31. März 2006

Internationale Bildsprache

 

Bei Bildzeichen wie gelber Kreis mit sternförmig angeordneten Stangen rundherum, also Sonne, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, ob es einen gab, der das als verbindliches Zeichen etablierte. Bei Firmenlogos schon.

 

Zum Beispiel das Logo der Deutschen Bank, quadratischer blauer Kasten mit Diagonale. Viele, viele Künstler haben das Zeichen zitiert, man findet es gemalt, gestrickt, gesprüht, als Imageträger des ungeheuer waltenden Kapitals. Wer das Logo zitiert, meint die Bank, nicht das Zeichen. Das ist ja gerade das Praktische, man muss nicht lange erzählen und schreiben, auch noch in verschiedenen Sprachen und Alphabeten, sondern: Bildzeichen sind nun mal – international. Aber wer hat sich das Zeichen ausgedacht?

 

In Stuttgart gibt es eine Ausstellung, die den Erfinder diverser Logos, also einen Erfinder des Corporate Design, zum 100. Geburtstag mit einer Retrospektive ehrt.

 

Anton Stankowski (1906 – 1998) war Grafiker und Künstler. Die Grenze, die vor allem von Künstlern gezogen wird, zwischen freier und angewandter Arbeit, galt weder für sein Selbstverständnis, noch für die Rezeption seiner Entwürfe. Stankowski war vieles, Maler Zeichner, Funktionsgrafiker und unermüdlicher Ideenerfinder, seine in Stuttgart auch gezeigten Skizzenbücher quellen über.

 

Er konzipierte eine Gestaltungslehre und experimentierte mit Farbe auf rotierenden Grammophongeräten, lange vor den begeisterten Akklamationen für Künstler, die ihre genialische Malhand durch eine funktionierende Malmaschine ersetzten.

 

Stankowski träumte davon, Werbung zu machen, die gleichzeitig künstlerische Gestaltung ist. Stankowski ließ sich nie herbei, vortäuschende Wunschbilder zu konzipieren. Seine Entwürfe sind klar, konkret und transportieren Informationen auf einer formalästhetischen Ebene.

 

Stuttgart zeigt eine exemplarische Ausstellung zur Entwicklungsgeschichte visueller Kommunikation im 20. Jahrhundert. Im Hatje Cantz Verlag erscheint der Katalog mit Texten zahlreicher Autoren. Um einen Eindruck von der Verve zu geben, mit der dies Ausstellungsprojekt entwickelt ist, folgt hier der ausgezeichnete Katalogbeitrag von Hans Heinz Holz.

 

Nora Sdun

 

 

 

 

Zu Anton Stankowski: Geistesgeschichtliche Koordinaten

Hans Heinz Holz

 

Seit Beginn der Neuzeit hat sich in der Welteinstellung des europäischen Menschen eine Wandlung vollzogen, die bei Galilei und Descartes ihren initialen methodischen und systematischen Ausdruck fand und die mit der ersten industriell-technischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr die Lebensweise auch des Alltags ergriff und veränderte. War zuvor das Erkenntnisinteresse in erster Linie auf die Wesenseigenschaften einer Sache gerichtet, so ging es nun um die Relationen der Sachen zueinander und deren Wechselwirkung.

 

Der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff formuliert Beziehungen, nicht das Seiende an sich – und Kant hat folgerichtig das »Ding an sich« als unerkennbar aus dem eigentlichen Erkenntnisprozess eliminiert und sich auf die Analyse der Phänomene, also des Füreinander-Erscheinens beschränkt. Bei Hegel geht der Begriff der Substanz in den des »substanziellen Verhältnisses« über, bei Marx der der Materie in den des »materiellen Verhältnisses«. Die kompakte Dinglichkeit, die sich uns in der Sinneserfahrung aufdrängt und von der der Begriff des Gegenstandes ausgegangen war, verschwindet mehr und mehr hinter den wechselseitigen Abhängigkeiten in Konstellationen und Bewegungsabläufen, deren Einheit nur durch Abstraktion vom sinnlichen Datum in der Bedeutung des Einzelnen für eine geordnete Ganzheit zu konstruieren ist.

