18. April 2006

Erste spezielle Verunsicherung

 

Friedrich Nietzsches Übermensch war das Pastiche einer Wiedergeburt, die Renaissance der Renaissance. Man hat Mitleid mit der Qual, sich den meisten anderen überlegen fühlen zu müssen. Und liest man schöne alte Bücher wie Ludwig Tiecks „Vittoria Accorombona“, das im Rom des ausgehenden 16. Jahrhunderts spielt und den einen oder anderen solcher rücksichtslosen Herrenmenschen vorstellt, ist man ziemlich ratlos, was an ihnen so toll sein soll. Wie viel raffinierter und im wirklichen Sinne übermenschlich ist dagegen die genealogische Anlage in Maupassants Erzählung „Der Horla“, über deren Bezeichnung als „fantastisch“ sich Michel Serres in seinem „Atlas“ mokierte. Für Michel Serres war die Erzählung nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Identität nicht als Substanz zu denken sei, und eine weitere Gelegenheit, die paradoxe Kartografie von Selbst und anderem vorzuführen. Auf das der Erzählung zugrundeliegende geschichtliche Modell geht Serres mit keinem Wort ein. Vor lauter Ortsbegehung kein Zeitsinn. Maupassant präsentiert den Menschen anhand des Ich-Erzählers als Figur, die ein fürchterliches Bewusstsein dafür zu entwickeln beginnt, der Wirklichkeit nicht mehr gewachsen zu sein. Die Forschung deckt nicht nur auf, sondern zeigt mit jedem zurückgelegten Schritt, welch neue Terrains ebenfalls zu beackern wären. Die Menge des Nichtwissens wächst leider überproportional zu der des Wissens. Das Auge sieht das Blatt, aber nicht den Wind, der es bestreicht. Wir kennen nicht die Orte, an denen uns Worte, die man zu uns spricht, erreichen. Magnetismus, Hypnose und Suggestion sind eher hilflose Versuch, sich des Unsichtbaren habhaft zu machen. Der Ich-Erzähler fühlt sich in seiner Haut nicht mehr wohl. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, aber plötzlich glaubt er sich von einer fremden Macht besetzt. Er wird krank, bekommt Fieber, leidet an Angstausbrüchen, und er hat den Verdacht, dass noch jemand anderer unter seinem Dach wohnt, den er aber nicht sehen kann. Der Erzähler klagt seine Organe an, dass sie zu schwach seien, um ihm die nötigen Informationen darüber zu geben, die er bräuchte, um seine Umwelt adäquat wahrnehmen zu können. Er selbst beginnt, eine Genealogie der Schwachen, die von Starken abgelöst werden, zu konstruieren. Die Geschichte ist zwar keine Geschichte von Klassenkämpfen, aber doch von Kämpfen zwischen Wesen, die vielleicht bald aus einer anderen Zone kommen als der bisher bekannten von Tier und Mensch. Diesem noch unsichtbaren Wesen gibt der Erzähler den Namen des „Horla“, der sich im Französischen spricht wie „dort draußen“ (hors là). Der Erzähler, trotz seiner Verwirrung und Verängstigung, ist immer noch gefestigt genug, als guter Abendländler Versuche anzustellen, die ihm beweisen sollen, ob dieser Horla wirklich da ist oder bloß eingebildet. Aber genau hier liegt die Krux der Geschichte. Diese Grenze ist möglicherweise dabei, von eben diesem Wesen, seiner Neuartigkeit, aufgelöst zu werden, sodass es keine Gewissheit darüber gibt, was es heißen würde, von der Wirklichkeit dieses Wesens zu sprechen. Der Horla als Alien ist der ungebetene Gast, der vielleicht schon alle Hebel der Übernahme in Gang gesetzt hat, und keiner hat es gemerkt. Mit leider nur zu durchschaubaren Mitteln versucht der Erzähler, den Horla loszuwerden, obwohl er doch eigentlich selbst schon klüger sein müsste, damit aufzuhören, dem Horla eine menschliche Organik zu unterstellen. So brennt der Erzähler sein Haus ab, es sterben aber nur die Bediensteten, an die er bei der Brandlegung nicht gedacht hat. Der letzte Schritt scheint dann selbstverständlich, obwohl ein Ich-Erzähler davon dann nicht mehr berichten könnte, nämlich die Selbstvernichtung. Als ob ein Horla sich davon beeindrucken lassen würde. Irgendwie scheint die Gefahr für die Menschheit, im Anschluss an Maupassants Erzähler, aber doch nicht so groß gewesen zu sein. Oder wir haben uns damit abgefunden, mit diesem Körper zu leben, haben die Organsentimentalität souverän hinter uns gelassen und erfreuen uns an den Selbstverlängerungsmaßnahmen, mit denen wir so schön nach draußen gelangen, ganz dicht bei uns selbst.<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Guy de Maupassant, Der Horla, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)