28. Februar 2006

Ausstellung im Künstlerhaus Lauenburg

 

Verschleiß heißt die Ausstellung. Verschleiß ist die unerwünschte Veränderung der Oberfläche von Gebrauchsgegenständen durch Lostrennen kleiner Teilchen infolge mechanischer Ursachen, z.B. Reibung. Verschleiß tritt an Lagern, an Kupplungen, Getrieben, Düsen und Bremsen auf. Verschleiß ist einer der Hauptgründe für Bauteilschädigung. Es wird versucht, den nicht zu vermeidenden Verschleiß auf einfach auszutauschende Bauteile einzugrenzen, die man unter dem Begriff Verschleißteil zusammenfasst.

 

Die Humanmedizin hat bereits diverse auszutauschende Bauteile für den menschlichen Körper erschlossen. So kann man Nieren ein- und ausbauen, auch Herzen und Lebern lassen sich transplantieren. Auf Grund der Tatsache, dass man sich bisher noch nicht auf den Sitz der Seele einigen konnte, lässt sich diese nicht austauschen.

 

Ist ein Auto ohne Räder ein Auto? Ja. Ist ein Mensch ohne Beine ein Mensch? Ja. Ein herumliegendes Bein ist aber kein Mensch. Genauso wie ein herumliegender Reifen kein Auto ist, auch dieser Motorradtank ist kein Motorrad. Ein Mensch ohne Seele ist tot.

 

Dieser Gedankengang ist schon ziemlich alt. Aristoteles machte sich Kopfzerbrechen über die Seele und im Speziellen darüber, was den Dingen nur anhängt und was sie ausmacht. Was hält sich durch an einer Person, und wann hat es mit dem Ursprungsding nichts mehr zu tun? An diesem Punkt der Überlegungen begegnen sich die Begriffe Verschleiß und Erinnerung.

 

Menschen sind einem nicht zu vermeidenden Verschleiß ausgesetzt. Und auch wenn die Seele kein einfach auszuwechselndes Verschleißteil ist, ist auch sie dem Verschleiß unterworfen. Mächtiger Widerpart dieser kläglichen Gesamtentwicklung ist die Erinnerung. Sie lässt einen Jahre später erröten, man sieht sich klein mit einem törichten Gesichtsausdruck an einem Lagerfeuer stehen, oder stolz und wild entschlossen die Funken aufwirbeln. Auch wenn einem der Auslöser für eine solche Hitze im Gesicht nicht immer bewusst ist, es gibt ein Ding, einen Klang, ein Bild oder eine Begegnung, die jeweils aktuell die Erinnerung in Gang bringt und vergegenwärtigt.

 

Claus Becker hat Zeichnungen und Objekte arrangiert, die genau diese vergegenwärtigende Funktion erfüllen können oder auch nicht, denn die Wahrnehmung ist sehr verschieden, und ob die Erinnerung herzklopfend anspringt, hat nicht so sehr mit Kunst, sondern mit dem eigenen Leben zu tun. Aber Claus Becker hat diese Objekte so gewählt, dass sie auf einer metaphorischen Ebene diese Prozesse beschreiben, selbst wenn man sie nicht in den eigenen Erinnerungen nachvollziehen kann.

 

Ein Raketenstock ohne Rakete ist keine Rakete mehr, berichtet aber allerlei. Von einem Fest, einem Feuerwerk, einem Rausch und entsetzlichem Kater am folgenden Tag und vor allem von guten Vorsätzen – ja besonders von denen. So kann man sich im Frühjahr schon errötend an die bereits gebrochenen Vorsätze erinnern, an hysterische Freudenbekundungen und begeistert leuchtende Augen beim abfackeln von Briefkästen und Telefonhäuschen. Alles in allem ein seltsames Fest.

 

Die Erinnerung hängt dem Gegenstand an. Sie macht den Raketenstock nicht aus, wohl aber den, der sich erinnert. Erinnerung ist unteilbar, individuell und wesentlich menschlich (Ich rede hier nur von menschlichem Erinnerungsvermögen, weil Rehe keine Kunst produzieren). Ohne Erinnerung funktioniert jedenfalls fast gar nichts mehr.

