27. Februar 2006

Wir fahren noch nicht auf der Autobahn

 

Natürlich lässt sich ein Roman nicht aus lauter Langeweile und Überdruss signalisierenden „etceteras“ aufbauen. Und doch ist der ständige Verweis auf das Seinesgleichen der eigentliche Katalysator dieses Buchs. Es schreibt und liest sich als Spekulation auf die ungedeckte Seite der Realität. Darin unterscheidet es sich von Andreas Maiers Erstling „Wäldchestag“, der trotz seiner oft doppelt-konjunktivischen Einfassung eine stärker analytische Ausrichtung zeigt. Das mochte an der charismatischen, den Roman stärker bündelnden Figur des Sebastian Adomeit und der ambivalenten Mittlerfigur Schossau gelegen haben. Die mehrfachen formalen Rahmungen dieses Romans entfallen in „Klausen“. Was nicht heißt, dass der Zugriff auf die Wirklichkeit einfacher und weniger umständlich wird. Andreas Maier führt uns im Gegenteil vor, dass auf die Wirklichkeit immer schon zugegriffen worden ist, und zwar in den meisten Fällen auch ohne das Dabeisein der Wirklichkeit.

 

Das einzig Verlässliche firmiert in ein paar Ausgangsdaten – hier in Gestalt eines Ortes, Klausen in Südtirol, und einer Reihe von mehr oder weniger wichtigen Personen – alles Weitere erfindet sich, und zwar von Anfang an, wie von selbst. Der Autor lässt keine Gelegenheit aus, die Fiktionalisierung der Wirklichkeit durch sich überlagernde und meist sich widersprechende Perspektiven auf eben diese Wirklichkeit, die sich dadurch entzieht, vorzuführen, zugleich gelingt es ihm, eine Zielgerichtetheit des Berichteten und Erzählten zu unterstellen, wodurch sich eine romaninterne Dramatik inszenieren lässt, die doch keine andere ist als die des dokumentierten Geredes. Der Sturm hat also mal wieder nur im Wasserglas stattgefunden, aber da jeder sein eigenes Gefäß mitgebracht hat, kommt es dann doch erst mal zu einem Getöse, dessen An- und Abschwellen Andreas Maier souverän aufzeichnet. Im Grunde funktioniert die chorale Fatalität des Romangeschehens wie die Ehrenrettung der Hermeneutik durch André Gide, nach der Verstehen heißt, sich eine Frage zu stellen (z.B. was in Klausen passiert ist), auf die das, was man davon versteht (meist Bahnhof), die genaue Antwort ist (was ein ziemlich lustiges Mosaik ergibt), bevor auch diese scheinbare Rettung das Schicksal einer sich selbst verzehrenden Tinguely’schen Maschine ereilt.

 

Außer Lesen nichts gewesen? Im Gegenteil. Klausen ist ein bisschen mehr als nur ein kleiner touristischer Grenzort. Wer in Niederflorstadt von „Wäldchestag“ war, kennt sich auch hier aus, ohne erst groß seine reiche Individualität bemühen zu müssen. Eine herrliche Typenkomödie findet statt, deren alles andere als auf bloße Fiktion beschränktes Gesetz darin besteht, dass sich Kommunikation in den meisten Fällen in stupider, manchmal auch raffinierter Selbstbestätigung erschöpft. Wenn jeder dem anderen sein eigenes Undsoweiter unterstellt, ohne dass es zu einer offiziellen Paraphierung kommt, dann kann es schon mal zu grotesken und doch sehr menschlichen Ausuferungen der so genannten Wirklichkeit kommen, die man dann nicht mehr von seinem eigenen Bild unterscheiden kann. Auch Klausen ist ein Tatort. Als Sprechort. Man muss ihn unbedingt gesehen und gehört haben. Katharsis? Ja, aber sehr unterhaltsam.

 

Dieter Wenk (05.02)

 

Andreas Maier, Klausen, Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp)