Grenzen der Zivilgesellschaft

Civility On Demand

 

 

von Dieter Wenk

 

 

Zivilgesellschaft

 

 

 

Auch wenn die Ausgangslage der heutigen, seit etwa zwanzig Jahre bestehenden Diskussion über das Konzept einer Zivilgesellschaft eine sehr andere war in den Ländern Osteuropas, wo die Überlegungen ihren ersten Niederschlag fanden, im Vergleich mit den dieses Konzept aufgreifenden westlichen Ländern Europas und den Vereinigten Staaten Amerikas, so scheint der Katalog des Konzepts doch so weit reduzierbar zu sein, dass sich in ihm nicht nur die unterschiedlichen Repräsentanten der Zivilgesellschaft wiederfinden können. Nach Thierry bezeichnet eine so weit heruntergefahrene ‚Zivilgesellschaft’ „... eine vorstaatliche oder vom Staat unabhängige Sphäre, in der Interaktionen in und zwischen gesellschaftlichen Assoziationen stattfinden oder - das ist wichtig - zumindest stattfinden können.“ (70) Diese möglichen Interaktionen sind keine Interessen, die wirtschaftsorientierte Bürger einbringen. Die Bürgergesellschaft, wie die Zivilgesellschaft auch manchmal genannt wird, ist nicht die bürgerliche Gesellschaft, denn diese hebt gerade im deutschen Sprachverständnis „ab auf eine entpolitisierte, wesentlich durch ökonomische Bezüge definierte Sphäre“ (Münkler 6), sondern sie zielt ab auf den „Bürger in einem originär politischen der Trennung von Staat und Gesellschaft vorgängigen Sinn.“ (ebd.)

 

 

 

Der Bürger nicht als Bourgeois, auch nicht als Privatmann/-frau, sondern im emphatischen Sinn als Citoyen, zugleich Adressat und Agent der Zivilgesellschaft, ausgestattet mit jenem odor di politica, der jede Absorptionsgelüste von Seiten des Staates oder der Wirtschaft unterbindet. Desiderativ sagt Zivilgesellschaft ganz einfach: Es gibt ein Drittes. Oder anders gesagt: Zivilgesellschaft wird sofort sehr anspruchsvoll, was sich u.a. an den Termini zeigt, derer sie sich  - republikanische Tugenden Alteuropas aufgreifend – bedient, sei’s zwecks Abgrenzung, sei’s zur Profilierung: „Zivilgesellschaft bezeichnet demnach zunächst eine Form menschlichen Zusammenlebens, in der der Zusammenhang der Gesellschaft nicht durch die hinter dem Rücken der Akteure wirkenden Markgesetze und auch nicht durch staatliche Zwangsvereinnahmungen hergestellt wird, sondern im Handeln jeden einzelnen intentional präsent sein muss, wenn denn das Gemeinwesen als eine Verbindung von Freien Bestand haben soll.“ (Münkler 7)

 

 

 

Zivilgesellschaft versteht sich als ein zu Unrecht marginalisierter Nebenschauplatz. Sie behauptet, und dabei kann man ihr nur zustimmen, dass gesellschaftlich-funktionale Großbereiche wie Bürokratien, Parteien, Institutionen, Organisationen etc. nicht alles seien. Neben oder hinter der Positivität im weitesten Sinne verwaltungsmäßiger Vollstreckung sei auf die systemisch noch nicht behandelten, ja vielleicht sogar „wegdefinierten Zwischenräume und Diffusionszonen“ (Münkler 23) aufmerksam zu machen als Operationsfeldern von Zivilgesellschaft schlechthin. Diese limitroph-wabernde Positionierung des Zwischen einer Zivilität, die sich selbst zu ernennenden hätte, verrät deutlich den Einfluss Gramscis: Zivilgesellschaft „als kulturelle Sphäre zwischen Ökonomie und Staatsapparat“ (Thierry 71).

 

 

 

Der mögliche, auf jeden Fall aber beanspruchte (in wessen Namen auch immer) Ort des Zivilen ist durch Bezeichnungen wie „wegdefinierte Zwischenräume und Diffusionszonen“ eher durch Entzug gekennzeichnet. Es gibt in der Tat kein gemeinsam getragenes Konzept von Zivilgesellschaft über das Ausmaß ihrer Besetzung im gesellschaftlichen Feld sowie umgekehrt über die Radikalität der Begrenzung oder gar Abschaffung dessen, was man ein wenig plakativ und dramatisch den „despotischen Staat“ nennen kann. Je nach Unvermeidlichkeitseinschätzung des Systemischen kommt man dann entweder zu radikaldemokratischen (Generalisierung des Assoziationsgedankens freier und gleicher Bürger) oder zu etwas bescheideneren, gleichwohl immer noch mit einer idealisierenden Ausrüstung arbeitenden „deliberativen“ Position im Sinne etwa von Jürgen Habermas. Wie auch immer die zivilgesellschaftliche Operation angesetzt wird: als radikal-chemotherapeutisches Verfahren zur Ausmerzung der Staats-Metastasen, oder als vielleicht nur mit Placebo-Effekten arbeitendes Palliativ: gemeinsam ist beiden die Wert-Setzung von Zivilgesellschaft, das Setzen auf das Überstreichen des Pfingsthauchs über die in den Zwischenräumen heftig kommunizierenden Partizipanten und die Überzeugung, dass sich dadurch „Freiheit und Demokratie verbürgen, andererseits Machtansprüche des Staates abwehren und eindämmen“ (Thierry 73) ließen.

 

 

 

Das Schibboleth der Zivilgesellschaft ist die ‚Deliberation’. Deliberative Politik ist Politik von und mit Zivilbürgern. Ihr egalitärer Kern bedeutet, dass unabhängig von sonstigen gesellschaftlichen Positionen von Teilnehmern in deliberativen Assoziationen allein die Kraft des besseren Arguments und die Erwartung, dass dieses dann auch von allen beteiligten akzeptiert wird, den Diskussionsverlauf prägt. Dieser verfahrensethische Prozess, der auf Toleranz und Einsicht gründet und mit dem besten Argument abzuschließen ist (so die ideale Kommunikationssituation), tritt im Anschluss daran als Position innerhalb des gesellschaftlichen Machtgefüges auf, das im Rahmen der heutigen Weltgesellschaft durchaus ein internationales sein kann. (Deliberation - als Filter des Rationalen – bekommt, so kann vermutet werden, durch diesen Wiedereintritt in bereits etablierte Kommunikationsstrukturen, aus der Nische eines prätendierten Machtvakuums heraus, ein Problem mit der Anschlussfähigkeit. Auf dieses Problem wird im Luhmann-Teil zurückgekommen.) Der scheinbar ganz einfache und beinahe wie von selbst ablaufende deliberative Prozess der Verdichtung (Agent des Verlaufs ist eben das rationale Verfahren selbst) wird von J. Habermas wie folgt beschrieben: „Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten. Wie die Lebenswelt insgesamt, so reproduziert sich auch die Öffentlichkeit über kommunikatives Handeln, für das die Beherrschung einer natürlichen Sprache ausreicht; sie ist auf die Allgemeinverständlichkeit der kommunikativen Alltagspraxis eingestellt.“ (Alheit 1995, 138)

 

 

 

Es sind vielleicht vor allem zwei Fragen, die in diesem Zusammenhang an Deliberation zu stellen sind und die beide mit abstrahierten, idealisierten Kommunikationssituationen zu tun haben: Die erste Frage könnte lauten: Ist die Verfahrensethik auch verfahrenstechnisch umsetzbar? Die zweite Frage, die unmittelbar daran anschließt, wenn sie überhaupt von ihr abtrennbar ist, könnte man folgendermaßen formulieren: Ist der Prozess der Verdichtung im „Kern des Zivilen“ zu verorten? Die erste Frage legt den Schwerpunkt auf das Problem der Zeit (die deliberative Verdichtung ist nicht die instantane Freudsche Verdichtung), die zweite macht auf konzeptuell unbeabsichtigte, real aber durchschlagende Medieneffekte aufmerksam. Was mit dem Problem der Zeit gemeint ist, bringt Michael Walzer in einer kritischen Stellungnahme zur ‚deliberativen’ im Unterschied zur repräsentativen Demokratie knapp zum Ausdruck: „Die Deliberation an sich ist keine Aktivität für den demos. Ich will damit nicht sagen, dass gewöhnliche Männer und Frauen nicht die Fähigkeit besitzen, vernünftig zu argumentieren, sondern lediglich, dass 100 Millionen oder eine Million oder sogar nur 100000 Menschen einsichtigerweise nicht ‚gemeinsam diskutieren’ können.“ (Walzer 1999, 65)

 

 

 

