13. Oktober 2003

Vorhang zu und Alle Fragen offen

 

Elke Hussel untersucht das Literarische Quartett der Gesellschaft

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Das "Literarische Quartett" ist zu Ende, das Phänomen Literaturkritik aber bleibt. Wenn Elke Hussel in ihrer Studie "Marcel Reich-Ranicki und das Literarische Quartett im Lichte der Systemtheorie" der erfolgreichen Fernsehsendung nachgeht, so erfährt man über die für das Medium Fernsehen spezifische Struktur hinaus auch einiges über den Literaturbetrieb an sich. Die Fragen, denen sich die Arbeit stellt, heißen denn auch: Nach welchen Prinzipien funktioniert Literaturkritik? Und in Luhmann'scher Manier: Welche Anschlussoperationen werden durch das "Literarische Quartett" erhalten?

 

Hussel nimmt die verschiedenen Beobachterstandpunkte der drei in Frage kommenden Funktionssysteme (Wirtschaft, Massenmedien, Kunst) ein. Da ist zunächst der wirtschaftliche Aspekt. Bücher werden beworben, um sie in höherer Auflage verkaufen zu können.

 

Auch dem Medium Fernsehen geht es um Geld qua Einschaltquote. Dementsprechend werden publikumswirksame Kritiker engagiert. Neben dem finanziellen Aspekt ist die Sendung aber auch als eine Antwort auf die fortschreitende Ausdifferenzierung des Mediensystems zu verstehen. Diese fordert von sich aus eine rigide gesteigerte Selektivität, "die typischerweise durch die Institutionalisierung einer reflexiven Struktur, nämlich durch die Verfügbarkeit von Meta-Medien erzeugt wird". Das "Literarische Quartett" wie auch die zahlreichen Talk-Shows leisten demnach die Illusion einer Übersicht und wirken durch die Erzeugung einer Hintergrundrealität komplexitätsreduzierend.

 

Und schließlich fehlen in der Sendung auch die Werturteile nicht, die sich auf den Literatur-Diskurs beziehen. Verweise auf das System Kunst gibt es zuhauf. Von den Anfangsklängen von Beethovens Streichquartett über Dramaturgie und Bühnenbild bis hin zur standardisierten Verabschiedung mit dem Brecht-Zitat: "Und wieder sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen."

 

Wie weit der Einfluss des "Literarischen Quartetts" auf dem hiesigen Buchmarkt reichte, ist hinreichend bekannt und oftmals mit dem Hinweis auf Javier Marias Bestseller "Mein Herz so weiß" untermauert worden. Jahrelang wurde der Roman nicht beachtet, bis ein einmütiges Urteil im "Literarischen Quartett" ihn aus seinem Dornröschenschlaf erweckte.

 

Doch können sich Lektoren nicht immer auf ein erfolgreiches Wechselspiel verlassen. Literaturkritik unterliegt nicht nur den Einflüssen des Wirtschaftssystems. Sie bietet "ein Forum für Anschlussselektionen im Kunstsystem, indem sie einen über das Einzelwerk hinausreichenden Referierzusammenhang schafft. Das Aufeinanderbezugnehmen ist nicht nur ein Aspekt der wirtschaftlichen Seite, sondern ein Phänomen des Kunstsystems."

 

Mit der Betonung des Anderen, des Individuellen und Neuen - also mit dem Agieren unter dem Code von Kunstsystem und Massenmedien - bildet das "Literarische Quartett" einen Gegenpol zu der von den Verlagen geführten Strategie der Berechenbarkeit von Erfolgsmustern, wie schematisierte Genres oder bekannte Autoren.

 

Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist, dass den größten Teil der Sendezeit die Nacherzählung der Romane in Anspruch nahm. Formal-ästhetische Kritik machte dagegen nur 2,9 Prozent aus. Diese Entwicklung nimmt nach Hussel die Literaturkritik insgesamt. Da es keine verbindlichen Maßstäbe mehr gibt, besteht die Kunst des Kritikers heute darin, "mit einer pointierten Darstellung eines Buchinhalts die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, seine Wertung aber auf die Erkennbarkeit einer formalen Struktur zu beziehen. Disput über formale Kriterien leistet eine Art Entsubjektivierung der Diskussion."

 

Dass es den Zuschauern des "Literarischen Quartetts" weniger um fundierte Literaturkritik als um pure Unterhaltung ging, ist auch Elke Hussel bewusst. Doch wie das "Literarische Quartett" bewiesen hat, können gerade Werturteile unterhalten, "sie verleihen Glaubwürdigkeit und geben eine Orientierung". Und somit leistet Literaturkritik wie auch die Literatur selbst eine Sinn gebende Funktion.

 

Elke Hussel: Marcel Reich-Ranicki und "Das Literarische Quartett im Lichte der Systemtheorie".

Tectum Verlag, Marburg 2000.

84 Seiten, 25,50 EUR.

ISBN 3828881661