 

Dass auch die bildende Kunst an diesem Paradigmenwechsel teilhatte und ihm gemäß neue Modi der visuellen Darstellung ausbildete, versteht sich von selbst; denn Kunst ist ein Teil der allgemeinen Lebensweise, und Stil ist ein ganzheitliches zeitgeschichtliches Phänomen, das eng mit der Produktionsweise des materiellen Lebens zusammenhängt, und ist nicht nur als Kunstform zu verstehen. Aber selten wird in kunst-theoretischen und -kritischen Untersuchungen nach den Übereinstimmungen gefragt, die zwischen den weltanschaulich-theoretischen Konzepten einer Zeit und der künstlerischen Produktion bestehen.

 

Die Kunst hat im 20. Jahrhundert zum erstenmal seit der Antike programmatisch die Wende vollzogen, sich in ihren Darstellungen nicht mehr auf die dingliche Gestalt von Wahrnehmungsinhalten zu beziehen. (Dabei lasse ich die anderen weltanschaulichen Bedingungen der islamischen Kunst außer Betracht). Natürlich nimmt alle Kunst am dinglich Wahrgenommenen Verformungen vor, ordnet und verfremdet das Gesehene, um an den Erscheinungen das in ihnen enthaltene Wesen sichtbar zu machen.1 Aber auch die fantasievollste Re-Konstruktion oder Re-Produktion eines Sachverhalts appellierte an das Wiedererkennen einer dem Menschen gegebenen äußeren Wirklichkeit. Diese Gegenständlichkeit wurde nun preisgegeben.

 

Dennoch zögere ich, von »gegenstandsloser Kunst« zu sprechen (wie es oft geschehen ist). Denn auch die auf die Bildmittel (Formen, Farben, Materialien) reduzierten Bildinhalte sind doch »Gegenstände« unserer Anschauung; und eben das hat Max Bill gemeint (und vor ihm schon Wassily Kandinsky und Theo van Doesburg), als er die rein auf Formgehalte des Sehens sich beschränkende Kunst »konkret« nannte. Dass reine Formen an sich selbst und in Konfigurationen Träger von Bedeutungen sind und als solche Gegenstände unserer Wirklichkeitsperzeption, hat Anton Stankowski in seinem wunderschönen Unterhaltungs- und Lehrbuch für Kinder und Erwachsene Gucken vorgeführt.

 

Stankowskis formale Kompositionen demonstrieren den syntaktischen Ursprung von Bedeutungen. Wie in der Sprache sich die bestimmte Bedeutung eines Worts erst aus seiner Stellung, ihrer grammatischen Kennzeichnung (Numerus, Kasus, Tempus etc.) und dem Kontext mit anderen Wörtern im Satz ergibt, so erwächst auch in der bildenden Kunst die bestimmte Bedeutung eines Bildelements aus der Ordnung des ganzen Werks.

 

Substanz und Funktion. Es sind die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, in denen sich – neben anderen Stilrichtungen wie zum Beispiel dem Surrealismus, der Neuen Sachlichkeit, dem Spätimpressionismus – das Interesse zahlreicher Künstler auf die Syntax der Bildsprache richtete. Nicht mehr die substanziellen Objekte der Außenwelt oder ihre Verwendung in Fantasiege-bilden des Bewusstseins reizten sie zur Gestaltung, sondern die funktionalen Abhängigkeiten der Bildmittel im Prozess der Herstellung eines einheitlichen Ganzen. Dazu Theo van Doesburg: »Konkrete und nicht abstrakte Malerei, denn nichts ist konkreter, wirklicher als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche. Sind auf einer Leinwand etwa eine Frau, ein Baum oder eine Kuh konkrete Elemente? Nein – eine Frau, ein Baum, eine Kuh sind konkret im natürlichen Zustand, aber im Zustand der Malerei sind sie weit abstrakter, illusionistischer, unbestimmter, spekulativer als eine Linie.«

 

Was die Künstler in diesem Sinne als Gegenstand der bildnerischen Gestaltung entdeckten und ausarbeiteten, entspricht genau jener Bewegung des logischen und metaphysischen Formalismus, die sich seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts eine führende Stellung in der systematischen Philosophie erobert hat. Hier wurde die Frage nach dem opaken So-sein einer Substanz

abgelöst durch die Frage nach den funktionalen Bestimmungen einer Sache in Relation zu anderen, letztlich also durch die Frage nach dem funktionalen Zusammenhang eines Relationsganzen.