Während die erste Frage eher die Innenseite des Problems des zivilgesellschaftlichen Procederes benennt, macht die zweite Frage auf die Außenseite des Problems aufmerksam, indem sie die Autonomie der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung in Frage stellt. Zivilgesellschaftliches findet nicht nur in der Öffentlichkeit statt, sie muss sich auch veröffentlichen, sie muss heraus aus ihrer Nische, ihrer „Diffusionszone“, sie muss medial, heute also massenmedial, umgesetzt werden. Dieser Befund kann insofern noch radikalisiert werden, als gefragt werden kann, ob es sinnvoll ist, zwischen Öffentlichkeit auf der einen Seite und Massenmedien auf der anderen Seite überhaupt noch zu unterscheiden. Massenmedien sind kein Teilsystem der Gesellschaft, sondern prozessieren jeweils spezifische Kommunikationen der Gesellschaft. Damit ergibt sich: Die als autonom angesetzte Deliberation wird heteronom überschrieben: „Wie für die Gesamtgesellschaft selbst gilt auch für modernisierte Öffentlichkeiten, dass der ‚zivile Kern’ von den professionell agierenden Aktionszentren zunehmend an die Peripherie gedrängt wird. Die Gefahr einer Spaltung der Öffentlichkeit in Produzenten und Rezipienten und die Verquickung der Produzenten mit ökonomischen bzw. politischen Präferenzen ist längst auf der Tagesordnung.“ (Alheit 1995, 138)

 

 

 

Die letzten Bemerkungen sollten nicht den Eindruck entstehen lassen, dass ‚Zivilgesellschaft’ per se an deliberative Positionen gebunden wird oder angebunden werden kann. Die theoretische Konzeption ist die eine Seite; und dass auch ganz unterschiedliche Konzepte zu Zivilgesellschaft vorliegen, ist bereits angemerkt worden. Man sollte nicht vergessen, dass Zivilgesellschaft auch und vielleicht vor allem eine Art Kampfbegriff ist, der in den Grauzonen der Gesellschaft entsteht, auf unbehandelte Leerstellen im Sozialen verweist und – was nicht ganz unwichtig zu beobachten ist – sicherlich nicht auf so genannte progressive Positionen im Links-rechts-Schema zu begrenzen ist. Niklas Luhmann war einer der ersten, der zu Protestbewegungen als zivilgesellschaftlichen Erscheinungsformen eben auch rechte Bewegungen zählte. Ulrich Beck hat dafür  - gewissermaßen als paradoxes Pflichtprogramm der Zivilgesellschaft: Überwindung der Zivilgesellschaft in der Zivilgesellschaft – vom „hässlichen Bürger“ gesprochen, der im globalen Prozess der Neustrukturierungen eben auch anfalle und den es auszufällen gelte. Leben und Mitleben im sozialen Körper des Feindes.

 

 

 

Von der Systemtheorie wird kaum eine Verschönerung des Bürgers zu erwarten sein. Das liegt vielleicht daran, dass sie ihn schon lange ausgefällt hat. Und das zu erfahren dürfte für die Bürgergesellschaft nicht ganz unwichtig sein. Wo ist systemtheoretisch der Ort des Zivilen?

 

 

 

 

 

 

 

Die Position Niklas Luhmanns

 

 

 

Das soziologische Grundaxiom Luhmanns könnte man folgendermaßen formulieren: Gesellschaft ist weder unmittelbar beobachtbar noch direkt beschreibbar. Soziologen haben bei ihrer Arbeit immer schon – notwendigerweise – das hinter sich gelassen, was Luhmann im Anschluss an George Spencer Brown den „unmarked space“ nennt, der viel mit dem weißen Rauschen vor jeder Symbolisierungsleistung und nichts mit dem Kantischen Ding an sich zu tun hat. Jeder marked space, so Luhmann, arbeitet mit Unterscheidungen, die diesen Raum allererst konstituieren, der somit nicht lediglich abgebildet, sondern als Raum konstruiert wird. Je nach Markierung wird dieser Raum anders aussehen. Und was genauso wichtig ist: So, wie Markierungen eingeblendet, können sie auch wieder ausgeblendet werden.

 

 

 

Luhmann übersetzt nun diese Ur-differenz [Derrida] von unmarked und marked space, die als solche nicht beobachtbar ist, sondern überhaupt erst Beobachtung möglich macht, in die Anfangsunterscheidung seiner soziologischen Systemtheorie von „System“ und „Umwelt“. Die System/Umwelt-Differenz ist Luhmanns Antwort auf Spencer Browns Initialimperativ: „Draw a distinction“. Die Unterscheidung gibt der einen Seite des von ihr Unterschiedenen – in diesem Fall: System – einen Namen, den es vor dieser Unterscheidung nicht gab. Zugleich aber, und das ist gewissermaßen der konstruktivistische Ausweis dieser Operation, tritt noch einmal die Unterscheidung System/Umwelt in das als System Unterschiedene ein. Warum?

