14. April 2006

Immigrant Song

 

René ist einer, der es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Aber man wird schnell in Schwierigkeiten kommen, wollte man sagen, wo dieses Zuhause liegt. Am wenigsten ist es sein Elternhaus, denn dort ist er gar nicht aufgewachsen, die Mutter verlor er bei seiner Geburt, der Vater gab ihn zu Verwandten. War es die fehlende Mutter, die ihn so einsam, verschroben, überspannt werden ließ? Naheliegende psychologische Gleichung, aber letztlich uninteressant. Früh schon merkt René, dass er kein Talent fürs Soziale hat. Andere Kinder, später Jugendliche langweilen ihn, Mädchen scheinen ihn nicht zu interessieren. Bis auf seine Schwester, die mit ihm aufwächst, die aber irgendwann Abschied von ihm nimmt. Je älter René wird, desto reflexiver wird sein Empfindungsleben. Er spürt eine seltsame Leere, die er auszufüllen gedenkt, aber er weiß nicht, wie er das anfangen soll. Menschen können mit ihm nicht korrespondieren. Dazu scheinen nur abstraktere Blöcke oder atmosphärische Ganzheiten in der Lage zu sein. René verlässt Frankreich, das ihm nichts mehr bieten kann, und reist nach Italien, wo er hofft, den Glanz vergangener Zeiten und Kulturen atmen zu können. Im Grunde aber kommt er wie ein heutiger passiver Tourist, der einfach darauf wartet, dass etwas passiert. Natürlich passiert gar nichts, bis auf die Spezialität, auf dem Ätna zu stehen und sich einbilden zu können, kurzzeitig den Nabel der Welt zu bilden. Solche Gefühle halten natürlich nicht an, deshalb kann ihm auch die Natur keine Gewähr der Dauer geben. Wie ein Tester seiner selbst irrt René umher. Eigentlich weiß er selber nicht, was er will. Und das sind dann die gefährlichen Momente, in denen das Vertrauen auf die Welt komplett zergeht. René denkt also daran, sich umzubringen, und es ist dann weniger der Respekt vor der Religion als die Rücksicht auf seine Schwester, dass er nicht Hand an sich legt. Seine Schwester, Amélie, scheint sein weibliches Pendant zu sein, sie hat ihm voraus, dass sie einmal geliebt hat, aber sie hat sich dabei „schuldig“ gemacht, was in der Korrespondenz zwischen dem Geschwisterpaar geflissentlich verklausuliert wird. Der Aufenthalt ist der von Geistern. Geistern, die das nahezu perverse Verlangen haben, sich hinter Mauern einzuschließen, als ob die sonstige soziale Randständigkeit noch nicht genügen würde, den selbst gewählten Abstand zu den anderen zu wahren. Die Schilderung der Gottesweihe der Schwester im Kloster gehört mit zum Irritierendsten, was man in der Literatur zum Thema Entweltlichung lesen kann. Hierhin führen alle Wege zurück, die spätere literarische Bereiter von schwarzen Messen und Laborierer an neoromantischen Empfindsamkeiten beschritten haben. Man schaut sich bei der eigenen absoluten Hilflosigkeit zu, empfindet den dazugehörigen seelischen Schmerz und kann nur hoffen, dass es einen möglichst bald irgendwo anders hin trägt. René beschließt, nachdem ihn in Frankreich nichts mehr hält und auch sonst der ganze Kultur- und Naturkreis abgeschritten ist, nach Amerika zu fahren. Hier beginnt Chateaubriand mit seiner Erzählung, René lebt bei Indianern, den Natchez, er ist sogar mit einer Frau dieses Stammes verheiratet, aber auch die durchaus bejahte Wildheit und Natürlichkeit vermag den störrischen Europäer nicht zu integrieren. René bleibt abseits. Zwei Greise gehören zu seinen Bekannten, die ihm irgendwann sein Lebensbekenntnis abverlangen, und so erzählt der einsame Held voller Scham und mitleidheischend seine Geschichte. Er stößt auf geteiltes Echo, einer der Greise, ein Missionar, ist erzürnt ob dieser asozialen Daseinsweise und empfiehlt die Rückkehr in die immer offenen Arme der Kirche. Menschen wie René sind natürlich unbelehrbar. Sie leben in ihrer eigenen Kapsel, die sie nie entlässt. Man sollte kein Mitleid mit ihnen haben. Man sollte ihnen jedoch danken, dass sie einen nicht belästigen und Kundschaft von sich geben allein über Dritte, denen zu danken ist, dass sie sich jedes Urteil über diese Singularität schenken.<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Chateaubriand, René, in: Französische Erzähler von Chateaubriand bis France, Leipzig 1951 (Dieterich)