14. März 2006

Zustände und Sequenzen

 

Man muss erst zum Hasen werden, um zu merken, wie toll man springen kann. Man sieht auf der Einladungskarte zur Ausstellung einen außerordentlich elegant springenden Hasen. Die Überwindung der Angst hatte Jan Hendrik Meyer im Sinn, bei der Konzeption dieses Bildes. Die Überwindung der Angst ist hier das Überfliegen des festen Grundes. Solange der Hase die Erde nicht berührt, steigt keine neue Angst in ihm auf. Aber springen tut er nur weil er Angst hat.

 

Das ist die entgegen gesetzte Geschichte zu der Sage des Giganten Antaios. Dieser nötigte nämlich Fremde, mit ihm zu ringen. Wenn er hochgehoben wurde im Kampf, verlor er seine Kraft. Doch wenn er wieder seine Mutter, die Erde, berührte, gewann er neue Kraft. Antaios verließ sich voll auf diesen Effekt, dumm von ihm, denn als er mit Herakles rang, hob ihn dieser hoch und erdrückte ihn in der Luft. Klarer Fall von Ursachenanalyse auf Seiten Herakles und daraus resultierender nachhaltiger Entwicklung.

 

Zurück zum Hasen: Er hat nicht eigentlich Angst vor dem Boden, aber auf diesem nähert sich sein Feind. Der Boden hat sich also als nicht ganz verlässlicher Lebensgrund, nicht wirklich wohnlich behagliche Gegend entlarvt. Und so springt und rennt er denn. 80 km/h kann er machen auf der Flucht. Wegen seiner Schnelligkeit erscheint der Hase als Sinnbild der rasch dahineilenden Lebenszeit. Wegen seiner Furchtsamkeit gilt er als Symbol für Angst und Feigheit. Er ist geradezu beängstigend fruchtbar, was ihm die unterschiedlichsten Unterstellungen einbrachte. In Städten wie Hamburg und München heißen die Wohnviertel mit einer sozialkritischen Fruchtbarkeit jedenfalls Hasenbergl oder Mümmelmannsberg. Aber das alles hat mit diesem Hasen nur entfernt zu tun.

 

Es geht hier um die Überkreuzkonstellation von beglückendem Sprung und berauschender Geschwindigkeit mit der Ursache dieses Verhaltens, nämlich einer panischen Angst.

 

Solche Zustände gibt es viele zu sehen bei Jan Hendrik Meyer. Es geht um Konstruktionen von Wirklichkeit, um Dokumentationen gängiger Wahrnehmung, und sie zielen auf eine Frage, nach den Ursachen. Dies ist eine der gefährlichsten Fragen, der man sich als Künstler aussetzen kann, weil man damit am Ast sägt, auf den man sich gerade hinauskapriziert hat. Warum springt der Hase? Und wäre es nicht gut, wenn er keine Angst haben müsste? Moralisch gut wäre das, aber auch ästhetisch schön? – die ewige Zwickmühle der Künstler.

 

Meyer beschäftigt sich mit Konstitutionen von Medien und Wirklichkeit. Er malt Fernsehstills. Auffällig ist die überwiegende Mehrheit von Studiosprecherszenen, es ist ein genaues Abbild des beim Zappen erzeugten Eindrucks: Nasen, Frisuren und klappende, schnappende Kiefer. Es sind Nachrichtensprecher, Sportkommentatoren und Showmaster. Entertainer für das Wohlfühlgefühl in der Schachtel des Immergleichen.

 

Paradoxe Situation: Es sind keine angenehmen Themen, die dort verhandelt werden. Katastrophen, Denunziation, Schadenfreude, sogar beim Fußball nichts als Angst des Tormanns vorm Elfmeter. TV ist die Büchse der Pandora, abgefüllt auf Sendeformate. Auf Flaschen gezogen, deren Genuss ungefährlich und behaglich gleichförmig ist. Merkwürdige Begebenheit, dass die eigene Angst durch die Präsentation von fremden Katastrophen zwar nicht geringer, aber effektiv verdeckt ist. Behaglichkeit stellt sich ein, wenn man fremde Furcht importiert und auf einem Bildschirm laufen lässt. Die Betrachtung des Immergleichen im Fernsehen schützt zuverlässig vor der Wahrnehmung des Immergleichen in der eigenen Schachtel. Dem eigenen Kopf.