 

Ernst Cassirer hat diesen Wandel in der Auffassung vom Gegenstand der Metaphysik systematisch zusammengefasst: »Alle Bestimmtheit, die wir an der ›Materie‹ der Erkenntnis festhalten können, kommt ihr lediglich relativ zu irgendeiner möglichen Ordnung zu. [...] Die Funktionsformen bilden ein festgefügtes System von Bedingungen: und nur relativ zu diesem System erhalten alle Aussagen über den Gegenstand einen verständlichen Sinn. [...] Weiter als bis zu diesen allgemeinen Beziehungen vermag der Gedanke nicht zurückzudringen: denn nur in ihnen ist das Denken selbst und ist ein Gedachtes möglich«. Schon Leibniz hatte seinen Substanzbegriff der Monade als Ausdruck der Funktion der in ihm zusammengefassten Wirkungen definiert. Leitend wurde diese Konzeption durch Frege, der mit der strikten Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem und der Grundlegung einer vom Bezeichneten unabhängigen Theorie der Zeichen die Erforschung der reinen Formalismen in Gang gesetzt hatte.

 

Frege hat allerdings durchaus gesehen, dass diese Trennung von Zeichen und Bezeichnetem, wie fundamental sie auch für die Methodologie des Denkens ist, für eine Beziehung des formalen Denkens auf die materialen Erkenntnisinhalte nicht ausreicht. Die Beziehung x2 = 1 gilt nicht für jedes beliebige x, sondern nur für x = -1 und x = 1. Diese inhaltlich bestimmte Besetzung des unbestimmten x – nach Freges Sprachgebrauch das »Argument« – ist definiert durch die funktionale Wechselwirkung der auf den beiden Seiten der Gleichung erscheinenden Elemente. Sie ist der »Wahrheitswert«, der durch die eigentümliche Bedeutung des Gleichheitszeichens konstituiert wird. Zeichen dieser Art sind Regelkonstanten für die Verknüpfung der Variablen. Ohne Setzung solcher Regelkonstanten ist eine Welt – die Vielheit von Relationsgliedern – nicht denkbar und ein System nicht konstruierbar.10 Bildnerisch wurde dieses Programm einer strengen Konstruktion von Richard Paul Lohse ausgeführt und von ihm theoretisch begründet.

 

Darüber hinaus ist es jedoch unerlässlich, den Variablen der Funktion einen bestimmten Inhalt zu geben, damit der funktionale Zusammenhang und sein Wahrheitswert festgestellt werden kann. Setze ich in die Funktion 100 x = y für x Soldaten und für y Kompanie ein, so ergibt das einen Sinn; setze ich aber für y Milchstraße ein, so ist der Funktionsausdruck sinnlos. (Erst durch eine zusätzliche semantische Operation, nämlich eine metaphorische Interpretation, kann ein sinnloser Funktions-ausdruck sinnvoll werden – zum Beispiel Augustins Ausspruch, der Staat sei eine Räuberhöhle).

