11. Oktober 2003

Erzählte Geschichte

 

 

Eines vorweg: so viel Kritik hat dies Buch vielleicht gar nicht verdient, denn es ist äußerst belesen und es lässt sich leicht lesen. Aber es ist einfach schade, wenn man sieht, wie das Potential, das in einer an erzähltheoretischen Fragen orientierten Kulturwissenschaft steckt, leichtfertig durch übereifrige Theorieakkumulation bei mangelnder theoretischer Tiefenschärfe verschenkt wird. Während der Kulturwissenschaft oft der Vorwurf der methodologischen Beliebigkeit anhaftet, wird die Narratologie traditionell als extrem definitionswütig und kontextfeindlich wahrgenommen. Wolfgang Müller-Funks Projekt einer narratologisch fundierten Kulturwissenschaft könnte also die Möglichkeit eröffnen, zwei Disziplinen fruchtbar zusammenzuführen, die noch voneinander lernen könnten. Die Narratologie könnte lernen, verstärkt nach den Funktionen von Erzählungen zu fragen und historisiert und kontextualisiert werden. Die Kulturwissenschaft könnte von der bewährten ausdifferenzierten Terminologie der Narratologie profitieren und durch den „narrative turn“ Fragestellungen (etwa nach der Art der Vermittlung oder nach Plotstrukturen) importieren, für die der zuvor vollzogene „textual turn“ noch keine Aufmerksamkeit besaß.

Eine erste Hürde an der Müller-Funk nicht hängen bleibt, aber die er jedoch zumindest nicht leicht nimmt ,ist der Begriff Kultur selbst. Das ist zwar unsportlich, aber entschuldbar, da ein grundsätzliches Problem der Kulturwissenschaft. Kultur ist ein definitorisches Dilemma, denn sie ist je nach Theorieansatz Kampf um Bedeutung, Gedächtnis, Pflege, Lebenswelt oder Text. Und jetzt ist Kultur auch noch narrativ. Müller-Funks an Erzählungen orientierte Annäherung an Kultur beansprucht keinen Ausschließlichkeitsanspruch und vielleicht vermeidet er auch deshalb das Verhältnis zwischen Kultur und Erzählung genau zu klären. Die nichtformulierte Kulturdefinition lautet dann: Kultur gleich Erzählungen plus common sense im Bewusstsein plus Medien plus irgendetwas Unbenennbares. Die Bedeutung von Erzählungen und Erzählmustern für Kultur zu betonen, ist sicherlich eine der Leistungen dieses Buches, doch wünscht man sich eine Kulturtheorie, die auch erklären kann, warum es so verschiedene Definitionen von Kultur gibt und diese bündeln kann. Hier sei auf die an Luhmann anschließenden Arbeiten von Dirk Baecker verwiesen, die versuchen Kultur als einen Vergleichsmechanismus zu entwerfen, der zugleich Identität und Differenz produziert. Folgt man diesem Vorschlag dann erscheinen die unterschiedlichen Beobachtungen des Themas Kultur als Produkt des Funktionierens von Kultur selbst.

Während ein leicht schwammiger Kulturbegriff zwar Usus ist, möchte man sich mit dem unpräzisen Begriffs des Narrativen nicht so leicht zufrieden geben. Müller-Funk konstatiert in seinen Vorwort, das eine genaue begriffliche Festlegung bewusst vermieden wird, um eine „definitorische Wut“ zu vermeiden. So berechtigt und nachvollziehbar das Interesse an der Lust am Text auch ist, man möchte hinzufügen, dass begriffliche Ungenaugkeit eben auch zu einem Erkenntnisverlust und Undifferenziertheit führen können. Und genau das passiert mit dem Begriff des Narrativs, der mal konkrete Erzählung, mal Ideologie, mal Diskurs mal Erzählmuster zu meinen scheint. Dadurch werden nicht nur die Aussagen unschärfer, sondern es geraten auch unterschiedliche Phänomene in einen Topf. So zum Beispiel in dem Kapitel „Die verschwiegenen Narrative: Latenz, Repression“, das durchaus interessante Beobachtungen enthält, diese jedoch alle in den selben Eimer „nicht erzählte Geschichten“ stopft. Müller-Funk zielt hier zum einen auf unterdrückte, verdrängte Geschichten, zum anderen auf Formen des Alltagswissens, das nötig ist um Geschichten zu verstehen. Müller-Funk verglicht hier nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern verschenkt auch bei der Erörterung der nicht erzählten Narrativen die Forschung zu Skripts und Frames, die eben diesen Zusammenhang von Erzählung und Wissensbeständen und thematisiert.

„Die Kultur und ihre Narrative“ ist in einen Anwendungs- und einen Theorieteil aufgegliedert. Doch welche Theorie wird hier vorgestellt, die danach angewendet wird? Der Theorieteil versammelt einige zentrale Themen geisteswissenschaftlicher Diskussion und stellt fleißig einen Großteil der narratologischen Forschung, der Forschung zum Mythos und kollektivem Gedächtnis dar, ohne jedoch eine Synthese anzustreben und zu benennen, welche Theoreme für eine narratologische Kulturwissenschaft von Bedeutung sind. Ricoeur, Barthes, Propp werden zwar aufgearbeitet, aber finden im zweiten Teil des Buches kaum Anwendung. Das Kapitel „Das Geld als Zero-Narrativ und Null-Medium“ aus dem Anwendungsteil etwa behandelt die Philosophie des Geldes von Georg Simmel. Die von Simmel stammende Erkenntnis der narratologischen Kulturanalyse à la Müller-Funk lautet: das Geld erzählt nicht. Doch welche Theorie hier (außer Simmel, der ja wiedergeben wird) angewendet wird und was wir, außer einem Buchkapitel, gewinnen wenn wir die Erkenntnis von der Gedächtnislosigkeit des Geldes jetzt metaphorisch ins Gewand des Erzählens kleiden, bleibt unklar. Zumal es interessante Ausnahmen von der Annahme gibt, dass Geld nicht stinkt. Gerade die Fälle, in denen Geld eben doch stinkt, sind vermutlich umso erzählungswürdiger. Klassisches Beispiel Asterix und der Kupferkessel, wo der Zwiebelsuppengeruch des Geldes dessen Herkunft offenbart und so den Plot auflöst.

Vielleicht liegt das Problem des Buches in seiner Vermittlung. Denn der Erzähler Müller-Fink selektiert zu wenig: ein stärkeres Theorie-Emplotment im Sinne eines strengeren roten Fadens hätte hier gutgetan. Denn den einführenden Charakter des Buches, denn der Untertitel verspricht, kann Müller-Funk zwar thematisch durch eine Überblick über die gängigen Theorien leisten, nicht jedoch – was man von einer Einführung verlangen könnte- Orientierung und das Bereitstellen eines analytischen Handwerkzeugs.

 

Jens Kiefer, Hamburg

 

Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung

Springer Wien / New York 2002.

ISBN 3-211-83636-5