8. März 2006

Auf Sand gesetzt

 

Projektionen geben die Möglichkeit an die Hand, Vervollständigungen im Diskontinuierlichen vorzunehmen. Es gibt Projektionen in die Vergangenheit, in die Zukunft, bewusste und unbewusste, personale und projekthafte. Die Überschreitung des Kontinuums (man kann auch sagen: eines operationalen Systems) gibt sich als magisches Denken zu erkennen. In der Literatur ist das erlaubt (wenn auch nicht mehr ganz so unproblematisch wie früher, man denke an den allwissenden Erzähler), in der Wissenschaft verboten (oder zumindest auszuweisen als heuristisches Denken), im Essay interessant. Wenn der Essay gelingt. Nils Röller hat sich in seinem Buch über Melvilles „Moby Dick“ und speziell zur Erzählerfigur Ismael viel vorgenommen. Nichts weniger als das Verlassen des abendländischen Logos stehe dort auf dem Programm. Da „Ahabs Steuer“ viel mit Medien zu tun hat, schiebt der Autor eine Reihe anderer Autoren zwischen sich und den Roman. Allen voran den Dichter und Literaturwissenschaftler Charles Olson, der in John Hustons erstem gescheitertem Moby-Dick-Filmprojekt den literarischen Spin-Doktor abgab. Man muss sich Olson ein bisschen wie Paul Gauguin vorstellen; angewidert von der eigenen Zivilisation (in US-amerikanischem Kleid), angezogen von einer Welt, die nicht die eigene ist, hier die vergangene Welt der Mayas, denen eine bestimmte Orientierung in der Welt unterstellt wird, die verloren gegangen ist. Das Stichwort ist Relationalität, Eingebundensein in ein „dynamisches Kraftfeld“, das zum Beispiel die Haut geschmeidig mache.

 

Röller segnet das unbesehen ab, ebenso Olsons Überlegung, dass das „innerliche Kraftfeld“ der Mayas eine „Parallele zur modernen Physik und Geometrie, vor allem zu Heisenberg und Riemann und zu dem Dichter und ,Raumkünstler’ Melville“ darstelle. Darüber hinaus gehe Olson, was für die „medientheoretischen Überlegungen“ von Röllers Essay „maßgeblich“ sei, von einer „strukturellen Vergleichbarkeit ästhetischer und naturwissenschaftlicher Prinzipien“ aus. Was diese Prinzipien strukturell vergleichbar mache, wird hier nicht untersucht. Man hat es in „Ahabs Steuer“ eher mit Blöcken zu tun, die sich unverbunden gegenüber stehen. Ein Drittel des Textes beschäftigt sich mit Interna der Mathematik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die man als Nicht-Mathematiker nicht versteht, und von denen man auch nicht weiß, was sie mit Melville zu tun haben. Perspektivische Raffinessen des Erzählers Melville gleich als „Alternative zum gewöhnlich nicht hinterfragten raumzeitlichen Kontinuum der Welt“ zu lancieren, das auch gleich noch für den „abendländischen Logos“ verantwortlich gemacht wird, geht nicht an. Das geht einem als Leser ein bisschen zu schnell. Man wird auch gar nicht darüber informiert, wie denn die moderne Naturwissenschaft zum abendländischen Logos steht: Dialektik, absolute Neuschöpfung? Die (bewusste) Vagheit des Essays paart sich an einigen Stellen mit Ungeschicklichkeiten der Formulierung und der bloßen Argumentation mit berühmten Autorennamen, die dann die weitere Auseinandersetzung unterschwellig besorgen sollen. Eine Probe: Paradoxerweise geht es auf Seite 87 gerade um „Feinbestimmungen“, was folgt, ist Grobheit schlechthin:

 

„Das Wort Affekt nimmt eine Formulierung von Deleuze und Guattari auf. [Das ist zumindest nachlässig geschrieben.] Sie sprechen vom Ozean-Effekt, den Melville im „Moby Dick“ geschaffen habe. Seit Melvilles „Moby Dick“ lässt sich der Ozean anders sehen und zwar als Verbindung zwischen Ahab und dem weißen Wal. [Hier kommt man sich gelinde gesagt auf den Arm genommen vor.] Zur Gestaltung dieses Empfindungsblocks war Ismael notwendig. [Es gibt leider keine Literaturhinweise von Röller, wo man was zu Deleuze’ „sensation“ lesen könnte] Das gestattet eine Analogie zu Weyl. [Wie, dass Ismael notwenig war?] Seine Denkbewegung hat den Möglichkeiten epistemischen Zauderns vor dem Unendlichen Ausdruck verliehen. Sein Denken gewann in Zwischenbereichen Kontur…“ Es ließen sich noch viele andere Beispiele anführen für ein unverbundenes Nebeneinander von Charakteristiken, die dem Roman gelten sollen, und Erzählungen aus dem abstrakten Bereich mathematischer Grundlagenforschung. Das erste hätte doch sein müssen, etwas mehr Distanz zu Olson zu erreichen. Was interessiert denn die x-te Version vom angeblichen Gleichgewicht, in dem sich etwas mal befunden haben soll. Over – und aus.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Nils Röller, Ahabs Steuer. Navigationen zwischen Kunst und Naturwissenschaft, Berlin 2005 (Merve)

 

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