 

Der syntaktische Formalismus bedarf also einer auf die Funktionsglieder bezogenen Bedeutung, die sich erst innerhalb des syntaktischen Gefüges herstellt oder eruieren lässt. Leibniz nannte dies die »substanzielle Form«, wir sprechen heute von Struktur. Richard Paul Lohses modulare und serielle Ordnungen geben Beispiele für die Bedeutung von Strukturen – in diesem Falle Strukturen moderner industrieller Produktions- und Lebensweise. Ich habe im Hinblick darauf von ontologisch orientiertem Konstruktivismus gesprochen. Anton Stankowski dagegen geht von einer situativ bestimmten Bedeutung für das Verhalten aus. »Menschliches Verhalten wird durch visuelle Kommunikation beeinflusst. Das Bild kann helfen, abstrakte Vorgänge zu verstehen, Vorgänge technischer Art in kurzer Zeit besser zu erlernen. In der Zeit des Spezialistentums kann somit das Bild erkenntnisvermittelnde Funktionen übernehmen.«

 

Das Bild wird als Orientierungszeichen Bedeutungsträger. Musterbeispiel kann der Pfeil sein. »Irgendwann haben wir ihn für uns neu entdeckt, als das Zeichen für Richtung, als Medium der Kommunikation, als Symbol für Bewegung. Der Pfeil stellt uns vor die Frage nach dem Ursprung, nach dem Woher, und nach dem Ziel, dem Wohin. Wir erkennen in ihm Ursache und Wirkung, Absender und Adressat. Und auch wie er sich zwischen beiden Enden bewegt, sagt viel aus.« Zentrum des Verständnisses ist das Wort Kommunikation. Ich nenne dies dann semantischen Konstruktivismus. Ein Vokabular dieser Semantik hat Stankowski in dem Buch Bildpläne vorgelegt, das geradezu ein Lehrbuch des Kunstunterrichts sein könnte.

 

Semantischer Konstruktivismus hat immer auch eine ontologische Komponente (wie umgekehrt ontologischer Konstruktivismus eine semantische). Viele Bilder Stankowskis sind reine Strukturanalysen und dennoch gibt es in ihnen immer eine Dynamik, die den Betrachter auf den Weg schickt; es liegt ein Appellativum in ihnen, sie ruhen nicht in sich, sondern teilen sich in einer Situation mit, in der wir in Bewegung versetzt werden. Dazu gehört, dass Stankowski der Unregelmäßigkeit in der geregelten Ordnung einen Platz einräumt. Das ganz und gar Regelmäßige wird zum Erkenntnisgegenstand, der Einbruch des Unregelmäßigen erregt ein lebendiges Verhalten. Nur muss das Unregelmäßige selbst wieder in den Funktionsausdruck eingebunden bleiben, sonst wird es bedeutungslos. Komplexität ist das Paradox des systemsprengenden Systems, der dialektische Widerspruch.

 

Bedeutung und Verwendung Der Zusammenhang der bildnerischen Werkkonzeption der Konstruktivisten mit den wissenschaftstheoretischen Impulsen, die von der Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgingen, ist leicht einzusehen. Die Parallele ließe sich auf die Grundlagentheorien der Naturwissenschaften übertragen,16 die weltanschaulichen Deutungen der Relativitätstheorie, der Systemtheorie in Biologie und Technikwissenschaften, der Verhaltensforschung, der Kybernetik folgen ähnlichen Mustern. Der Strukturbegriff ersetzt den Substanzbegriff. Strukturen werden als funktionale Ordnungen beschrieben.

 

Es wäre ein Missverständnis, in der funktionalen Selbstbezüglichkeit reiner Formen ein Indiz oder gar eine Rechtfertigung für Subjektivismus zu finden. Das Verhältnis der reinen Form, also der Bild-Logik in sich, zur Wirklichkeit, in der das Kunstwerk als ein Stück dieser Wirklichkeit steht und zu der es sich verhält, ist reflexiv. Erinnern wir uns, was Wittgenstein dazu sagt: »Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zueinander verhalten. Das Bild stellt dar, was es darstellt, unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit, durch die Form der Abbildung. Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Was das Bild darstellt, ist sein Sinn. In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit. Das Bild hat mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein. Wir könnten von einer ’unlogischen‘ Welt nicht sagen, wie sie aussähe.«

 

