4. April 2006

Lektionen in Kleinteiligkeit

 

Es stellen sich immer wieder Glücksgefühle ein, wenn man beim Lesen mit Behauptungen konfrontiert wird, die nicht gedeckt scheinen, die aber mit einer derartigen Keckheit, Selbstverständlichkeit oder auch Frechheit vorgetragen werden, dass man bedauert, dass so etwas nicht viel öfter passiert. Instantan verschwinden ganze Berge von Selbstverständigungsliteratur, ganze Debatten gerinnen zur Marginalie, und wenn der Autor es auch noch schafft, dem Leser das Gefühl zu geben, auch schon die ganze Zeit so wie er gedacht zu haben, ist ein Pakt geschlossen, über den man sich auf beiden Seiten nur freuen kann. Am Anfang seines Aufsatzes über den norwegischen Autor Jens Peter Jacobsen sagt Ripplinger also: „Am Ende von Friedrich Nietzsches wichtigster Schrift findet sich die Feststellung:…“ Es folgen ein Zitat und eine dieses abschließende Fußnote, wo der Leser auf Nietzsches angeblich wichtigste Schrift verwiesen wird. Es ist nicht der „Zarathustra“, nicht „Jenseits von Gut und Böse“ oder die „Genealogie der Moral“, schon gar nicht der „Wille zur Macht“, sondern eine „aus dem Nachlass des Jahres 1872“ publizierte Schrift, nämlich die kleine Kostbarkeit „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“. Natürlich ist es wahr, dass man seit den Tagen der Dekonstruktion gelernt hat, aus Fliegen Elefanten zu machen und Lesbarkeiten, also clichierte Sichtbarkeiten, zu zertrümmern. Umso schöner das Erlebnis, wenn realisiert wird, dass Fliegen keine Fliegen, sondern mindestens Katzen oder Füchse sind. Ripplinger arbeitet dekonstruktiv, aber man merkt es nicht. Der Leser wird also von dem ganzen Jargon verschont, was eine große Befreiung ist. Nichts von akademischem Posertum oder dem Versuch, die Julia Kristeva der Frühzeit an klinisch-aseptischem Strukturalismus zu übertreffen. Auf der anderen Seite kommt erst gar nicht der Verdacht auf, dass sich eine Beschäftigung etwa mit dem Phänomen des Gedankenstrichs in der Lyrik, hier am Beispiel der Dichterin Emily Dickinson, nicht lohne, weil zu marginal. Ripplinger braucht keinen Aufsatz, um den Leser davon zu überzeugen, dieser ist im Gegenteil bereits am Anfang mittendrin und sieht sich als Geschworener in einem Gerichtsverfahren vergattert, wo es um Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn geht. Also um Literatur. In dem Aufsatz über Dieter Roth und Joseph Joubert tauchen die Elefanten wieder auf, über deren textuelles Gehege im literarischen Nicht-Werk sich Ripplinger Gedanken macht. Wenn Stendhal seine Helden oder Chargen allenthalben vom Pferd fallen lässt, so vermutet man ganz richtig, dass es sich dabei nicht um fiktionale Kalauer handelt, sondern dass dadurch stellvertretend ein Verhältnis ins lächerliche Licht gesetzt wird, das nur auf niedrigstem romantischen Niveau durch ein Happyend zu liften ist. Liebe ist Pflicht, ja Tortur. Viel mehr als Geschichten interessieren den Autor Verläufe, also Abwege, aber auch Abwegigkeiten. Aber nirgendwo verliert sich Ripplinger oder kokettiert damit. Das ist seine Antwort auf die, wie er sagt, seit etwa 1990 „immer kecker vorgetragene Behauptung, ,Geschichten zu erzählen’, ,Geschichten zu hören’ sei ein menschliches Grundbedürfnis; Ripplinger sieht darin eher „terroristische Züge“, grausamste Wirkung der „Versimpelung“. Man mag sich Ripplinger ein bisschen wie einen modernen Sokrates vorstellen, einen Maieutiker, einen Entbinder, der einen auf verschiedene Stationen mitnimmt und dort die jeweiligen Techniken untersucht, mit denen gearbeitet wird. Die Namen (Montesquieu, Celan, Char, Dante, Bossuet, Onetti, Leopardi u.a.) stehen nicht nur für scheinbar abgeschlossene Werke, sondern auch für bewegliche Zonen, also für das, womit durch Literatur etwa geschieht. Und auf diesem Niveau scheint Literatur eminent engagiert zu sein. Die meisten der hier versammelten Aufsätze sind Ausarbeitungen von bereits in der von Stefan Ripplinger mitbegründeten Wochenzeitung „Jungle World“ erschienenen Texten.

 

Dieter Wenk (02.06)

 

Stefan Ripplinger, Auch. Aufsätze zur Literatur, Basel/Weil am Rhein 2006 (Urs Engeler Editor)

 

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