 

 

 

Ein Programm – so könnte man Spencer Browns Artistik des ‚re-entry’, also der Wiedereinführung der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene, interpretieren  - kann seinen take-off erst dann nehmen, wenn es sich selbst durch einen Code, also die Installation einer Unterscheidung, reizbar gemacht hat. Normalerweise verdeckt dann das Funktionieren des Programms die Initialzündung, die der blinde Fleck ist, weil das Programm ihm seine Einstellung verdankt. Der Begriff des ‚re-entry’ macht darauf aufmerksam, dass man es bei solchen Operationen, die logisch weder notwendig noch zufällig, also damit kontingent sind, mit Operationen „zweiter Ordnung“ zu tun hat. Und das hat z.B. die weitreichende Konsequenz, dass Sachverhalte nicht auf der Seite der Umwelt verhandelt werden, sondern auf der Systemseite. Die Umwelt, als all das, was nicht das System ist, ist das unbeschriebene Blatt, auf das das System immer nur mit seinen eigenen Zuständen reagieren kann. Und das heißt, dass das System seine eigene Umwelt nicht kennt, nicht kennen kann. Die unter Nicht-Theorie-Verhältnissen, z.B. im Alltagsgeschehen, waltende Abschattung des ‚re-entry’ verdeckt diese Unkenntnis und simuliert dem System eine vertraute Umwelt an.

 

 

 

Doch bevor die gerade plakatierte konstruktivistische Ausgangslage Luhmanns mit Vorstellungen, die sich um das Konzept einer ‚Zivilgesellschaft’ drehen, konfrontiert werden können, müssen zunächst noch Überlegungen Luhmanns zur Gesellschaft als selbstreferenziellem System nachgetragen werden.

 

 

 

Luhmanns lakonisches Diktum zur nach-hegelianischen Gesellschaft, in der wir noch heute, als Weltgesellschaft, leben, lautet: „Es gibt keine Repräsentation der Einheit des Systems im System...“ (1985/96//53). Man mag sich z.B. fragen, was die englische Queen denn eigentlich repräsentiert: Gewiss, sie repräsentiert, sie repräsentiert in der Gesellschaft, aber sie repräsentiert sicherlich nicht die Gesellschaft. Sie, die Queen, wäre damit schlicht und einfach überfordert. Die Gesellschaft ist nach Luhmann „kein handlungsfähiges Subjekt, sondern ein System-in-Evolution“ (1990/96//165), das durch Ausdifferenzierung gekennzeichnet sei. Ausdifferenzierung meint dabei anderes als die bloße Unterscheidung etwa von Ständen in gesellschaftlichen Gebilden, die durch Inklusionsverhältnisse strikte Zugehörigkeiten zu bestimmten sozialen Lagen vorschrieben (etwa der Adel gegenüber dem Bauernstand). Eine Gesellschaft ist ausdifferenziert, wenn sie über Funktionssysteme verfügt, die über jeweils eigene Codes laufen und die als diese jeweiligen Codes nicht in andere Funktionssysteme übertragbar sind.

 

 

 

Als Beispiele großer gesellschaftlicher Funktionssysteme können Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Erziehung genannt werden. Sie organisieren sich und reproduzieren sich nach ihren eigenen Regeln. Jedes dieser einzelnen Systeme ist ein autopoietisches System, das seine Abgrenzung zur Umwelt, die alles das ist, wie bereits gesagt, was das System nicht ist, selbst determinieren muss. Jedes Funktionssystem besteht aus einer einzigartigen, unvergleichbaren und nicht übertragbaren, jedoch ständig evoluierenden System/Umwelt-Relation. Kein System kann für ein anderes einspringen oder sich an dessen Stelle setzen. Selbstreferenz (operationale Geschlossenheit) tritt an die Stelle von Fremdreferenz. Beispiele für die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme leitenden Differenzcodes sind etwa „Macht/Ohnmacht oder Recht/Unrecht, aber auch wahr/unwahr, gläubig/ungläubig, gut/böse, Geld Haben/Nichthaben, gesund/krank, usw. Die allgemeine Form dafür ist ‚dies und nicht das’.“ (L, 1994/168f.)