Man muss sich diese, hier in der Reihenfolge ein wenig umgestellten, Sätze aus dem Tractatus ganz deutlich machen, um den realistischen Charakter jeder Bildbeziehung zu erkennen. Ein Bild ist immer etwas anderes als die abgebildete Wirklichkeit. Es ist selbst ein eigenständiges Moment der Wirklichkeit, aber es ist nur ein Bild (und also mehr als ein Ding), wenn es sich auf die ihm äußere Wirklichkeit repräsentierend bezieht (als Zeichen, als Modell, als Abbildung – jedenfalls stellvertretend für einen Aspekt, unter dem die Wirklichkeit sich zeigt). Als eigenständig Wirkliches hat das Bild einen Sinn in dem, was es ist; und das ist nicht das Dargestellte, sondern die Darstellung. Die Darstellung impliziert, dass es ein Darzustellendes gibt. Die Darstellung wird jedoch nicht wahr oder falsch, weil sie mit dem Dargestellten übereinstimmt oder nicht; sondern weil der Sinn der Darstellung der Wirklichkeit entspricht. Jedes Bild bedarf also einer Sinn-Deutung (Interpretation), sonst ist es stumm, und diese darf nicht beliebig sein, sondern muss »etwas mit dem Abgebildeten gemein haben«. Das ist die Bedeutung, die das Abgebildete in der Form der Abbildung für den Betrachter hat. (Darum ist der Flaschenständer von Duchamps kein Bild, sondern die Provokation einer Reflexion auf das, was ein Bild im Unterschied zu einem Objet trouvé zum Bild macht). »Nach dieser Auffassung gehört also zum Bilde auch noch die abbildende Beziehung, die es zum Bild macht«.

 

Von diesen Erwägungen Wittgensteins her lässt sich die kategoriale Originalität Stankowskis begreifen. Die meisten konstruktivistischen Künstler haben auch Produktformen gestaltet; aber die Gestaltung bleibt Design neben der freien Bildkunst. Stankowski dagegen gewinnt seine Konzepte nicht nur in der Grenzzone, sondern aus der Grenzzone, wo Design und freie Kunst ineinander übergehen. Bedeutungen sind nicht nur kontextuell gebundene Erkenntnisse von Sachverhalten, sondern Auslöser von Handlungen, so wie das Rot der Verkehrsampel »Halt« sagt und das Grün »Geh!«. Den Sinn eines Bildes kann ich mir äußerlich entgegenstellen und ihn verstehen, seine Bedeutung zieht mich in das hinein, was es sagen soll. Damit wird eine Dimension angesprochen, die die Denker der logischen Form von Frege bis Carnap ausgeblendet haben: die praktische Funktion des Bildes im Lebensvollzug.

 

Ein Bildzeichen wie ein Wort bezeichnen etwas als dieses Bestimmte – zum Beispiel eine männliche Gestalt auf der Außenseite einer Tür ist das Zeichen für den Zugang zur Herrentoilette. Das Zeichen hat einen definitorischen Charakter; das durch ein Zeichen Bezeichnete ist wie durch einen Eigennamen als diese Sache (und keine andere) ausgewiesen. Das Namensschild am Briefkasten ist ein Zeichen für den Briefträger, und was es zeigt, ist die gegenständliche Identität einer Person, der das Objekt (der Kasten) zugeordnet ist. Dieses Verhältnis hat die formale Logik mit Ausschließlichkeit an den Anfang ihrer Systematik gestellt. Die Definition gibt die gegenständliche Identität des elementarsten Gliedes logischer Beziehungen, des »logischen Atoms«. In ihrer Identität fixierte Elemente fügen sich zum Urteil zusammen, sie bilden einen Satz. Urteile verbinden sich zu einem Schluss. Das ist der Aufbau der Logik, sozusagen im Baukastensystem. Anders angelegte Verhältnisse – zum Beispiel Frage, Wunsch, Befehl – werden in Aussagebeziehungen (Prädikationen) umgeformt, um nach den Regeln der Logik geprüft und behandelt werden zu können.

