren Ende. Er wirkt am Anfang von Ida Jessens Roman „Wie ein Mensch“ wie ein Sonnenkind. Er ist jung, charmant, kommunikativ und erfolgreich. Gewiss hat er sich die Übernahme der Arztpraxis im dänischen Jütland ganz idyllisch vorgestellt. Landschaftlich schön und abseits gelegen, ist Himmerland zwar nicht gerade kulturelles Zentrum, aber auch wiederum nicht vollkommen der Moderne verschlossen. Von seinem älteren Kollegen wird Christian gleich freundschaftlich aufgenommen und selbst über die Patientenzahlen kann er sich nicht beklagen. Doch plötzlich bricht mit rasender Geschwindigkeit alles zusammen, was sein bisheriges Leben ausmachte.

 

Zunächst ist es seine Frau Nina, die nicht richtig mitspielen will. Geprägt vom Trauma einer Totgeburt und ohne ausfüllende berufliche Aufgabe entfremdet sie sich zusehends von ihm und verlässt die Kleinstadt schließlich. Ganz unschuldig scheint er daran nicht gewesen zu sein. Denn wie wir von der Erzählerin erfahren, bei der es sich, was allerdings erst im Verlaufe des Buchs klar wird, um die Schwester des Protagonisten handelt, zeichnet Christian eine gewisse Unangemessenheit in seinem Gefühlshaushalt aus. Bereits in der Schule soll er der Schrecken der Lehrer gewesen sein, da er die Fähigkeit besaß, „seine gesammelte Verachtung in Form eines kleinen höhnischen Lächelns auf den Lippen über alle zu verteilen, indem er über ihre Fehler und Dummheiten wachte“. Seine Präzision nicht nur in fachlicher Hinsicht machte ihn folgerichtig zum Außenseiter, der sich die Menschlichkeit erst wieder antrainieren musste. „Seitdem arbeitete Christian daran, nach und nach wie ein Mensch zu denken. Anfangs kam es ihm so vor, als müsse er lange Umwege zurücklegen, um das gleiche zu erreichen, was den anderen scheinbar völlig mühelos gelang. Wie zum Beispiel beim Überqueren des Schulhofs die Hände in die Taschen zu stecken, in der Sonne die Augen zu schließen und sich wie eine Katze zu dehnen und zu räkeln, über die Witze der anderen zu lachen und selbst Witze zu erzählen.“

 

So verkorkst, wie es die Schwester an solchen Stellen darstellt, kann die Hauptfigur dann aber auch wieder nicht sein. Allerdings hat sich bei Christian durch die Erfahrungen aus der Kindheit wohl eine merkwürdige und für seine Mitmenschen nicht immer einfache Passivität eingeschlichen, die auch als Gefühlskälte ausgelegt werden könnte. Als er das Haus nach Ninas Auszug betritt, fällt ihm in erster Linie auf, dass seine sonst chaotische Frau zuletzt noch aufgeräumt haben muss. „Das war irgendwie eine Geste, schien ihm. Als ob sie zur gleichen Zeit in seine Welt eingetreten war – und sie verlassen hatte.“ Bei so viel Rationalität traut selbst die Erzählerin ihm keinen echten Kummer zu. „Er experimentierte nur und könnte jederzeit aufhören.“

 

Was anfänglich psychologisch nicht uninteressant beschrieben ist, zudem alle Insignien eines typischen bis kitschigen Arztromans besitzt, wendet sich raffinierter Weise zunehmend und gleichermaßen zu einer kafkaesken Kriminalgeschichte wie zu einem zynischen Liebesroman. Krankenakten verschwinden, anonyme Anrufe und Briefe sprechen Drohungen aus, man wendet Christian den Rücken zu und tuschelt hinter diesem, und schließlich bleiben die Patienten aus. Die Verdächtigungen haben, wie sich zeigt, Tradition in der Gemeinde, und zwar begründete. Christians Vorgänger muss junge Patientinnen sexuell missbraucht haben. Doch weil darüber nicht offen geredet wird, liegt die Fortsetzung nahe.

 

Wie der Held bis zu seinem Untergang noch so manch erotische und sexuelle Erfahrung macht, gehorcht einerseits vollkommen den Erwartungen an einen Arztroman, andererseits hält die Autorin gekonnt Abstand zu Kitsch und vordergründiger Schlüpfrigkeit, zumindest dann, wenn der Arzt mal wieder genervt ist von der Frau, die ihm zu nahe kommt: „Ragna, die gerade Gevögelte, die sich in sein Haus einschlich und ihre Langeweile zu Lebensdramen hochspielte. Existenz, ach du liebe Güte, dachte er, sie redet von Existenz, aber ihre Gedanken kreisen um Samenzellen. Meine oder die anderer. Ach du liebe Güte, fünfhundert Millionen Samenzellen im Gleitflug auf den Schenkeln, für sie süße Erinnerungen an das miefige Kammerspiel ihres Lebens.“