 

 

 

Allein diese Aufzählung macht klar, dass es sich bei funktional ausdifferenzierten Systemen nicht um exklusive Inklusionen handeln kann, wonach Personen nur einem Subsystem zuzuordnen sind; potenziell stehen alle diese ausdifferenzierten Systeme allen zur Verfügung. Anders gesagt: es geht bei diesem Typ von Gesellschaftstheorie nicht um sistierte Menschen, sondern um Kommunikationen, die ein jeweiliger Code ermöglicht und regiert. Eine Gesellschaft verträgt damit verschiedene Regimes (oder auch nicht, dazu später), aber sie hat keinen Repräsentanten mehr. Die Hegel’sche Aufhebung gelingt nicht mehr: „Die Einheit von System und Umwelt müsste im System repräsentiert werden können. Gerade hierfür gibt es in einem System, das in sich nur funktional spezifizierte Teilsysteme kennt, keinen vorbestimmten Standort.“ (1994/63) Und noch einmal, bereits mit Blick auf das kontroverse Konzept der Zivilgesellschaft: „Im Zuge der Umstellung der Informationsverarbeitung von Einheit auf Differenz fand die alteuropäische societas civilis, an die Hegels Staat noch erinnerte, keine Nachfolge. Die Faszination durch die Differenz und durch ihre Möglichkeiten, Informationsverarbeitung zu dirigieren, blockiert den Durchblick auf die Einheit...“ (1987/96//87).

 

 

 

 

 

 

 

Luhmanns Protest

 

 

 

Vorbemerkung:

 

 

 

Dem Leser wird im Folgenden ein freies Gleiten zwischen den Termini Zivilgesellschaft, soziale Bewegung und Protest(bewegung) auffallen. Das hat damit zu tun, dass Luhmann den Begriff der Zivilgesellschaft kaum (und wenn, dann im Kontext Alteuropas), den der Bürgergesellschaft gar nicht benutzt. Luhmanns kritischer Zuschnitt speziell auf Protest verdankt sich natürlich der Ausgangslage der 1980er Jahre. Gleichwohl darf vermutet werden, dass die Besetzung des gesellschaftlichen Feldes durch die Zivilgesellschaft auf vergleichbare theoretische Probleme stößt wie damals die Artikulationen der sozialen Bewegungen. Dass aber das wesentlich breiter gefasste Konzept der Zivilgesellschaft nicht einfach mit Protest überschrieben werden kann, sei hier ganz deutlich betont.

 

 

 

 

 

 

 

Angesichts wechselseitiger Kritik verschiedener soziologischer Theoriemodelle – es sei hier nur an Luhmanns Systemtheorie und an Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns gedacht – mag man sich fragen, ob man sich, durch das bessere Argument überzeugt, für das eine oder andere Modell entscheidet, oder ob nicht noch andere Faktoren ins Spiel kommen, die man vielleicht gar nicht so leicht zu benennen vermag, weil sie bereits Teil des Rahmens sind, mit dem man diese Modelle begreift. Wie auch immer: die beiden genannten hochreflexiven Theorien scheinen gegen Kritik immunologisch so weit abgefedert zu sein, dass sie am Ende immer noch auf den berühmten blinden Fleck verweisen können, um sich und anderen beruhigend mitzuteilen, dass man schließlich nicht der liebe Gott ist. Der blinde Fleck der Systemtheorie ist die Einheit, sie kommt gewissermaßen nur noch in der zweiten Reihe vor, als Abfall einer vorgängigen Differenz. Umgekehrt ist der blinde Fleck der Kommunikationstheorie die Differenz als bloßem Sprungbrett in die Einheit. Reduktionismus und Utopismus sind dann die Label, unter denen diese Theorien dann auch laufen.

 

 

 

Die selbstreferentiellen geschlossenen Systeme sind also nach Habermas unfähig, eine gemeinsame Sprache zu erfinden, „die für die Wahrnehmung und Artikulation gesamtgesellschaftlicher Relevanz nötig ist“. (H. in Alheit 137) Die aus der Lebenswelt emergierende Zivilität wird nun genau mit dieser Aufgabe betraut, von der Luhmann glaubt, dass sie als Alternative nur alternativ im System funktionieren kann. Die Rede von einer „gesamtgesellschaftlichen Relevanz“ wird man bei Luhmann allein deshalb nicht finden, weil sie theoretisch einer Entdifferenzierung der Ausdifferenzierung gleichkäme, das Ende eines autopoietischen Systems schlechthin.

 

 

 

Gegenüber Alternativen (Personen und Programmen) ist Luhmann reserviert: „Man interessiert sich für Alternativen in der Annahme, dass eine Alternative auf jeden Fall besser sei als das, was vorliegt.“ (L 86/96, 75) Er bestreitet nicht, dass eine Alternative besser sein kann, aber er präzisiert den Ort, an dem allein Alternativen Alternativen sein können: „Das Prinzip der Konstruktion von Alternativen kann nur die funktionelle Äquivalenz sein; und dies ist eine Dauermöglichkeit der Variation, die im Prinzip der gesellschaftlichen Differenzierung selbst verankert ist.“ (ebd. 76)

 

 

 

Die These, die hier aufgestellt werden könnte im Hinblick auf die Unübersetzbarkeit beider Theoriemodelle, lautete dann, dass das je unterschiedliche Äquivalenzprinzip, welches mit der Aufgabe betraut wird, Alternativen zu entwickeln, dafür verantwortlich ist, dass im einen Fall die Arbeit im System, im anderen Fall außerhalb des Systems stattfindet. Und dieses Außerhalb ist eben Zivilgesellschaft oder, wie Luhmann gewöhnlich sagt, die Protestbewegung oder soziale Bewegungen.

