Im weiten Osten so nah
Zu Marcel Beyers Gedichtband "Erdkunde"
Von Gustav Mechlenburg
Wie in der "Sachkunde", einem Schulfach, das wohl nicht mehr jedem so ganz präsent sein wird, ist auch in der ebenso verstaubt klingenden "Erdkunde" so ziemlich ein jedes Thema aufgehoben. Letztlich wird alles behandelt: von Mikroben bis zu astronomischen Konstellationen, von wirtschaftlich-politischen bis hin zu ethnisch-kulturellen Fragen. Marcel Beyer geht es in seinem neuen Gedichtband in diesem umfassenden Sinn vielleicht nicht gleich ums Ganze, jedoch um viel. Der Titel "Erdkunde" weist deshalb nicht zu Unrecht auf eine Vielschichtigkeit der Verse hin, die mit schlichter Geografie nur noch am Rande zu tun haben.
Die Gedichte handeln von Erkundungen des europäischen Ostens. Das lyrische Ich ist unterwegs in Polen, Estland, Tschechien und Kaliningrad - und in Gedanken dabei auch immer in der kriegerischen Geschichte dieser Gegenden. Es hat sich Extremsituationen ausgesetzt, fremden Sprachen, fremden Kulturen. "Die Sprachen sind mir fremd, als würde ich Pantoffeln tragen: aber ich bin da. Kunstfaser, Pelzbesatz und Einlegesohlen: alle Dinge sind mir nah."
Tatsächlich ist diese Nähe in jedem Satz zu spüren. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag Beyer prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Man fragt sich aber, ob der melancholisch-morbide Charakter des Schreibers an dem Eindruck liegt, den die trostlos-maroden Landschaften der postsozialistischen Staaten auf ihn machen, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Projektion des Reisenden handelt, dessen Lebensstil weder der seelischen noch der körperlichen Gesundheit förderlich zu sein scheint. "Ich gehe in die Breite, bin bei achtzig Zigaretten und über Tag meist stumpf, drücke mir nur am Abend ein paar Videos in den Schacht." Letztlich ist der deutsche Tourist doch immer bei sich selbst, so fremd ihm das eigene Ich auch sein mag. "Und manchmal betastet jemand meine Füße, nachts, das bin ich selbst." Oder wie in dem Gedicht "Meine Person": "Ich höre mich sprechen, ich weiß nicht zu wem, unruhige Nächte, morgens riecht es um mich nach Urin: bald hast du recht, du sagst: dass ich der Mann da drüben mit dem Laufgestänge, die eine Hand am Griff, die andere im Fach mit Sousamärschen, selber bin."
Ebenso trostlos wie der Zustand des fiktiven Verfassers sieht es auch außerhalb des Hotelzimmers aus. Ein ganzer Zyklus ist beispielsweise der Beschreibung von modernden Autoreifen gewidmet: "Brüchiges Gummi, fremde Schrift und eine Nummernfolge mit den Fingern, mit heißen Ohren vor wie vielen Jahren. Ein ganzer Satz, der Lehm knirscht zwischen meinen Zähnen, Continental vielleicht, das gute Jahr, mir liegt der Name auf der Zunge." So ärmlich die Gegenstände auch sind, die dem Beobachter so nah sind, sie haben einen Namen, stehen in einer zumeist unheilvollen Geschichte, die von ihm immer mitreflektiert wird. "Moskau ruft auch nicht mehr an, kein Räuspern in der Leitung, diese Zeiten sind vorbei", heißt es in dem Gedicht "Bienenwinter" und bringt die Verlassenheit der Gegend auf den Punkt. Die einheimischen Menschen beleuchtet Beyer teils mit Ironie, teils neutral, zumeist jedoch äußerst lakonisch. "Dann Richtung Hafen ein paar Figuren in Anoraks, Dosenbier, Loksa, November, man geht in die Disco um sechs."
Beyer malt ein düsteres Bild, und dunkel sind mitunter auch seine Sprache und Gedanken. Der kompromisslose Blick und die auch von seinen komplexen Romanen bekannte Akribie der Recherche verhindern zum Glück ein allzu sehr ins Mythisch-mystische abdriftendes Zelebrieren. Von nostalgischer Idylle sind die Verse weit entfernt. Da holt die harte Realität einen auch schon mal derb zurück. Wie in dem Gedichtzyklus "Funky Sabbath": "Wer diese Stadt verlässt, kommt nie wieder zurück." Das glaubt man gern. "Unter dem Leninmal drei Jungs in Plastikjacken, langsame Köpfe, kalte Lippen, und wenn sie sprechen, siehst du keine Zähne. Wer redet hier von Nasenscheidenwänden, die Pattextüten gehen ans Gebiß. Das Standbild zeigt sich möwenfrei, der rechte Unterarm wie immer in der Lebergegend, dazu ein Blick, als hätte die Großvaterfaust ein Glas zerdrückt. Keine Musik. Meine langsamen Hände/ Ich stehe da zur Lungerstunde, am späten Nachmittag die Sonne auf Kaliningrad. MEI HEIMATLAND, MEI WOLGALAND, hier lernst du fix, was FUNKY ganz genau bedeutet, mit dem Akkordeon direkt in deine Fresse." Schließlich wünschen die Schnüffelkinder doch noch eine gute Reise.
Passagen von solcher Klarheit sind allerdings eher selten in dem Gedichtband. Erst bei wiederholter Lektüre werden Bezüge zwischen den sich wiederholenden Motiven deutlich. Doch lohnt sich ein mehrmaliges Lesen nicht nur der Schönheit der kunstvollen Verse, sondern auch des immer wieder auftauchenden Witzes wegen. Die Reihe unter der Überschrift "Kondensmilch" ist daher auch keine Seltenheit im Beyerschen Gedichtuniversum. "Kondensmilch spielt in meinem Leben keine Rolle, und doch kommt es mitunter zu Kontakten, eher ungewollt, am Küchentisch niemals, nur in der Fremde, lustlos das Tischchen abgesucht und hingefasst."
Marcel Beyer: Erdkunde. Gedichte.
DuMont Buchverlag, Köln 2002.
115 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN 3832160078