15. Februar 2006

Worte eines bevorstehenden Abschieds

 

Die Literaturwissenschaft als Institution müsste dieses Buch eigentlich auf den Index setzen. Natürlich existiert ein solcher für sie nicht, denn dann könnte sie ihn nicht mehr untersuchen, was ja ihr eigentliches Geschäft ist. Als Alternative böte sich an, Reemtsma, der schließlich hauptberuflich Literaturwissenschaftler ist, aus der Literaturwissenschaft auszuschließen. Als Häretiker. Defätist. Als jemand, der nicht zu kämpfen bereit ist, wenn die Felle wegzuschwimmen drohen. Aber worin besteht der Skandal, wenn es denn einer ist. An mehreren Stellen der hier vorgelegten sechs Essays aus den letzten Jahren behauptet der Autor, dass Literaturwissenschaft sich vor dem Tribunal der Vernunft nicht rechtfertigen könne. Ihre einzige raison d’être sei die Tradition, die von früh auf Dichtung an ihre eigene Deutung gebunden habe. Erst mit der Zeit habe sich der die Dichtung erklärende Diskurs von ihr getrennt, um von nun an nach eigenen Regeln zu evoluieren. Die eigentümliche Logik einer solchen Entwicklung heißt systemtheoretisch Selbstbezüglichkeit. Der Literaturwissenschaftler schreibt Texte nicht um der Primärtexte willen, sondern um sich besser zu positionieren etc. Der Student studiert Literaturwissenschaft nicht, weil er Goethe so mag, sondern weil er glaubt, dass Reden über Literatur gesellschaftlich anerkannt ist. Im Grunde juckt es die Literatur nicht, ob es da Leute gibt, die sich den Anschein geben, nur um der Sache willen zu sprechen oder zu schreiben. Wenn es denn wirklich so wäre, dass die Literaturwissenschaft Texte erklären kann, könnte man doch, wie Reemtsma ganz richtig schreibt, irgendwann mal das 19. Jahrhundert (beispielsweise) hinter sich lassen. Es wäre ausgedeutet. Ist es aber natürlich nicht. Jetzt nicht und auch nicht in hundert Jahren. Das liegt an der Geschichtlichkeit und am blinden Fleck des Betrachters. Niemals wird man etwas getrost nach Hause tragen können. Man kann sich immer nur wieder an Sachen abarbeiten (Klassik) oder auch zu Unrecht Vergessene ausgraben und einen neuen Start versuchen. Letztlich wird das aber niemandem nutzen im Sinne von Kapitalisierung. Lesen lenkt eher vom Kapitalisieren ab, wie schon Stendhal wusste. Literaturwissenschaft ist also reiner Luxus, und es ist schön, dass es sie gibt, solange eine Gesellschaft glaubt, dass es zumindest nicht schaden kann, dass eine Gruppe von Leuten sich über Sachen auslässt, die sonst eigentlich niemanden interessieren. Ist schon Literatur von ihrem Wesen her elitär, so ist Literaturwissenschaft das auch und parasitär dazu. Es gibt irgendwann kein Geld mehr für Geisteswissenschaften? Schade, aber sei’s drum. Die Gesellschaft könnte dann eh nicht mehr gerettet werden, und schon gar nicht von sich normalerweise hoffnungslos überschätzenden Menschen des „Geistes“, die diesen auch noch eigenhändig austreiben.

 

Soll man das jetzt Fantasielosigkeit nennen, dass es noch nicht einmal einer Koryphäe wie Reemtsma einfällt, etwas pro domo zu sagen? Nein. Das zeigt sich zum Beispiel in dem sehr lesenswerten Aufsatz über die Metapher, in dem der Autor mit Davidson und Rorty darauf hinweist, dass das, wovon sich Dichtung und manchmal auch anderes nährt, nicht in Haupt- und Nebenhappen zerfällt, die schon schön portioniert bereit liegen, sondern eher reiner Anlass sind, um ein wenig seine Assoziationsmaschine in Gang zu werfen. Es geht um die Bemühung, mal etwas Abstand von seiner eingeschweißten Unmittelbarkeit zu bekommen. Einfach mal etwas Distanz zu sich gewinnen. Das ist die Minimalformel des literarischen Effekts. Man kann es kaum frecher formulieren: „Totale Wirklichkeit entsteht nämlich auch dort, wo man vor lauter Vergnügen und vergnügtem Lärm nicht mehr ein noch aus weiß, dort, wo eine Gesellschaft aus freien Stücken die Bereiche, in denen Beobachtungen zweiter, dritter, n-ter Ordnung stattfinden, langweilig findet, wo sie beginnt, Unmanierlichkeiten wie Unmittelbarkeit, Authentizität und Identität zu schätzen.“ Reemtsma ist ein sehr unzeitgemäßer Geist. Er liebt die Literatur, weiß von Maßstäben zu berichten, schätzt das Feld, in dem er sich bewegt, so lange es sich nicht selbst das Wasser abgräbt, indem es sich unter Niveau verkauft, und er versteht es, loszulassen in dem Moment, wo sich etwas einfach selbst überlebt hat (noch ist es ja nicht so weit). Dieses Buch ist, um noch einmal Stendhal zu bemühen, für die happy few, aber vor allem ist es für eins: für Literatur.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Jan Philipp Reemtsma, Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst, München 2005 (Beck)

 

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