 

Aber die Transformation von Sachverhalten aller Art in eine Proposition aus wohl definierten Bezeichnungen ist eine artifizielle Verkürzung der sprachlichen Repräsentation von Weltbeziehungen zum Zweck einer objektivierenden Erkenntnis. So sagt Hans Lipps: »Die ’Bedeutung‘ eines Wortes ist nicht nur eine Lesart dafür, daß man mit diesem Wort etwas bezeichnen kann. [...] Man versteht die Dinge, sofern man mit ihnen umgeht; man versteht etwas, sofern man damit umgehen, d.i. es behandeln kann. [...] ’Etwas begreifen‘ heißt: es in der Bedeutung verstehen, unter der es sich unter einem bestimmten Sinnhorizont zeigt. [...] Die Dinge ’bedeuten‘ etwas. Man versteht und begreift sie auf eine Bewandtnis hin, die es mit ihnen im Rahmen einer Situation hat. [...] In den Bezüglichkeiten, in denen es steht zu andern Dingen usw., entdeckt man seine Zustände, Beschaffenheiten, Eigenschaften. In den ’Seiten‘, auf die hin man etwas begreift, ist es je verwiesen auf.« Die auffällige Nähe der Terminologie zu Martin Heideggers Daseinsanalytik in Sein und Zeit darf nicht verdecken, dass es Lipps um das Problem des praktischen Verhaltens, um die Relation zwischen der identischen Gestalt des Bild-Zeichens und seiner funktionalen Verwendung im Zusammenhang von Lebensvollzügen geht.

 

Bild-Zeichen, die Verhaltens- und Verfahrensregeln geben, müssen eindeutig sein. Ein Wegweiser verliert seine Funktion und mit ihr seinen Sinn, wenn undeutlich ist, in welche Richtung er zeigt. Abbildungen dagegen können ihre Bedeutung erst durch Interpretation bekommen. Goyas Radierung El sueño de la razòn produce monstruos (Capricho 43) mag heißen, dass die Ausschaltung der Vernunft (der Schlaf) Ungeheuer aufkommen lässt, oder aber auch, dass ein Schweifen der Vernunft (der Traum) Ungeheuer hervorbringt. Die Doppeldeutigkeit des Wortes »sueño« (Schlaf oder Traum) entspricht möglichen Bedeutungslesarten der Bilddarstellung. Im ersten Fall der Bezeichnung oder Definition liegt ein Sinn fest, im zweiten Fall der Bedeutungskonstitution wird er erst durch die Auslegung geschaffen. Auf diese Differenz hat Edmund Husserl aufmerksam gemacht: »In der realisierten Beziehung auf den Gegenstand kann ein Doppeltes ausgedrückt werden: einerseits der Gegenstand selbst, und zwar als der so und so gemeinte. Andererseits sein ideales Korrelat in dem ihn konstituierenden Akt der Bedeutungserfüllung, nämlich der erfüllende Sinn. [...] Da konstituiert sich der Gegenstand als ’gegebener‘ in gewissen Akten, und zwar ist er uns in ihnen in derselben Weise gegeben, in welcher ihn die Bedeutung meint«.

 

In eben dieser Differenz hat das seinen Ort, was Lipps mit einem Ausdruck Heideggers »Bewandtnis« nannte. Eine Anweisung muss unmissverständlich sein, ein Sachverhalt kann verschiedene Aspekte haben. Die aus dem Sachverhalt zu gewinnenden Informationen können in verschiedenen funktionalen Beziehungen eingesetzt werden. Ein Firmenzeichen kann eine Identität markieren (etwa um Nachahmungen zu verhindern, ein Produkt dem Gedächtnis einzuprägen und damit eine Kaufgewohnheit zu erzeugen, sich von der Konkurrenz zu unterscheiden etc.); es kann einen Qualitätsstatus signalisieren, der in einer Produktlinie eingehalten wird; es kann eine Produkteigenschaft ausdrücken; und jede dieser Funktionen kann zugleich den anderen dienlich sein. Von dieser mehrseitigen Funktionalität hat Stankowski Gebrauch gemacht, als er seine berühmten Logos konzipierte.

