28. Februar 2006

Wahrnehmen konstituiert sich nichtlinear

 

Die Malerei von Olaf Holzapfel ist von starker, oft suggestiver Räumlichkeit geprägt, die sich in seinen Bildern kühl und unter Ausschluss beinah aller Referenz entfaltet. In diesem „beinah“ steckt ein interessantes Grenzmoment: Einerseits ist diese Malerei tatsächlich vollkommen abstrakt, ganz ohne mimetische Relikte. Und doch ruft sie Vorstellungsbilder auf, die an wirkliche, an konkrete, nicht formale Räume denken lassen, ohne dass sich so ohne weiteres sagen ließe, worin die empfundene Verknüpfung eigentlich besteht. Das kann ein bestimmtes Raumgefühl, kann die Erinnerung an einen Blick aus dem Fenster sein – ein Eindruck, der sich vor das Bild schiebt, der von ihm ausgeht, ohne dass er sich darin fixieren ließe. Das wirkt wie komprimierter Wirklichkeitsgehalt, und dennoch bleibt das Gemälde ganz, was es ist: zweidimensional Bildhaftes mit räumlichen Komponenten. Es scheint die Farbe selbst zu sein, die Raum in dieser Malerei konstituiert und zugleich bildhaft auflädt.

 

Holzapfel bindet, insbesondere in bestimmten Bildtypen, formale, sehr reduzierte räumliche Schemata ein, die auf Wahrnehmung des Realen abzielen. In „Winter“ oder den vier Bildern „Susanne geht in den Garten“ zum Beispiel fungiert ein einfaches, auf seine Grenzen verwiesenes Raumschema als Bezugsfeld für die Malerei. „Green Lake“ ist dem verwandt, tendiert aber deutlich zum Landschaftlichen. Doch solche den Bildraum stabilisierenden euklidischen Koordinaten werden von der Malerei sogleich wieder unterwandert, mit hybrider Farbräumlichkeit gekreuzt, die der mimetischen Raumauffassung widerspricht. Die Bilder erscheinen wie die radikale Vereinfachung des Raums, in dem man selber steht, während sie ihn zugleich als etwas vollkommen anderes zeigen: Als ein synthetisch Abstraktes, in clusterhafte Multidimensionalität hinein verwickelt. In Bildern wie „Schanze“ oder „Dir blaue Zuneigung“ wird solche disparate Dimensionalität noch weitergehend ausgetragen.

 

Diese Malerei hat das Hybrid verinnerlicht; in sorgsam austarierter Vagheit agiert sie nurmehr in der Spur eines analogen Gestaltens, das sie doch erkennbar abgestreift hat. Quasi auf virtuelle Weise gegenstandslos, baut sie von dort her ihr Reibungsverhältnis auf, verlockt zum Wirklichkeitsbezug. Holzapfel geht von der Entleerung eines mimetischen Darstellungsraums aus, um, alles andere als formal, ihn mit dahinein verflochtenen, gefalteten, malerisch aus genuiner Virtualität hervorgetriebenen Räumen zu besetzen.

 

Das hat viel mit veränderter Wirklichkeitsauffassung zu tun, die sich nicht mehr analog, also nach Prinzipien von Ähnlichkeit und einer Ordnung des zeitlichen Nacheinanders strukturiert. Holzapfel hat eine abstrakte Sprache entwickelt, die das Diskontinuierliche in sich trägt. Abstraktion ist darin nicht länger „Abziehen von etwas“, ist keine Kunstpraxis des Reduzierens von Gegebenem. „Digitales Denken“, so Friedrich Meschede in einem Versuch über gegenwärtige Abstraktion, „basiert auf der Virtualität mehrerer Räume und auf gegenläufigen Zeitimpulsen. Es zerlegt ein Kontinuum in Segmente und Fragmente, die sich wieder neu zusammensetzen. Dabei ist entscheidend, dass eine lineare Zeitstruktur von Vorher/Nachher aufgehoben wird. Die analoge Aufeinanderfolge von Informationen ist suspendiert. Es entstehen Netze, die [...] keines Bodens mehr bedürfen.“(1) Meschede sieht in zeitgenössischer Abstraktion insofern ein „Gebilde mit vielfältigen Komponenten,“ das als „Denkmodell einer Hybridkultur“(2) fungieren kann.

