Unantastbarkeiten

Maxim Biller, Esra. Roman, Köln 2003 (Kiepenheuer & Witsch), 214 Seiten

 

Diese als Liebes- und Beziehungsroman getarnte Geschichte fragt gleich am Ende des ersten von 73 kleinen Kapiteln, warum diese nicht gut ausgehen kann und wem die Schuld dabei zuzuschreiben ist. Für den Leser fällt damit also schon ein Spannungsmoment weg oder die Erwartung eines Happyend. Das sentimental-romantische Auge ist gleich zu Lektürebeginn gegen ein analytisches einzutauschen. Man findet hier tatsächlich auch nicht die für alle Liebespaare so wichtige erste Begegnung, eventuell mit der romanesken Nachzeichnung des ersten Blicks, irgendeiner Fatalität, die gleich oder verzögert eine oder beide Personen in ihren Bann schlägt. In dieser Geschichte zwischen dem Autor Adam und der Schauspielerin Esra geht es nicht um erfüllte Liebe, sondern um die stets um das gleiche Thema kreisende Frage des Autors, warum Esra nicht dauerhaft zurückliebt. Dabei ist alles andere als klar, was Adam an Esra findet. Sicher, sie sei die schönste Frau, der er je begegnete, ihr Arsch löse jedes Mal das Bedürfnis bei ihm aus, mit ihr zu schlafen, aber daneben gibt es auch noch weniger schmeichelhafte Zuschreibungen, die geneigt sind, auch noch die schönsten Porundungen platt zu machen. Da heißt es zum Beispiel: ?Ich schüttelte oft den Kopf, wenn ich über Esra nachdachte. Ich fand sie unlogisch, irrational, feige, nachtragend, kleinbürgerlich, ängstlich, verhärtet, illoyal. Ich fand sie unmöglich, ich hasste sie, aber ich verzieh ihr trotzdem immer wieder.? Adam stellt sich im selben Moment vor, was sie von ihm hält. Er wird es nie erfahren.

Esra ist die Tochter einer türkischen Mutter und eines US-amerikanischen Soldaten. Lale Schöttle, die Mutter, ist 17, als sie Esra bekommt. Sie geht mit dem GI nach Amerika, die kleine Esra bleibt bei den Großeltern in Dilik. Nach drei Jahren geht Lale zurück nach Europa, mit einem Münchner Anwalt, den sie im Waldorf Astoria kennen gelernt hat. Auch mit ihm wird sie nicht glücklich. Irgendwann erhält sie den alternativen Nobelpreis, was ihre Stimmung kurz hebt, aber bald kehrt sie wieder zu Depression und Alkohol zurück. Esra hat sich in dieser Zeit vor allem als Sklavin ihrer Familie betätigt, in München und in Dilik. Auch sie wird früh schwanger, trennt sich aber bald von ihrem Mann, lernt Adam kennen und lieben, trennt sich, die beiden kommen wieder zusammen, aber es gibt da irgendetwas, das verhindert, dass die beiden ein Paar, später vielleicht ein Ehepaar bilden, und dieses Etwas, so vermutet Adam, ist größer als Esra. Kein Wunder, dass der Schriftsteller anfängt, manchmal ein bisschen paranoid zu werden, er verdächtigt jeden und alle, ihnen beiden im Weg zu stehen.

Aber es gibt bei all dem auch einen handfesten Grund. Adam hat in einem Roman über Lale und Esra geschrieben, was beide, vor allem aber Lale ihm nie verziehen haben. Adam sieht das eher locker. Ein Schriftsteller könne nicht alles erfinden, er bediene sich der Wirklichkeit und schreibe sie zugleich um. So ist Adam in Prag geboren, wie sein Schöpfer Maxim Biller, lebt in München usw. Gleichwohl ist dieser Roman natürlich für den, der Biller nicht kennt, noch nicht einmal ein Schlüsselroman, der sowieso voraussetzt, dass es Parallelen gebe, nur nicht angeben kann, wie weit diese gehen. In diesem ominösen Zwischenraum von authentisch und erfunden werden dann die Schlachten der sich wieder erkannt Habenden und dem bösen Autor geschlagen. Und das ist ja auch genau passiert und passiert noch. Esra und Lale schlagen auch in der Wirklichkeit zu. Warum? Vielleicht hat der Autor ein wichtigeres Geheimnis verraten als das einer unerfüllten Liebe oder die Sex-Praktiken einer geliebten Frau, die sich ausbedungen hat, dass der Autor, hier also Adam, nie über sie schreibe. Aber all das ist für den hinter Adam stehenden Autor nur ein Vorwand, vielleicht die Möglichkeit einer romaninternen Klarstellung in prinzipieller Hinsicht über die Unterschiede von Autobiografie und Autofiktion, denn diese Liebesgeschichte ist nur ein wenn auch breit ausgewalzter Anlass, etwas anderes ins Spiel zu bringen, und das ist natürlich nichts anderes als die Aufdeckung einer Verschwörungsgeschichte, hier im mythologischen Gewand.

Maxim Biller packt den alten Schabbatai ?Zwi aus, die Geschicktheit dieses jüdischen Propheten, ein Doppelleben zu führen, eines als scheinbar bekehrter Islamist, das andere als nach wie vor bekennender Jude, der den Untergang der Welt beschwört. Und dann gibt es noch die Dönme, der geheimste aller Geheimbünde, die Nachfahren des Propheten, die die Diaspora auf die Spitze treiben, weil noch nicht mal andere Juden von ihnen wissen, auch nicht der ?Halbjude? Adam. Von Esras Großeltern erfährt Adam schließlich, was es wirklich mit diesem türkischen Mädchen auf sich hat. Am Ende wird ?Esra? eine ganz finstere Geschichte gewesen sein, eine Geistergeschichte, in der die beharrenden Worte des Liebhabers Adam einfach nicht zählen konnten. Die Moral von der Geschichte? Die Gesetze anderer Welten erkennen und akzeptieren lernen: Die eigene Welt mag dann plötzlich leer sein, aber vielleicht auch ?voller Licht?. ?Esra? ist kein wirklich guter Roman. Er geht erst auf, wenn man das Buch zugeklappt hat, und für den finalen Effekt hat der Leser ein bisschen viel Mühe und Scheininteresse für eine schon so durch und durch erzählte Liebesgeschichte von Zuckerbrot und Peitsche aufgewendet, dass man auch für den Effekt nicht mehr richtig zu begeistern ist. Für zukünftige Maxim-Biller-Biografen ist ?Esra? allerdings ein unerlässliches touristisch-veristisches Dokument.

 

Dieter Wenk