Unterschichten-Power
Aus Filmen lernt man ja die unsinnigsten Sachen, zum Beispiel dass große Affen kleine blonde Frauen lieben oder dass man sich lieber noch mal umdrehen sollte, bevor man den Raum verlässt, um dem anderen noch etwas Wichtiges mitzuteilen. Aber wer wüsste nicht, dass ein Tennisball kein Armreif ist, auch wenn beiden gemeinsam ist, dass man sie durch die Luft schleudern kann. Da der Kinozuschauer jedoch im Allgemeinen ein Ana-Logiker ist, werden Unterschiede eingeebnet zwecks Errichtung einer metaphorischen Kette: Landet der Tennisball, hat er einmal das Netz berührt, das ihn senkrecht hochspringen lässt, dann doch im eigenen Feld, so hat man Punkt, Satz oder Spiel verloren. Tennis und Tischtennis sind ja bekanntlich beinahe reine Glücksspiele. Was aber soll man von jemandem halten, der einen Armring wegwirft, in Richtung Fluss, und dem Ring genau das gleiche passiert wie dem Tennisball. Soll man sagen, er schafft es nicht in den Fluss, wo er eigentlich hingehört? Und der Werfende, hat der nun Pech, ist das Spiel schon ganz aus?
„Match Point“ ist ein Film, der stark auf die Pointe ausgerichtet ist. Und da die Pointen sich am Ende häufen, weiß man nicht, ob nicht noch eine nachkommt, wie also die Sache mit dem Ringwurf zu interpretieren ist. Am Ende des Films zeigt sich also, dass das Leben unendlich viel reicher als jeder Sport ist, wo das Glück sofort sich als Glück zu erkennen gibt und nur Glück meist doch nicht reicht, um zu gewinnen. Im Sport, das ist eine traurige Wahrheit, gibt es einfach keine nachträglichen Wirkungen. Der Sport ist eben mehr oder weniger schlicht durchsteppt von seinen eigenen Regeln, die nichts von draußen reinlassen. Das macht ihn gleichzeitig so attraktiv, denn am Ende wird immer ein Punkt gesetzt und alles ist klar. Sehr schön macht dagegen gleich am Anfang von „Match Point“ eine Off-Stimme darauf aufmerksam, dass es ernüchternd sei zu erkennen, wie wenig der Einzelne im Leben tatsächlich in der eigenen Hand hat. Irgendwann hat man so ein Ich-Gefühl, und es sagt einem, dass man ein Arbeiterkind ist. Das Spiel läuft schon längst, man hat es nicht gemerkt. Und man weiß auch gar nicht, wer sonst noch mitspielt. Gibt es Pausen? Erfrischungen?
Je nach Temperament und sozialer Stellung entwickeln sich Haltungen, zum Beispiel Ehrgeiz und Gelassenheit. Ambitionierte Leute fangen an, eigene Regeln zu entwickeln. Chris, der Tennislehrer, zum Beispiel. Die Unterschicht kann knallhart sein. Und mit etwas Glück steigt sie schnell und hoch auf. Nicht alle schaffen es. Während Chris mit seinem Credo, „einen Beitrag leisten zu wollen“, offen lassen kann, worin der besteht, hat sich Nola schnell festgelegt, Schauspielerin zu werden, wo sie doch ganz offensichtlich das falsche Metier anvisiert. Hier kann bei allem Selbstbewusstsein kein fehlendes Glück dafür verantwortlich gemacht werden, dass es auf diesem Weg nicht weiter geht. Dann wird Nola, nach der Chris ganz verrückt ist, die aber für seinen Aufstieg leider funktionslos bis hinderlich ist, auch noch von ihrem Freund, dem Bruder von Chris’ Frau, verlassen. Und dann kommt mal wieder die grundlegende Ungerechtigkeit ins Spiel, nämlich dass es die Frauen sind, die die Kinder kriegen.
Nolas Sturz ist fürchterlich. Aber es kommt noch schlimmer. Sie, die gerade noch den Sex schlechthin verkörperte, ist als Schwangere nur noch Altlast, störendes Element auf dem erreichten hohen Gleichgewicht des Hasardeurs Chris. Während Frauen, wie der Film mal wieder zeigt, meist etwas länger warten können (auf das Kind, oder in Muße als Besitzerin einer Galerie ohne direkten Erfolgsdruck), müssen Männer schnell handeln, am Aktienmarkt oder zwischen zwei Frauen. Der Entscheidungszwang der hysterisch gewordenen Nola ist ihr eigenes Todesurteil. Zwei Frauen als potentielle Mütter ist zu viel in der westlichen Welt. Chris wählt diesmal nicht das Abenteuer. Er ist angekommen und möchte jetzt endlich genießen, zum Beispiel die schönen Stunden mit Chloe beim Anhören von Lloyd-Webber-Musicals. Wie Chris das Problem angeht, ist natürlich völlig undiskutabel und zeigt, dass er nicht verhehlen kann, wo er eigentlich herkommt. Mit Eleganz hat das nichts zu tun, und dann braucht er auch noch Glück, was er tatsächlich hat, aber soll man am Ende sagen, er habe Glück im Unglück, oder nicht doch eher Unglück im Glück?
Dieter Wenk (02.06)
Woody Allen, Match Point, USA 2005, Jonathan Rhys-Meyers, Brian Cox, Matthew Goode, Scarlett Johansson