13. Oktober 2003

Bibelzitate auf Pappschildern

 

Douglas Coupland nimmt in seinem neuen Roman "Alle Familien sind verkorkst" tiefe Einblicke in die menschlichen Abgründe

 

Von Gustav Mechlenburg

 

Douglas Coupland wird den Ruf, der Chronist der Generation X zu sein, wohl nicht mehr los. Zu bekannt wurde der kanadische Autor mit seinem Debütroman über die Orientierungslosigkeit amerikanischer Jugendlicher Anfang der 90er-Jahre. Für die individualistische Attitüde der Slacker aus "Generation X" ist er mittlerweile zu alt geworden und zu erfolgreich. Es ist deshalb nur konsequent, wenn sich Coupland in seinen jüngsten Romanen allgemeineren Fragen des modernen Subjektentwurfs zuwendet.

 

Auch sein Schreiben hat sich verändert. Funktionierte das Soziogramm der "Generation X" vorwiegend durch die originelle Idee und neue Begrifflichkeiten wie "McJob" oder "Low-Pay" in den literarischen Diskurs, hat Coupland im Laufe der Jahre auch ein Gespür für Charaktere und Dramatik entwickelt. Doch zugleich scheint Coupland der eigentliche Anlass seines Schreibens entschwunden zu sein. Man könnte meinen, er habe die ironisch-kritischen Metakommentare zur Konsumgesellschaft aus seinem Erstlingswerk gegen einen selbstverliebten, Effekte erhaschenden Sarkasmus eingetauscht, der gar nicht mehr beabsichtigt, irgendetwas zu entlarven.

 

Auf den ersten Blick wirkt auch sein neuer Roman "Alle Familien sind verkorkst" wie eine sarkastische Krimikomödie. Im so genannten Rentnerparadies Florida findet sich die Familie Drummond anlässlich der anstehenden Raumfahrt von Tochter Sarah ein. Doch statt "rund um die Uhr mit Ballons und Pappschildern mit Bibelzitaten drauf an den Absperrungen" von Cape Canaveral zu stehen wie die anderen Familien der Astronauten, geraten die Drummonds Hals über Kopf in ein infernalisches Abenteuer voll blutigen Gemetzels. Die einen erleben einen "Pulp fiction"-Überfall auf einen Schnellimbiss, die anderen werden in die Folterkammer von Sado-Freaks gesperrt, und schließlich stoßen alle gemeinsam auf einen größenwahnsinnigen Pharmaboss, der einem Bond-Film entsprungen zu sein scheint.

 

Solcherlei Filmzitate gekonnt in Literatur umzusetzen, ist Coupland allemal geglückt. Brillant jedoch ist Couplands ironische Beschreibung des "Science-Fiction-Planeten Florida" mit seinen "Biker willkommen"-Schildern, dem klinisch-reinen Astronauten-Stützpunkt der Nasa, der die gebrochene Welt der Drummonds so gar nicht entspricht, und den touristischen Fassaden von "Disney World": dem "einzig sicheren Ort in diesem abgefuckten Staat".

 

So bizarr das Szenario, so schräg kommen auch die Drummonds daher. Keiner, der nicht irgendeine Macke oder eine schwere Krankheit haben würde. Die über 60-jährige Mutter Janet, die sich im Chatroom mit dem Pseudonym "HotAsian Teen" einloggt, hat Aids. Infiziert wurde sie vor Jahren durch eine blutüberzogene Kugel, die ihr Exmann Ted auf ihren HIV-infizierten Sohn Wade abgefeuert hatte, diesen aber nur streifte, um schließlich die Mutter zu treffen.

 

So haben die von Coupland beschriebenen Drummonds einiges aufzuarbeiten, als sie sich nach Jahren das erste Mal wieder begegnen. Dabei geht es sehr amerikanisch zu. Jeder kehrt seinen Seelenmüll vor dem anderen aus. Etwa wenn Wade seinen Vater für sein missglücktes Leben verantwortlich macht. "Wadie-Puh", entgegnet der Vater, "wenn ich, als du acht warst, deine Umarmung erwidert oder so getan hätte, als würde mich dein maßstabsgetreues Modell der Pyramiden von Gizeh auch nur im Geringsten interessieren, glaubst du, du wärst heute in irgendeiner Hinsicht ein anderer Mensch?"

 

Couplands Figuren sind intelligent, spitzfindig und psychologisch bewandert, gönnen sich aber gegenseitig nichts. Wenn sie Seite an Seite kämpfen, ist es nicht so sehr Loyalität, was die Familie zusammenhält, sondern neben ganz handfesten Abhängigkeiten finanzieller Natur vor allem die Suche nach Verständnis und Geborgenheit. So sein zu können, wie man ist, mit all seinen Idiosynkrasien und Schwächen, das geht nicht da draußen in der futuristischen Plastikwelt, die einem vorgibt, sich immer wieder neu erfinden zu müssen. Es geht allein drinnen in der vertrauten, aber eben leider auch verkorksten Familie.

 

Fast glaubt man, Coupland hätte die Generation X gegen einen Generationenvertrag eingetauscht. Doch so sentimental er auch an einigen Stellen wird, seine schonungslose Beschreibung der Phobien und Neurosen, deren Gründe ja gerade in der Familie selber liegen, bewahrt ihn und uns vor einem miefigen Konservatismus. Coupland ist kein Gesellschaftskritiker, sondern ein großartiger Erzähler, der von menschlichen Abgründen einiges versteht.

 

GUSTAV MECHLENBURG

 

Douglas Coupland: "Alle Familien sind verkorkst". Aus dem Amerikanischen von Tina Hohl. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002. 335 S., 19,90 €

 

taz Nr. 6872 vom 9.10.2002, Seite VII, 110 Zeilen (Kommentar)