17. April 2006

Monde entfernt

 

Iris Därmann entwickelt in ihrem Buch „Fremde Monde der Vernunft“ einen Gedanken, den sie im Untertitel „Die ethnologische Provokation der Philosophie“ nennt. Sie formuliert mit Geschick im dichten Informationsstrom, den Habilitationsschriften gewöhnlich produzieren. Anhand des ethnologisch erforschten Gabentauschs geht sie den ökonomischen und philosophischen Fehldeutungen dieses Phänomens bei den Philosophen Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl, Martin Heidegger, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida nach. „Die umfangreiche Auseinandersetzung der hermeneutisch-phänomenologischen Philosophien mit der Ethnologie eines Bastian, Frazer, Tyler, Boas, Malinowski, Lévy-Bruhl, Mauss und Lévi-Strauss wird dabei jedoch nie zum Anlass notwendiger Selbstkritik und einer Konfrontation mit dem ,Primitiven‘ im kulturtheoretischen und philosophischen Diskurs genommen.“ Eine berichtigte Kritik.

 

Im Grunde fabuliert Därmann damit den Traum der Ethnologie, auf westliche Philosophen einen pädagogischen Einfluss zu haben. Aber die Philosophie lässt sich nicht provozieren, was Därmann trotz besseren Wissens nicht davon abhält, es in ihrer Arbeit nahe zu legen, ohne freilich die Philosophie damit unter Druck setzten zu können.

 

Dass die Philosophie nicht regelmäßig bei der Ethnologie um Rat einkommt, ist eigentlich leicht zu verstehen: Die Pflege der kategorischen Impertinenz auf Seiten der Philosophie ist von der staunenden Hingabe an Phänomene des Gabentauschs bei den Ethnologen komplett verschieden. Man kann sich das auch vorstellen wie die höchst selten als solche intendierten, beleidigend verletzenden Weihnachtsgeschenke.

 

Die philosophische Beschäftigung mit der Ethnologie bleibt eigentümlich folgenlos für das hermeneutische Fremdverstehen. „Bis hin zu Derrida, der den Eurozentrismus bekanntlich mit Nachdruck zu demontieren sucht, bleiben die hermeneutischen und phänomenologischen Philosophien in der Konfrontation mit fremdkulturellen Wahrheitsansprüchen in ihren transzendental-universellen Geltungsanmaßungen und damit in den Grenzen der eigenen Kultur befangen.“

 

Natürlich schenkt auch die abendländische Philosophie viel Königliches, aber die Geschenke wechseln nie wirklich den Besitzer, sondern erhöhen nur den Schenkenden. „Der Schock des Fremdkulturellen wird aufgefangen und neutralisiert in transzendentalen oder aber ethisch aufgeladenen Theorien des Anderen und der irreziproken Gabe.“ Es ist also ein „verweigerter Gabentausch“ auf Seiten der Philosophie zu bemerken, und zwar in mehrfacher Hinsicht: a) der Verweigerung der Geschenke aus anderen Fachbereichen, ungeachtet gleichzeitiger theoretischer Gefräßigkeit und b) der Verweigerung, selbst zu schenken, im Sinne der Hoheitsabgabe.

 

Vergegenwärtigt man sich den Maßnahmekatalog zur Untersuchung fremder Kulturen der „Société des Observateurs l’homme“ Ende des 18. Jahrhunderts muss man zugeben, dass die Philosophie zu Zeiten der Aufklärung schon einmal weiter war als die Vertreter dieses Fachs in deren Nachfolge. Das ist gutes Futter für die Autorin. Anfang des 21. Jahrhunderts muss man allerdings fragen, ob Dilthey, Husserl und Derrida nicht zu einfache Feindbilder aus Sicht der Ethnologie darstellen. Die Vormachtstellung der Philosophie ist mittlerweile infrage gestellt, die Thematik des Fremdverstehens längst interdisziplinär. Nicht ohne Grund geht die Autorin nicht auf modernere Philosophen wie Alasdair MacIntyre, Richard Rorty, Benjamin Lee Whorf oder Peter Winch ein, auch der seit den 60er Jahren laufende Diskurs, der sich um den Begriff „Writing Culture“ dreht, kommt nicht vor – eine von Clifford Geertz ausgelöste Diskussion in der Ethnologie über den Umgang mit ethnografischen Texten. Alles Versuche nach der so genannten „Krise der Repräsentation“ in der Ethnologie.

 

Liest man die Fußnoten in „Fremde Monde der Vernunft“, kommen Autoren wie Fritz Kramer und mit Hinrich Fink-Eitel ein Philosoph zu Wort. Das ist die Schule, der auch die Autorin entspringt, doch genau diese kritischen neueren Ansätze verhandelt sie nicht explizit, sondern benutzt sie gegen eine vermeintliche philosophische Ignoranz der Ergebnisse der ethnologischen Forschung gegenüber. Dagegen macht sich Därmann für eine „umgekehrte Ethnologie im Modus einer Darstellung- und Äußerungsform diesseits oder jenseits von wissenschaftlichen Standards und Genrekonventionen“ stark.

 

Die Ethnologie hat aus anderen Wissenschaften viel gelernt. Denn, das ist der entscheidende Punkt, die Ethnologie hat außer ihrem empirischen Material keine universelle Metatheorie. Evolutionismus, Kulturkreislehre, Funktionalismus, Strukturalismus usw. waren oder sind alles Denkströme in der Ethnologie, kommen aber nicht genuin aus der Ethnologie. Das ist gerade ihre große Stärke. Das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten, der Blick „von außen“.

 

Das Eintreten für das Andere, das Fremde, der hermeneutische Dreischritt: Erleben – Ausdruck – Verstehen, hat viel mit der von der der Ethnologie mangelnden Durchschlagskraft zu tun, die sich aufgrund penibler Datenanamnese niemals zu radikalen Behauptungen versteigt. Das soll dann besser die europäische Philosophie erledigen. Andererseits verschafft die europäische Ignoranz der Ethnologie ja gerade ihre Daseinsberechtigung im Fächerkanon. Ein nie endendes Dilemma.

 

In ihren Einzeluntersuchungen ist Därmann gerecht, klug und, was selten ist, kurzweilig, weit davon entfernt, eine Ethnologie der Philosophie zu konzipieren, obwohl einen bei der kompakten Lieferung des Material eine radikale Beleidigung der Philosophie von Seiten der Ethnologie beginnt zu interessieren. Von einer aktuellen Provokation der Philosophie ist Därmann allerdings galaxienweit entfernt.

 

Gustav Mechlenburg

 

Iris Därmann: Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, Wilhelm Fink Verlag, München 2005, 789 Seiten, 69,- €

 

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