 

 

 

Es wäre ein großes Missverständnis, wollte man jetzt meinen, Luhmann würde Protestbewegungen ablehnen. Das könnte er schon deshalb nicht, weil er sich zu eben dem blinden Fleck bekennt, den seine Theorie produziert und er Gesellschaft als eine Art mehrfach gebrochenen ‚Neckerschen Würfel’ konstruiert, die aus mehreren Perspektiven gesehen werden kann und muss je nach Anwahl des ausdifferenzierten Systems. Anders gesagt: protestlerische Hybris kann in Information umschlagen. Das folgende Zitat beschreibt eigentlich sehr schön, dass die Teilsysteme es auch nicht besser wissen und dass Luhmann kein Systemfetischist ist; die Umwelt kann man nicht umarmen: „Nichts spricht dafür, dass die Protestbewegung die Umwelt... besser kennen oder richtiger beurteilen als andere Systeme der Gesellschaft. Genau diese Illusion dient jedoch den Protestbewegungen als der blinde Fleck, der es ihnen ermöglicht, Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation zu inszenieren und damit die Gesellschaft mit Realität zu versorgen, die sie anders nicht konstruieren könnte.“ (L 94/96, 214)

 

 

 

Wohlgemerkt: „konstruieren“; die Realitätsversorgung ist eine Irritation des Systems, das dadurch veranlasst wird, über sich selbst nachzudenken. Was dann im so genannten „structural drift“ als Alternativkonstruktion des Systems im System anfallen mag, ist mit nichts äquivalent, was es draußen in der Umwelt gibt. Äquivalenzen als Alternativen (von denen man nicht wissen kann, ob sie faktisch Verbesserungen sind) sind nur rekursiv im System einholbar. Die Funktionalität von sozialen Bewegungen etc. wird durch die Unhintergehbarkeit von Selbstreferenzialität nicht geleugnet, im Gegenteil: „Soziale Bewegungen bieten die Chance eines Realitätstest der modernen Gesellschaft, die sich in den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann.“ (L 94/96, 195)

 

 

 

Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen, Protest usw. finden ihren systemtheoretischen Ort als eine Form der „strukturellen Koppelung“. Im Anschluss an Überlegungen der biologischen Systemtheorie Maturanas und Varelas bezeichnet dieser Begriff „das, was je gegenwärtig gegeben sein muss, damit ein System seine eigene Operationsweise reproduzieren und sich dadurch selbst gegen eine Umwelt abgrenzen kann.“ (L 90/96, 165f.) Die im System durch Protest ausgelöste Irritation, Besorgnis etc. kann vom System gelesen werden als Mitteilung, dass es nicht dies ist, sondern das. Je nach Nachhaltigkeit des Protests kann dann das System damit machen, was es will. Es kann den Protest ignorieren (wenn nichts nachkommt), oder es geht darauf ein (in Rückkoppelung mit dem Protest). Was das System aber definitiv nicht kann, ist, blind den Finalisierungsthesen der Protestbewegung zu folgen: ‚Wenn wir unsere Umwelt retten wollen, müssen wir die Natur schonen.’ ‚Wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns so uns so verhalten.’ ‚Wenn wir Gerechtigkeit erreichen wollen, müssen wir an neue Umverteilungen denken.’ Etc. etc. Luhmanns Protest richtet sich nicht gegen den Protest der sozialen Bewegungen, sondern gegen ihren moralischen Fundamentalismus, ihre „sehr moralisch getönte Kommunikation“ (L 94/96, 191): Er spricht ihnen damit die systemtheoretische Dignität des „zweiten Beobachters“ ab, der von sich weiß, dass auch seine Beobachtungen zum Gegenstand weiterer Bebachtungen gemacht werden können. Der Protest hat Usurpierungsgelüste in Richtung zentrale Steuerung. Luhmann gibt ihm seinen ‚Spin’, seine Eindrehung in sich selbst zurück.

