8. Februar 2006

Utopie einer anderen Urbanität

 

Die Idee der Stadt ist in Bewegung. Während im Zuge umfassender ökonomischer und sozialer Veränderungen in einigen Weltteilen heute rückläufige Entwicklungen in Richtung auf „schrumpfende Städte“(1) zu verzeichnen und gesellschaftlich zu verkraften sind, kommt es – insbesondere in bereits bestehenden Ballungsräumen globaler Mega-Cities – auch zu gegenläufigen Entwicklungen. Eine Zukunft der Stadt wurde auf architekturtheoretischer Ebene zuletzt vor allem zwischen Poststrukturalismus und einem wieder erstarkten Pragmatismus debattiert. Vertreter eines „New Urbanism“ wie etwa Rem Koolhaas denken auf einer (auch ästhetisch) weit gespannten Ebene von Global- und Generic-City und in Kategorien einer wuchernden, von Demografie bestimmten Stadtentwicklung.

 

Diese postmoderne, globalisierte Stadt ist von spektakulärer Mittelmäßigkeit: geschichtslos, oberflächlich, anonym, unzusammenhängend, vertikal. Sie basiert auf Ruinen, Restbeständen städtischer Strukturen und lässt jede übergeordnete Planung als lächerlich, als von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen erscheinen. Innerhalb einer jüngst wieder aufkommenden Debatte um einen neuen Pragmatismus in der Architektur tauchen dann aber alle vermeintlich „alten“ politischen Themen wieder auf, die man im Globalisierungsprozess längst hinter sich geglaubt hatte: Die Krise des öffentlichen Raums und die politische Kultur der Stadt, Community und Nachbarschaft, die Auflösung der Städte in einen Patchwork-Raum und die „sozialen Räume“ der Subkulturen. Solche gegenläufigen Tendenzen – die radikaldemokratische Ausrichtung des Pragmatismus einerseits und ein New Urbanism andererseits, der auf „Respekt vor Irrationalität“ (Koolhaas) und gelenkte Unübersichtlichkeit setzt – demonstrieren aber auch, dass die gegenwärtige Veränderung der Städte nicht nur eine wirtschaftliche und soziale, sondern noch davor auch eine kulturelle Herausforderung darstellt. Es geht darum, „neue Formen von Stadt zu erfinden, für deren Eigenart bisher weder Vorstellungsbilder noch Gebrauchsformen existieren“.(2)

 

Solche Fragen wurden immer wieder auch von Künstlerinnen und Künstlern gestellt und auf denkbar unterschiedliche Weise beantwortet. Meist tragen solche Modelle utopische Züge, werden aber oft sehr konkret auch in Wirklichkeitsentwürfe hineingedacht. Manche dieser Utopien sind verwirklicht worden und mündeten in alternativer Lebenspraxis: So etwa die des Künstlerkollektivs Atelier van Lieshout um Gründer Joep van Lieshout, das 1995 im Hafen von Rotterdam den autonomen Stadtstaat AVL-Ville ausrief. Ein Kunstprojekt – aber eben eines, das auch als Gesellschaftsmodell gelebt wurde. Eine Produktions- und Lebensgemeinschaft mit eigener Verfassung, Währung und staatlichen Regelungen sowie eigenständigen Dienstleistungs-Unternehmen, die unter anderem die Entwicklung von artifiziellen „Wohnzellen“ betrieben.(3) Der ästhetische Kleinstaat, an einem Nicht-Ort wie dem Rotterdamer Hafen passend etabliert, bestand bis 2001 als ein perfektes, provokantes Provisorium. Ein lebendes Beispiel für die Auffassung von Boris Groys, dass eine Utopie einen unbewohnten oder unbewohnbaren Ort und gleichzeitig Menschen und Material brauche, um sich zu entfalten. Ganz ähnlich gilt das auch für Borg(4) von Inga Svala Thórsdóttir.