 

Als ich Anfang der 1990er Jahre die Halbjahresschrift TOPOS für dialektische Theorie gründete, bat ich Anton Stankowski um einen Vorschlag für die Umschlagseite. Er begriff sofort, dass das Signet die Idee der Dialektik sichtbar machen müsse: Die Einheit gegenläufiger Bewegungen, die Spiegelsymmetrie des Unterschiedenen, das Ineinanderwirken aus der Distanz, das Wechselverhältnis und Ineinanderumschlagen von aktiver und passiver Kraft (»vis activa« und »vis passiva« bei Leibniz). Ich hatte ihm natürlich nichts von diesen Theorieperspektiven geschrieben – wie hätte ich es wagen sollen, seiner kreativen Fantasie eine Richtung vorzugeben! Um so betroffener und entzückter war ich von seinem Entwurf eines einfachen Emblems, das alle diese Aspekte paradigmatisch ausdrückt; und dass vollends dieses Emblem auch noch eine Anspielung auf das uralte chinesische Symbol der Dialektik von Yin und Yang enthielt, die traditionelle Eurozentrik der westlichen Philosophie durchbrechend, Heraklit und Lao Zi unter einem Strukturzeichen vereinend.

 

Besser konnte ich mich und die Sache nicht verstanden wissen. Dass dieses Emblem die Gestalt einer sich in der Bewegung offen haltenden, jedoch zentriert aufeinander bezogenen Raumkonfiguration hat, visualisiert zugleich den Namen der Zeitschrift: Topos – die Stelle im physischen Raum, die der Ort eines geistigen Kosmos ist, in dem sich die ausgedehnte Welt als Einheit gedacht zusammenschließt. Dieses Zusammenfallen von Sinn und Bedeutung, von Sein und Bewandtnis geschieht nur in der von dinglichen Assoziationen entlasteten reinen Form. In solch formalen Emblemen können wir die eine und invariante Realität repräsentieren, die sich uns immer in den Variationen vieler Perspektiven zeigt, welche unseren wechselnden Stellungen im Ganzen entsprechen. Leibniz gebrauchte dafür das Gleichnis vom Wanderer, der um eine Stadt schreitet und sie von jedem Aussichtspunkt aus in einer anderen Konfiguration ihrer Gebäude sieht; immer aber ist es dieselbe Stadt. Der große Mathematiker Andreas Speiser hat denselben Gedanken in unserer Zeit formuliert: »Wir sehen alle Gegenstände der Außenwelt bloß in einer Perspektive, die sich unausgesetzt ändert. Kein Mensch hat je einen Tisch gesehen, wie er wirklich ist, sondern stets nur in einer Teilansicht, relativ zu seinem Standpunkt. Der Tisch selbst ist ein unveränderlicher Gegenstand, der sich unausgesetzt in verschiedenen Ansichten präsentiert. Er ist also eine Invariante, ein Unveränderliches, in einer unabsehbaren Menge von Bildern. Achten wir auf dieses Gesetz: in dem scheinbar ungeordneten Ablauf unserer Vorstellungen erscheinen invariante Gebilde, eben die Gegenstände im Raume, unsere Vorstellungen sind keineswegs zufällig und willkürlich, sondern durch ein Gesetz verbunden mit seienden Gegenständen, sie sind bedingt durch etwas Absolutes, also relativ zu diesem. Solche Sachverhalte kann die Mathematik a priori bilden, und es entsteht die Relativitätstheorie, die aber eigentlich eine Invariantentheorie ist« Der Künstler ist es, der in den Variationen die Invarianz aufscheinen lässt.

 

Anton Stankowski, Aspekte des Gesamtwerks, Staatsgalerie Stuttgart 8.4. – 2.6. 2006 (Weitere Stationen: Haus Konstruktiv Zürich 23.8. bis Ende Oktober 2006, Museum Folkwang, Essen, Anfang 2007)

 

Anton Stankowski 06, 400 Seiten, Hatje Cantz, 58,– €, Erscheinungstermin: April 200, Texte von: Karl Duschek, Hans Heinz Holz, Peter von Kornatzki, Werner Meyer, Kassandra Nakas, Anne Reckert, Jörg Stürzebecher, Stephan von Wiese, Usula Zeller u. a.