 

Jede Wirklichkeit ist inszeniert: Das Fernsehen erwartet einen zu jeder Stunde mit einer so königlich rein gewaschenen Wirklichkeit und jeder Menge Erklärungen, dass es eigene klägliche Bemühungen in dieser Richtung spielend und um Längen schlägt. Die Künstlichkeit dieser TV-Inszenierungen ist zum Brüllen, aber keiner wundert sich über die seltsamen Kulissen, in denen die Weltinformationen verbreitet werden.

 

Welchem verschrobenem Hirn wohl die stromlinienförmigen Tische der Tagesschau entsprungen sind – es soll wohl auf die schnelle Durchleitung der Informationen zum Zuschauer weisen, aber es ist eben keine Durchleitung sondern in erster Linie die Inszenierung einer Durchleitung.

 

Jan Hendrik Meyer trägt dieser Situation Rechnung, indem er so schnell malt wie möglich, und doch alles malt, was man sehen kann, normalerweise aber nicht beachtet. Die Hast, die in den Nachrichten verbreitet wird, ist im starren Schwarz-weiß-Bild spürbar als Absurdität. Die Inszenierung wird deutlich, die Banner die durch die Gurgeln laufen, die Sendezeichen in den Bildschirmecken, die besonders den kirchlichen Würdenträgern irritierend vor der Stirn stehen, wie Etiketten einer ganz eigenen Glaubwürdigkeit. Das Thema ist nicht das Thema. Die Darstellung von Wirklichkeit ist das Thema.

 

Unter diesen Voraussetzungen kann man sich die Spielfilm-Sequenzen Meyers anschauen, sie stammen aus Hitchcock-Filmen. Die Sequenzen, die er für die Bildreihen auswählte, haben mit angstvollen Zuständen zu tun, deren Ursache unerklärlich ist. Hier passiert das, was uns das Fernsehen durch sein permanentes erklärendes Gequatsche behaglich unmöglich macht. Die unidentifizierbare, weil nicht erklärte, aber offensichtlich Furcht einflößende Situation springt auf den Betrachter über. Man projiziert. Und es ist in diesem Fall der eigene Kopf, der die Angst entwickelt. Das gilt für diese stehenden wie die laufenden Bilder im Film.

 

Das Verstörendste für den gesunden Menschenverstand ist das offensichtliche Fehlen von Gründen für ein Verhalten. Kausalität ist der Mörtel unseres Denkens, und wenn der fehlt, kracht das Gedankengebäude zusammen. Die Frage nach den Gründen, die sich nicht ergründen lassen wollen, verursacht schließlich Panik.

 

Eine weitere Arbeit Meyers, die nicht gemalt, sondern modellhaft arrangiert und mit Sound ausgestattet ist, heißt „Positves Umfeld“. Menschen stehen um den Maler an der Staffelei herum und jubeln ihm begeistert zu. Wie einfach wäre alles und wie schön, wenn alle sich gegenseitig zu ihrem Sein und Tun beglückwünschen würden – aber auch dies kleine Arrangement beginnt in seiner Bedeutung zu kippen. Erst lacht man, aber irgendwann wird man hysterisch. Die kleine Installation ist ein Modell für ein großes Glück. Aber sie is,t je länger man schaut, ein Szenario, so etwa wie das des Zauberlehrlings, der den Besen zum Wasserholen schickt und der hört nicht damit auf und es gibt eine Überschwemmung.

 

Künstler rufen Geister und werden sie nur schwer wider los.

 

Eine wahrlich psychotische Installation befindet sich in der Abstellkammer. Sämtliche zur Verfügung stehenden Lichtmetaphern, die durch die Bank positiv besetzt sind, geraten hier in Schwierigkeiten, es liegt daran, dass Jan Hendrik Meyer die törichte Verhaltensweise von Motten imitiert, auch noch als Käfer. Er kriecht verhundertfach zum Licht der trüben Deckenbeleuchtung. Das Licht der Erkenntnis, hier das Licht der Abstellkammer, was den Käfer Meyer nicht abhalten kann, dennoch dahin zu kriechen. Dies Verhalten entspricht nicht unseren Vorstellungen, von gut aussehender Erkenntnis. Aber vielleicht weiß es der Käfer einfach besser.

 

(Ausstellung in Lauenburg, 2005)

Nora Sdun