 

Seit mehreren Jahren arbeitet die isländische Künstlerin an einem umfangreichen, längst nicht abgeschlossenen Projekt, bei dem es um Errichtung einer Millionenmetropole im nordwestlichen Teil Islands geht. Der Ausdruck Borg bedeutet im Isländischen so viel wie „Stadt“, und genau an jenem Ort, an dem einer der ersten Siedler – der in Island heute legendäre Skallagrímur Kveldúlfsson – im 9. Jahrhundert seinen Hof „Borg“ errichtete, lokalisiert Thórsdóttir heute ihre gleichnamige Vision einer pulsierenden Millionenmetropole. Keine gewöhnliche Großstadt allerdings: Hier wird die leere Landschaft Islands als Tabula Rasa, als Nullpunkt eines utopisch-ästhetischen Neuanfangs gedeutet.

 

Auch wenn sich Thórsdóttir mit Borg sehr konkret auf regionale Gegebenheiten Islands einlässt und ihr Projekt nicht ausdrücklich auf bestimmte Vorläufer künstlerischer Stadtutopien bezieht, lassen sich durchaus Verwandtschaften benennen und Querverbindungen ausmachen. Etwa zur situationistischen Auffassung von Urbanität: Darin wird jederart Fixierung zu vermeiden versucht – nach diesen Vorstellungen haben Städte nicht bloß ein Zentrum, sie haben zahllos viele, und die sind auch noch ständig in Bewegung. Daraus resultierende Orientierungslosigkeit ist gewollt, steigere Abenteuerlust, den Sinn fürs Neue und ermögliche so Unvorhergesehenes und lebendigen Alltag. Dazu schrieb etwa Constant: „Der Ballungsraum ist unentbehrlich für den direkten Bezug von Umgebung und Verhalten, der entstehen soll. Wer glaubt, dass die Geschwindigkeit unserer Fortbewegung und die Möglichkeiten der Telekommunikation das Gemeinschaftsleben in den Ballungsgebieten aushöhlen werden, der kennt die wahren Bedürfnisse der Menschen nicht. Der Ville Verte, die die meisten modernen Architekten übernommen haben, setzen wir das Bild der vernetzten Stadt entgegen, in der das Straßennetz und die einzelnen Gebäude die Voraussetzungen zur Konstruktion eines Raumkontinuums schaffen, in dem, losgelöst vom Erdboden, kollektive Wohnformen ebenso ein Bestandteil sein werde, wie öffentliche Räume.“(5) Verwandte, dabei aber stärker planungsbezogene Ideen zu einem „Indeterminate Urbanism“ entwickelte ab 1945 auch Yona Friedmann. Er entwarf simple und flexible architektonische Strukturen in vorfabrizierter Paravant- und Kastenbauweise, die Bewohnern einerseits Privatsphäre bieten, zugleich aber so leicht zu transportieren sein sollten, dass permanente Umgestaltung jederzeit möglich bleibt (Panel Chains, 1945; Moveable Boxes, 1949). In seinem Manifest L’Architecture Mobile von 1956 plädiert Friedmann für ein offenes Architekturprinzip und für Bauformen von größtmöglicher Flexibilität zugunsten beliebiger Neugestaltung durch die Einwohner. Als „borgverwandt“ bezeichnete Thórsdóttir etwa auch die britische Gruppierung Archigram, die mit der Idee einer Wandermetropole (Instant City,1969) oder Projekten wie der Plug-In-City (1968) eine „Architektur als Produkt des Bedarfs“ entwickelte. Auch sie privilegierten Mobilität: Mit zerlegbaren Treppen, mobilen Fußgängerbrücken, verschiebbaren Decken und Böden wird Stadt in ihrer Ereignishaftigkeit pointiert, versehen mit einer pop-orientierten Ästhetik, die an Bühne oder Comicstrip erinnert. Peter Cook, Mitglied von Archigram, schrieb damals: „Eine der größten Schwächen der Architektur unserer Städte ist ihr Unvermögen, sich rasch bewegende Objekte in ihre allgemeine Ästhetik zu integrieren – und genau das ist einer der Bereiche, wo sich die Bilderwelt des Comicstrips als überlegen erwiesen hat.“(6)

Der Gedanke an flexible Modulstädte wurde auch in Asien entwickelt, allerdings mit einer anderen, naturverhafteteren Ausrichtung – was sich in Übertragung auf isländische Gegebenheiten auch bei Thórsdóttirs Borg wiederfinden lässt. Zeitgleich mit Archigram arbeiten japanische Architekten an Bauformen, die sich auf biologische Mikrostrukturen, etwa auf pflanzliche Zellen, beziehen. Die so genannten Metabolisten haben jedoch, anders als die meisten ihrer europäischen Kollegen, auch die Chance, zahlreiche Projekte zu realisieren. In Tokio etwa wurden, wohl auch wegen knappen Baugrunds, städtebauliche Experimente gewagt, wie zum Beispiel Kisho Kurokawas 1972 entworfener Nakagin-Kapselturm: Vorfabrizierte Wohnzellen aus Stahlbeton von zwölf Quadratmetern Fläche wurden vor Ort gestapelt und montiert. Die Container konnten von den Bewohnern gekauft und beim Umzug mitgenommen werden. Das war zwar nicht billiger als der Erwerb einer herkömmlichen Eigentumswohnung, doch zählte hier die Flexibilität, ein dynamischer Architekturbegriff, der auf Wachstum und Veränderung zielt.

 

Zu den imaginären Ehrenbürgern Borgs zählt auch der französische Neurealist Yves Klein, der in den späten fünfziger Jahren gemeinsam mit dem Architekten Werner Ruhnau und danach auch mit Claude Parent an Plänen zu einer Luftarchitektur arbeitete. Es heißt, der 18-jährige Yves Klein hätte einst mit seinen Freunden am Strand von Nizza gelegen und dort habe man beschlossen, die Welt unter sich aufzuteilen. Klein wählte die Luft, den wolkenlosen Himmel, der seiner Faszination hinsichtlich der Immaterialität wohl am stärksten entsprach. Seine ebenso fantastische wie kuriose Air Architecture sah Dächer und Wände aus starken Luftströmen vor, durch die Witterung abgehalten werden sollte. Auch die Möbel würden aus Luft bestehen, mit dem nicht unerheblichen Vorteil, so zugleich den Körper zu massieren und zu entspannen.(7) In Kleins utopischen Vorstellungen kommen durchaus gesellschaftstheoretische Gehalte zum Ausdruck. Mit der Idee eines Tempels der Elemente (der seinerseits Vorläufer in Architekturvorstellungen Bruno Tauts und der Gläsernen Kette hat), umgeben von Cafés, die nur durch Luftströme vor Regen gesichert sind, mit Wasserspielen und Feuerfontänen – mit all dem verband Klein eine optimistische Vorstellungswelt: Ihm ging es darum, ein neues Paradies zu erschaffen, in dem sich der Mensch frei seinen Interessen widmen könne. Und darin liegt sicherlich eine enge Verwandtschaft zu Thórsdóttirs Borg, das sich schließlich auch auf gute Nachbarschaft mit den immateriellen Ureinwohnern Islands, den Elfen,(8) gründet.

 

Thórsdóttir fasst die Fiktion, das Gedankenspiel um Borg als reelle Möglichkeitsform und unternimmt damit aufs Neue den Versuch einer produktiven Verschwisterung von Kunst und Leben: Borg bildet mit seinen Bewohnern eine Akkumulation von Möglichkeiten, es ist der Plan für ein kollektives Gesamtkunstwerk. So birgt die Fantasie über die ideale Stadt an jedem Punkt auch die Frage danach, wie wir in Zukunft, wie wir überhaupt leben möchten – und dies gilt dann gewissermaßen auch für jeden Ort der Welt, denn es ist eine Idee, eine Haltung, die Herbeiführung einer konkreten Erfahrung: Borg, so Thórsdóttir, „ist eine junge und eine alte Sehnsucht. Borg zündet körperliche Gefühle, Emotionen, Gedanken und Intuitionen im Gehirn. In diesem Zeit-Raum Kontinuum ist Borg nicht unmittelbar sichtbar, sondern nur für jene Einzelnen spürbar, die Borg in sich wahrnehmen können. Die Formen von Borg, die ich daraus entwickle sind vielfältig. Die Borg-Bereicherung ist nicht für jeden zuträglich.“(9) Dieses Potenzial wird aber nicht abstrakt beschworen, sondern punktuell – mal sehr konkret, mal ziemlich visionär – an unterschiedlichsten Aspekten aufgehängt. So sind etwa die Baustoffe und das Formenrepertoire der neuen Stadt von isländischer Flora und Fauna geprägt; mehrere Bahnhöfe, Schwimmbäder, Bibliotheken, Bars und Clubs sind geplant, und auch für Drogen, Sex und frische Gerichte soll rund um die Uhr gesorgt sein. Das Spektrum ist umfassend: Thórsdóttir kreist die Utopie etwa in Bezug auf organisatorische und infrastrukturelle Faktoren, hinsichtlich Fragen von Stadt und Naturverhältnis und in Perspektive aufs Individuum mit seinen Fähigkeiten, Leidenschaften und Bedürfnissen ein. Konkret reicht das von Bebauungsplänen und architektonischen Entwürfen über Konzepte für ein enggetaktetes Verkehrswegenetz, von Untersuchungen natürlicher Lichtverhältnisse und Fragen der Energie- und Nahrungsversorgung bis zur Beschäftigung mit soziologischen Aspekten und Bewusstseinsphänomenen wie Glück und Kreativität samt entsprechender neurologischer Randbedingungen – etwa in Arbeiten wie Geistesblitz und Endorphinrausch.(10) Es geht um eine Kultivierung des Möglichkeitssinns und die Schaffung seiner physischen und psychischen Voraussetzungen. So ist die geplante Megametropole einerseits exakt bei 21° West/64° Nord, Nord-West von Reykjavík verortet – so auch der Titel von Thórsdóttirs jüngster Einzelschau in Esslingen –, andererseits versteht sich Borg auch als immateriell, als schöpferische Energie, die, so die Künstlerin, „auch irgendwo, irgendwann anders stattfinden kann. Einen Ort für Borg zu bestimmen heißt: Ein Zeichen setzen als sichtbare Form.“(11) Borg ist Landnahme, eine Behauptung – letztlich also genau das, was Thórsdóttir mit ihrem Projekt auch selbst leistet und damit zur ersten und exemplarischen Siedlerin des Neulands wird. Von dieser Landnahme kündet übrigens mit einiger Ironie und Drastik sowie mit deutlichen duchampschen Untertönen die Fotoarbeit Bæjarlæku (2000). Der utopische Ort zündet im Kopf, beginnt im Körper und erfährt Resonanzen im Äußeren. In dieser Perspektive laufen denn auch die Fäden zusammen, an denen sich die vielschichtigen und scheinbar so heterogenen Arbeiten Thórsdóttirs verknüpfen lassen.

 

In den Ausstellungen in der Hamburger Kunsthalle und der Villa Merkel zeigte Thórsdóttir die bisher umfangreichsten Präsentationen ihres Projekts. Dabei markierte das 60-minütige Video Construction Site Borg (2000) dramaturgisch wie thematisch den Anfang: Im gedämpften Tempo des Abschreitens führt Thórsdóttir darin eine künftige Baustelle vor – vorerst sieht man nichts als weiß verschneite Weite, ein unbeschriebenes Blatt, das ein Vorhaben wie im Infinitiv lokalisiert. In Borg Scala (2000) dagegen, einem großformatigen, die ganze Wand einnehmenden Kartenwerk der Region, sind dann bereits strategische Punkte und Stadtteile eingezeichnet und mittels Satellitenfotos und Zeichnungen im Detail hervorgehoben. Wohl erst im zweiten Blick auf diese Karte ist zu erkennen, dass Thórsdóttir hier im Copy-Paste-Verfahren regelrecht Berge versetzt hat. Charakteristische Landschaftsformationen kommen gleich mehrfach vor, denn Gebirge, Vulkane oder Wasserfälle dienen hier als Muster für unorthodoxe, naturbezogene und zugleich ziemlich elegante Bauformen – etwa Häuser in Muschelform oder Bahnhöfe in Gestalt von Bergen wie in Bjarnarhafnarstö_ (2001). Und da für eine metropolitane Kultur auch die Infrastruktur entscheidend ist, hat Thórsdóttir den BVV, den Borg Verkehrs Verbund, gegründet, der die Stadtteile mit einer Schwebebahn verknüpft – und den Fahrgästen so wie nebenbei auch noch eine perfekte Aussicht verschafft. Auch in diesem Moment ist Stadt für Thórsdóttir ästhetisches Terrain.

 

Überhaupt bindet die Künstlerin das Projekt in einzelnen Aspekten eng an isländische Gegebenheiten und die gesellschaftspolitische Situation an. Entscheidend für die Auswahl des Areals war neben dem historischen Aspekt insbesondere, dass dort alle erforderlichen natürlichen Lebensressourcen vorhanden sind: Wasser gibt es mehr als genug, auch saubere Luft und ergiebige Böden zur Bewirtschaftung, man hat geothermale Energie im Überfluss bei zugleich äußerst geringem Erdbebenrisiko etc. Diese Situierung bezieht Thórsdóttir aber auch auf aktuelle Probleme: „In Island gab es kürzlich heftige Debatten über den Verkauf isländischer Energie. Die Diskussion beschränkte sich größtenteils auf den Verkauf von Energie zur Produktion von Aluminium“,(12) einem dort sehr umstrittenen, umwelt- und arbeitsmarktpolitisch fragwürdigen Vorhaben. „Borg schafft in Island selbst einen neuen Markt für isländischer Energie. In Borg werden die Menschen Strom, Erdwärme, Wind, Wasserkraft und Methan nutzen. Auf diese Weise hat Borg eine weltweit einzigartige Position, da dort weder Öl noch Kernkraft zum Einsatz kommen.“(13)

 

Unter den Exponaten stößt man in den unterschiedlichsten Werkgruppen immer wieder auf die Form der Spirale. Das reicht von ephemeren Zeichnungen, in denen Schriftzüge wie „I Think“,(14) „Rausch“ oder „Orgasm“ in spiralförmigen Leerlauf münden, führte über spiralförmige Schemata zur Zeit-Aufzeichnung (etwa in 13 Tage Vollmondlicht Borg, 2004) und Bauformen (etwa Borg Plateau, 2004, einem spiralförmig aufsteigenden Modell für eine Basalttreppe) bis zu Deutungen der Struktur geistiger Akkumulation (wie zum Beispiel in Borg Kuppel, 2004). Die Spirale steht dabei für eine zentrierende Bewegung beziehungsweise Aktivität, die auf fortgesetzt nichtidentischer Wiederholung basiert. Thórsdóttir sieht darin eine Art erkenntnistheoretisches Leitmotiv, ein Muster, auf das sich Natur und Geistestätigkeit zurückführen lassen und das sie in gleicher Konsequenz auch auf Bauformen überträgt: „Die Borg-Architektur ist von der Natur abgeleitet,“ schreibt sie. „In der Natur beruhen Organisation und Struktur auf Symmetrie. In dieser Hinsicht folgt Borg dem Vorbild der Natur. Jeder Teil von Borg, groß oder klein, ist einzigartig, ein individuelles Projekt, das auch neue, individuelle Antworten erforderlicht macht.“(15) Das bezieht Thórsdóttir außer auf spezifische architektonische Lösungen auch auf einen fundamentalen sozialen Aspekt, auf die „Neubestimmung des Arbeitsbegriffs. Dieser neue Begriff von Arbeit soll in städtischen Gemeinschaften tagtäglich zur Anwendung kommen. Er widerspricht der Möglichkeit von Arbeitslosigkeit: „Wenn die Bevölkerung Islands um eine Million wächst, vervierfacht sich der heimische Markt, was enorme Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft und Arbeitssituation des Landes hätte.“(16) Auch Veränderungen der isländischen Sprache, die bei derart rapide wachsender Zahl an Einwohnern nicht ausbleiben können, bezieht Thórsdóttir in ihre Überlegungen positiv mit ein.

 

So erfasst und erforscht Thórsdóttir den strukturellen und belebten Möglichkeitsraum in denkbar unterschiedlichen Aspekten und Schichten. Über thematische und inhaltliche Dimensionen hinaus führt sie ihre Arbeiten aber stets auf ästhetische Aspekte zurück und erfindet dabei schlüssige Werkformen. Das wird insbesondere bei der in Hamburg erstmals gezeigten umfangreichen Arbeit 13 Tage Vollmondlicht Borg deutlich: In der 13-teiligen Werkgruppe verbindet Thórsdóttir die präzise Erfassung ortsspezifischer Gegebenheiten – sie untersuchte die Lichtverhältnisse im Borg-Areal – mit abstrahierender Umsetzung zu minimalistisch bildhafter Visualität. Die Arbeit besteht aus 13 gleich großen Aluminiumtafeln, die in je 1440 quadratische Felder – so viele Minuten hat ein Tag – unterteilt und in drei Blautönen – für Nacht, Dämmerung, Tageslicht – eingefärbt sind. Von Außen nach Innen verlaufend ist zwischen 00.01 und 24.00 Uhr jede Minute markiert, und in Mondlicht-Phasen sind die Markierungen silberfarben dargestellt. So repräsentiert jedes Tableau auf spiralförmig gewundener Zeitachse den für einen bestimmten Tag und Ort geltenden Wechsel des Helldunkel. Der Vollmond war 2004 insgesamt 13 Mal zu sehen – etwa am 7.Januar, 6.Februar, 6.März etc. Dass Thórsdóttir ihre konkrete Utopie hier ausgerechnet an der spröden Wahrhaftigkeit von Lichtaufzeichnungen entfaltet, ist wohl seinerseits als Zeichen zu verstehen: Hier wird der imaginierte Ort der Sehnsüchte an der reellen Offenheit des Himmels und seiner Rhythmen aufgehängt – mehr braucht es womöglich nicht, um etwas zu beginnen, um einen Grundpfeiler einzuschlagen.

 

Erstveröffentlichung: SITE 12/2004, Stockholm (dort veröffentlicht in englischer und schwedischer Übersetzung)

 

 

(1) Vgl. Schrumpfende Städte/Shrinking Cities, 5.9.–7.11.2004, www.shrinkingcities.com

(2) Werner Sewing, Von Deleuze zu Dewey?, in: Arch+, September 2001, S.10 ff., auch unter www.baunetz.de/arch/archplus/157/sewing_c.htm.

(3) Siehe www.ateliervanlieshout.com/frameset-center/avl-index.html.

(4) Siehe www.cityofborg.com. Thórsdóttir hat ihr Projekt im größeren Rahmen etwa in der Einzelausstellung Borg in der Hamburger Kunsthalle präsentiert (12.9.2004–2.1.2005), war auch an der Themenausstellung un-built cities beteiligt (Bonner Kunstverein, 9.12.2003–8.2.2004 [Kat.]). Der letzte Stand der Entwicklungen war zuletzt in Thórsdóttirs Ausstellung Borg 21° W & 64° N in der Villa Merkel, Esslingen, zu sehen (11.12.2005–5.2.2006). Dort ist ein umfangreicher Katalog erschienen, der das Projekt dokumentiert.

(5) Constant, Another City for Another Life, in: Internationale Situationiste 2, 1959

(6) Zitiert nach Paul Sztulman, Archigram, in: Kurzführer zur documentaX, Kassel, 1997; S.20.

(7) Vgl. dazu: Peter Noever, François Perrin (Hg.), Yves Klein – Air Architecture, MAK Center for Art and Architecture, Los Angeles, 2004

(8) Von einem zufälligen, traumgleichen Aufenthalt bei einer Kolonie isländischer Elfen erzählt Thórsdóttirs Zeichnungsserie The Hidden Valley (2001) und ein gleichnamiger Text.

(9) Inga Svala Thórsdóttir, in: Borg, Hefte der Hamburger Kunsthalle, Hamburg, 2004

(10) So lauten Titel zweier Arbeiten von 2004, auch abgebildet in Thórsdóttir, Borg, Hamburger Kunsthalle, a.a.O.

(11) Inga Svala Thórsdóttir, in: Borg, a.a.O.

(12) Inga Svala Thórsdóttir, A Draft for Borg, in: Faltblatt zur Ausstellung Borg im Reykjavík Art Museum (22.11.02 – 19.1.03), Reykjavík, 2003

(13) ebd.

(14) Thórsdóttirs Zeichnung I Think ist übrigens die freie Adaption einer Zeile, die sich auf einer berühmten Skizze Charles Darwins zur Abstammungslehre findet.

(15) Inga Svala Thórsdóttir, A Draft for Borg, a.a.O.

(16) ebd.

 

 

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