 

Genauso wie ohne die Provokation von Erinnerung durch Gegenstände und Begebenheiten sehr bald eine gedankliche Stumpfheit auftritt, eine innerliche Verlotterung einsetzt und der Verschleiß der Seele zu galoppieren beginnt. Aus diesem simplen Grund erfand sich die Menschheit die Kunst. Denn sie erfüllt drei Dinge: Distanz zum Alltag, Erzeugung von Gefühlen und Vergegenwärtigung von Abwesendem. Sie liefert Artefakte, die die Erinnerung in Lauf zu bringen verstehen. Sie tut das auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Claus Becker verfährt assoziativ.

 

Die Asche im ausgestellten Plastikkübel ist nicht das, was jedermann zur Nachahmung empfohlen sein soll, man soll ja gerade keine heiße Asche in Plastikcontainer füllen, aber ein kleines schwarzes Regenfass berichtet vielleicht von einem Zwang, immer das tun zu wollen, was partout nicht erwünscht ist, nämlich im übertragenen Sinne heiße Asche in Plastikgefäße zu füllen.

 

Der Verschleiß, der sich bei solchen unvernünftigen oder gesellschaftlich nicht anerkannten Aktionen meist umso heftiger entwickelt, wird kompensiert mit einer sagenhaft schillernden Erinnerung an diese unvernünftige Tat. Nachts auf einer Baustelle einzubrechen und den 80 Meter hohen Kran zu erklimmen, beschert einem eine eingerissene Jacke, verdreckte Schuhe, gesundheitsgefährdende Panikattacken, aber eben eine sprühende Erinnerung daran.

 

Sind die Auslöser für die Erinnerung, und die Erinnerung selbst im Hirn erst einmal fest verknüpft, kann nur noch eine anständige Amnesie diese Konstellationen wieder trennen. Hier sind die nachvollziehbaren Auslöser in der Menge Gegenstände und gegenständliche Motive.

 

Um den oft belächelten, gern und geradezu verzweifelt dringend verdrängten Konkretismus dieser auslösenden Funktion zu belegen, zitiere ich jetzt etwas aus dem hierfür berühmtesten Buch vor, es ist, wie sollte es anders sein: „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ und die bis zum abwinken repetierte Passage mit den Madelaines – Hier ist ein Keks verantwortlich für die Entwicklung eines über 5000 Seiten langen Erinnerungsromans. Eine Erinnerungsodyssee. Jeder hat davon gehört. Kennen doch alle schon. Die Madeleine, die Weißdornbüsche, kann man langsam nicht mehr hören. Ja ja, fünfmal angefangen in den letzten fünfzehn Jahren und nie über Seite 120 hinausgekommen. Dieser blöde Kuss, diese blöden Madeleines. Hier wird eine Erinnerung wach, die eher ein Widerstreben gegenüber bildungsbürgerlichen Stellreflexen ausdrückt. Aber Ausstellungsbesuche und Ausstellungstexte gehören zum Repertoire bürgerlicher Rituale und deshalb kommt nun Proust zu Wort.

 

„Ich lehnte den Tee erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen. Sie ließ daraufhin eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen holen, die man „Petites Madeleines“ nennt und die aussehen, als habe man dafür die gefächerte Schale einer Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. ...

 

Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, daß sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, daß sie aber weit darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart sein mußte. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen? Ich trinke einen zweiten Schluck und finde nichts darin als im ersten, dann einen dritten, der mir etwas weniger davon schenkt als der vorige. Ich muß aufhören, denn die geheime Kraft des Trankes scheint nachzulassen. Es ist ganz offenbar, daß die Wahrheit, die ich suche, nicht in ihm ist, sondern in mir. Er hat sie dort geweckt, kennt sie aber nicht und kann nur auf unbestimmte Zeit und mit ständig schwindender Stärke seine Aussage wiederholen, die ich gleichwohl nicht zu deuten weiß und die ich wenigstens wieder von neuem aus ihm herausfragen und unverfälscht etwas später zu meiner Verfügung haben möchte, um eine entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen. Ich stelle die Tasse ab und wende mich meinem Geist zu. Er muß die Wahrheit finden. [...] Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray..., sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Leonie anbot, nachdem sie es in ihrem schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte.

Wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfaßbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.“

 

(Nora Sdun)