24. Februar 2006

Aufrichtig gegen das Cliché

 

André Gide hat es sich beim Schreiben nie leicht gemacht. Zu einem nicht unwesentlichen Teil ist sein Tagebuch Zeuge dieses Kampfes. Freilich kein unbeteiligter Zeuge. Das Tagebuch ist Teil einer Strategie zur Optimierung von Literatur. Das macht das eminent Zwanghafte dieses Dokuments aus. Es wird (oft) geführt, auch wenn es nicht geführt werden kann. Geschrieben werden muss, und wenn nicht Literatur, dann eben doch im Tagebuch, dass keine Literatur geschrieben werden kann, aus welchen Gründen auch immer. Das Tagebuch erfüllt dabei verschiedene Funktionen, wobei nicht immer nur wichtig ist, was, sondern auch wie geschrieben wird. Zum Beispiel schnell zu schreiben oder, verschärft, alles aufzuschreiben in der Art des psychoanalytischen Gebots, nichts zurückzuhalten, aber noch diesseits des surrealistischen Wahrheitsprogramms der automatischen Schrift. Und doch will das Journal mehr sein als ein Übungsbuch, das für sich selbst keinerlei literarischen Anspruch erhöbe. Dazu ist der Autor nicht spielerisch genug, was er auch gar nicht sein will. Er ist in die Literaturgeschichte eingegangen als Vertreter der Ernsthaftigkeit, der Authentizität, ein Vorläufer eines christlich geprägten Existenzialismus.

 

Die „sincérité“ ist sein Kampfbegriff, den er gleichermaßen an Menschen und an Literatur anlegt. Damit schafft er sich viele Feinde, zum Beispiel die Kirche, insbesondere die katholische, und er wird oft gerade da enttäuscht, wo er glaubt voraussetzen zu können, dass gewissermaßen das Leben selbst spricht, auch wenn es gerade dabei ist, zugrunde zu gehen. Zum Beispiel im Krieg. In dem Eintrag vom 10. Februar 1929 berichtet Gide von einer erstaunlichen Begebenheit zu Beginn des ersten Weltkriegs. Misstrauisch geworden durch den Gleichklang der heimischen Zeitungen bezüglich der ersten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen französischen und deutschen Soldaten, ergreift Gide die Gelegenheit, in einem Sanitätslager erste Verwundete nach ihren Fronterlebnissen zu befragen. Völlig verblüfft hört er die Soldaten exakt die Phrasen wiederholen, die selbst in den Zeitungen zu lesen waren und die sie anscheinend auch schon selbst gelesen hatten. Anstelle der erwarteten „authentischen Berichte“ und „wahren Bezeugungen“ also nur „ready-mades“, gerne aufgegriffene Verschalungen, in denen sich die unterstellten wahren Emotionen und Gefühle auszubreiten begannen und – der eigentliche Skandal für den Dichter – der Unterschied zwischen Erlebnis und Bericht im Akt der Kommunikation aufgehoben wurde.

 

Aber natürlich ist Gide vorgewarnt. Denn für was sonst wäre Literatur und Lektüre gut! Noch bevor er auf die obige Enttäuschung zu sprechen kommt, macht er sich in dem gleichen Eintrag Gedanken über die Möglichkeiten von Authentizität in Anbetracht dessen, dass zum Beispiel Affektmodelle nicht nur ein Notbehelf einer vermeintlich reichen Innerlichkeit darstellen, die sich im Grunde nach dem Münchhausenprinzip allein auf die Welt bringen könnte, sondern dass ohne diese Modelle eine ganze Welt stumm bliebe oder die Wildheit einer Äußerung ohne erwartungslenkende Kanäle leicht den Adressaten in die Flucht zu schlagen imstande wäre. Unvergessen nach wie vor der lakonische Spruch La Rochefoucaulds, den Gide zitiert: „Es gibt Leute, die nie verliebt gewesen wären, hätten sie nie von der Liebe sprechen hören.“ Wie schwer es ist, ehrlich zu sein, dafür gibt Gide selbst das beste Beispiel ab. Von der großen Tragödie seines Lebens, seinem Doppelleben als verheirateter Mann und als Homosexueller, findet man in diesen zahlreichen Seiten allenfalls Andeutungen, aus Rücksicht auf seine Frau hat er alle diesbezüglichen Stellen von der Veröffentlichung ausgenommen. Vielleicht hatte er vor nichts mehr Angst als vor einem Leben als „ungedecktem Scheck“, was die Panik erklärt, die er empfand, wenn er über längere Zeit bar jeder „Originalreaktion“ war. Die ihn in abgeklärterer Stimmung aber auch erkennen ließ, dass man das Konzept der Authentizität wohl doch mit einem historischen Index versehen muss in dem Sinne, dass jede Zeit, personal und epochal, ihre eigene unverwechselbare „Echtheit“, wie vermittelt auch immer, besitzt. Echtheit hat mit Drängen, mit dem Dringend-sein, zu tun, und was im Leben nicht mehr drängt, ist einfach nur noch tot. Das ist dann aber schon kein Vorwurf mehr. Und festzustellen, dass das meiste in diesen Tagebüchern (trotzdem unbedingt lesen etwa die Seiten 525 f. über ein ergreifendes Missverständnis im ersten Weltkrieg, 1070 über eine surrealistische Aktion, 1152 eine wunderbare Anekdote über einen Kardinal und Baron Rothschild) einem heute reichlich verschmockt, antiquiert, problementhoben erscheint, heißt nur, dass die Zwischenzeit Fragen gestellt hat, auf die das, was man hier gelesen hat, nicht mehr exakt die Antwort ist. Oder ist Gide nicht doch ein – Klassiker?

 

Dieter Wenk (05.02)

 

André Gide, Journal (1889-1939), Paris 1948 (Gallimard)