 

Tatsächlich sind die Gemälde von Olaf Holzapfel so etwas wie „abstracts“ der Räume heutiger Erfahrungswelt, geprägt von bild- und eben auch realitätsgenerierender Medialität. Ihre Ungegenständlichkeit speist sich aus faktischer Vielfalt visueller Welten, die von „Medienpiktogrammen, programmierten und analogen Bildsystemen, Landschaften, horizontalen Reihen, nicht synthetisierbaren Medien, Cuts, Samplings, Ebenen, Sphären, bipolaren, in allem sehr spezifischen Denkformen“(3) bestimmt ist.

 

Holzapfel bildet das nicht etwa ab, sondern nimmt es als Wirklichkeitsmoment und als Strukturprinzip in seine Malerei hinein. Eine Art von „Bodenlosigkeit“, die sich auch in anderen Werkgruppen zeigt, in plastischen Arbeiten ebenso wie in Computerzeichnungen: „Der Absolute Zusammenhang“ etwa ist gesampelte Struktur, die visuelle Ereignisse als Ausbreitung ohne Mittelpunkt organisiert und sich, nonhierarchisch, doch zum Bild verdichtet. Holzapfel, der auch Einflüsse elektronischer Musik auf seine Arbeit hervorhebt, verglich eine solche offene, durch Häufung und disparate Zentren konstituierte Bildeinheit einmal mit der Erfahrung, durch eine fremde Großstadt zu laufen, während sich ein Gefühl für deren Zusammenhang durch Streuung, wie aus einem Schwarm visueller Erfahrungen heraus entwickelt.

 

Wahrnehmen konstituiert sich dabei nichtlinear, wie im Krebsgang, oder auch: „Seitwärts geradeaus“. So heißt ein neues, zweiteiliges Gemälde Holzapfels. Gegenüber perspektivisch strukturierter Raumwirkung wie etwa in den bereits genannten Bildtypen erscheint Tiefenillusion hier viel ungebundener, über Valenzen des Farbraums selbst gelenkt. Eine Reihe schmaler, weißer und deutlich konturierter Flächen tritt nach vorn, flottiert in vier übereinander angeordneten Bahnen lose auf hellviolettem Grund. Lineare Grids durchziehen, ebenfalls waagerecht, das Bildfeld, mit schnittartig kurzen Ausläufern nach oben oder unten, mal senkrecht, mal nach links oder rechts gebogen. Der Bildraum ist von uneinheitlicher Lichtführung geprägt und wirkt, als sei er aus mehreren Richtungen und mit wechselndem Fokus von Strahlern ausgeleuchtet. In solche runden, weich verlaufenden Abschattungen brechen aber auch harte Helligkeitswechsel ein, und in schmalen Schnitten tritt sogar die weiße, unbearbeitete Leinwand ins Bild. Ein gelenkter Zusammenprall, an dem jede lineare Raum- und Bildlogik kollidiert. In solchen komplexen Brüchen zeigt sich auch, inwiefern es Holzapfel zuerst und zuletzt um Farbe geht, darum, wie sich von ihr her Räumlichkeit gewinnen lässt. Indem er Farbe setzt, übersetzt er sie: Zu eigenem Raum, der ausstrahlt und keiner Mimesis mehr folgt.

 

Jens Asthoff

 

(1) Friedrich Meschede, „Vorhang auf“, in: Ders. (Hg.), „Etwas von Etwas – Abstrakte Kunst“, Köln, 2005; S.10–32, S.26.

(2) ebd.

(3) Olaf Holzapfel, zitiert nach: Wolf Jahn, Vortragsmanuskript, Juni 2003, unveröffentlicht.

 

www.galerie-gebr-lehmann.de