 

 

 

Im Grunde vermag aber auch Luhmann nicht, die „Diffusionszonen“ der Zivilgesellschaft, ihr Operieren in den Zwischenbereichen fester Codierungen, positiv in seine Gesellschaftsbeschreibung einzuführen. Auf der einen Seite soll es sich um „eine Art autopoietischer Systeme“ handeln, „die weder auf das Prinzip Anwesenheit (Interaktion) noch auf das Prinzip Mitgliedschaft (Organisation) zu bringen ist.“ (L 95/96, 213) Auf der anderen Seite wirft er ihr vor, dass ihr Protest nicht nach dem geformt sei, was man den Spencer-Brownschen-kategorischen-Imperativ nennen kann: Unterscheide immer so, dass die Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene noch einmal einzutreten vermag.

 

 

 

Für den Protest heißt das, dass er sich nicht mit der Gesellschaft verwechseln dürfe. Seine Intensität, vielleicht sogar seine Existenz überhaupt verdankt er aber genau dieser Identifizierung, wonach „ein einziger Zug“ metonymisch für ein Ganzes steht. Deshalb scheint Luhmann auch nur vorsichtig von „einer Art autopoietischen Systems“ zu sprechen, da die Tendenz in Richtung Selbsterhaltung ihm, dem Protest, zwar eingeschrieben ist (sein Erfolg erst wäre seine Auflösung), er sich aber hybriderweise so geriere, „als ob er die Gesellschaft gegen ihr politisches System zu vertreten hätte.“ (ebd. 206) Und das ist systemtheoretisch gesprochen der Fauxpas schlechthin. Der Luhmannsche Spin ist kein Frontkämpferkonzept. Paradoxerweise ist nun Luhmann genötigt, der Protestbewegung ein Defizit vorzuwerfen, das sie aber gerade ermöglicht. Die Form des Protestes verweist auf blinde Flecken der Gesellschaft, und diese Blindheit kontaminiert den Protest selbst. Dem Protest fehlt also, so Luhmann „die Reflexion-in-sich, die für die Codes der Funktionssyteme typisch ist; und das wird zusammenhängen mit dem unstillbaren Motivationsbedarf der Protestbewegungen, der weder auf der einen noch auf der anderen Seite ihrer Leitunterscheidung Protest ein re-entry der Unterscheidung ins Unterschiedene vertragen könnte.“ (ebd. 205f.)

 

 

 

Anders gesagt: Je komplexer sich eine Sache gestaltet (besser gesagt: je komplexer eine „Sache“ vorgestellt wird), desto weniger kann man eben dafür interessieren. Eine Protestgruppe, die man erst mit der Langsamkeit und Zähigkeit des ‚structural drift’ konfrontieren würde, verlöre bereits im Vorfeld ihrer Mobilisierung die Spontaneität und Intensität, die sie am Ende ihres möglicherweise langen Weges (durch Institutionen, Gremien etc.) dann sowieso hinter sich gelassen haben wird: „Selbstdespontaneifikation“ des Turnschuhs durch den Schlips.

 

 

 

Noch anders gesagt: Das Konzept des re-entry verdeutlicht, dass es sich bei wie auch immer komplexen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft um Beschreibungen à la carte handelt, die so in der Umwelt nicht vorkommen. „Dass man sagt“, dass also überhaupt Kommunikation stattfindet, ist bereits eine Unterscheidung, die in der Kommunikation verborgen bleibt. Jeder kommunikative Akt könnte wichtig sein. Wissen kann man das nicht.

 

 

 

 

 

 

 

Luhmanns Antwort auf die durch die heutige generalisierte Risikolage der Weltgesellschaft themenabsorptionsgeübte Klagegesellschaft der sozialen Bewegungen ist mit den vorangegangenen Überlegungen vorgezeichnet. Alle Ansprüche, wo immer sie auch herkommen, müssen im System, genauer: im ausdifferenzierten politischen System verhandelt und in Entscheidungen umgesetzt werden. In dem Aufsatz ‚Die Zukunft der Demokratie’ lanciert Luhmann zunächst die fälligen Absagen:

 

 

 

„Demokratie ist nicht:

 

 

 

1. Herrschaft des Volkes über das Volk. Sie ist nicht kurzgeschlossene Selbstreferenz im Begriff der Herrschaft. Sie ist also nicht: Aufhebung von Herrschaft, Annulierung von Macht durch Macht. (...)

 

 

 

Demokratie ist auch nicht:

 

 

 

2. ein Prinzip, nach dem alle Entscheidungen partizipabel gemacht werden müssen; denn das würde heißen: alle Entscheidungen in Entscheidungen über Entscheidungen aufzulösen. Die Folge wäre eine ins Endlose gehende Vermehrung der Entscheidungslasten, eine riesige Teledemobürokratisierung und eine letzte Intransparenz der Machtverhältnisse mit Begünstigung der Insider, die genau dies durchschauen und in diesem trüben Wasser sehen und schwimmen können.“ (L, 94/2, 126f.)

 

 

 

Luhmanns Vorschlag ist – wie könnte es anders sein – die Beibehaltung des status quo westlicher Demokratien. Demokratie ist dann nichts anderes als „die Spaltung der Spitze des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition.“ (ebd.) Die Opposition stände in der Pflicht, auf Inkonsequenzen und Selbstgefährdungen hinzuweisen. Aber – und das ist der entscheidende Punkt – es können dabei nicht verhandelt werden etwaige Selbstgefährdungen der Natur oder der Umwelt, repräsentiert von den für sie einstehenden Protestbewegungen, sondern es können immer nur die systemeigenen strukturellen Erfordernisse und Unstimmigkeiten problematisiert werden. Und das gelingt, solange es gelingt.

 

 

 

 

 

 

 

Diese beinahe buddhistisch zu nennende Resultante ist freilich nicht zumutbar. Sie ist auch theoretisch wenig ergiebig, weil nicht mehr plausibel gemacht werden kann, warum man eher für dies oder für das plädieren sollte und die Verdunkelung und Umnachtung des Systems durch den unbeherrschbaren Schatten der Umwelt sowieso permanent drohe.

 

 

 

Bekanntlich antwortet Luhmann auf sein eigenes Quietiv mit der Forderung nach noch mehr Theorie. Der Borges’sche Aberwitz der Ausdehnung der Karte auf das Territorium ist auch der Systemtheorie eingeschrieben. Und wenn sie sich spiegelbildlich immer nur selbst sehen kann, was sollte sie dagegen haben, dass auf der anderen Seite die Sprechmaschine der Zivilgesellschaft nicht mehr aufhört zu reden. Der Anspruch der Zivilgesellschaft ist kein theoretischer. Dass auch sie mit Vorannahmen arbeitet, tut dem Unternehmen keinen Abbruch, im Gegenteil, das ist ihr Motor, ihr Anspruch, ihre spezifische Artikulation, ihre Wert-Setzung. Die Sorge um sich selbst als der vielleicht kleinste gemeinsame Nenner des Zivilgesellschaftlichen wird jedem Einzelnen als Einstellung zugemutet. Diese kann dann gewissermaßen wie eine Markowsche Kette interpretiert werden: fehlende Buchstaben muss jeder selbst ergänzen, aber gänzlich frei in der Bildung des Ausgangsmaterials ist keiner. Und da der Geist aus unterschiedlichen Richtungen weht, gibt es auch so genannte hässliche Konstellationen, gebildet von eben jenem „hässlichen Bürger“, dem unterstellt wird, dass er irgendetwas falsch gemacht hat, der das aber von sich selbst gar nicht glauben mag. Das Bodenhaftungsprofil der zivilgesellschaftlichen Bottom-up-Technik beginnt zunächst mit einer spektralen Rundum-Sensibilität. Registrieren, was da ist. Die Ausschlüsse finden dann noch früh genug statt. Oder eben auch gerade nicht. Die Zivilgesellschaft ist von Anfang an und von ihrem Prinzip her mit dem anderen ihrer selbst konfrontiert. Sie ist selbst der Zombie, den sie gerne von sich abspalten möchte. Bleibt zu hoffen, dass sich die Bewertung von Asymmetrien in guten Händen befindet. Aber dieser Akt übersteigt vermutlich ihren Kompetenzbereich. Man wird sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:

 

 

 

Peter Alheit, Zur Soziologie der ‚Zivilgesellschaft’, in: Dialektik 1995/3, 135-150

 

 

 

Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1994 (2. Aufl.)

 

 

 

N. Luhmann, Umweltrisiko und Politik (1990), in: Luhmann 1996, S. 160-174

 

 

 

N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt a.M. 1996

 

 

 

Herfried Münkler, Zivilgesellschaft und Bürgertugend. Bedürfen demokratisch verfasste Gemeinwesen einer sozio-moralischen Fundierung?, Öffentliche Vorlesungen Bd. 23, Berlin 1994

 

 

 

Peter Thiery, Zivilgesellschaft - ein liberales Konzept?, in: Zur Relevanz theoretischer Diskurse: Überlegungen zu Zivilgesellschaft, Toleranz, Grundbedürfnissen, Normanwendung und sozialen Gerechtigkeitsutopien (Politikwissenschaftliche Standpunkte Bd. 1), hg. von Hans-Joachim Lauth, Manfred Mols, Werner Weidenfeld, Mainz 1992, S. 69-89