3. Februar 2006

Verläufe

 

Im Sport lassen sich Grenzen und deren Überschreitungen oft leicht merken, beim Hundert-Meter-Lauf der Männer die zehn Sekunden, beim Stabhochsprung der Frauen die fünf Meter. In der Literatur hatte man im Drama früher die drei Einheiten, die natürlich dazu einluden, sie irgendwann mal zu sprengen, was ja auch geschah. Kann man heute überhaupt noch von der Literatur und ihren Grenzen sprechen? Und hatte die Philosophie nicht von Anfang an einen fremden Gast mit dabei, den Mythos, die literarische Form? Das Sprechen von Grenzüberschreitungen heute ist häufig politisch korrekt motiviert. Derridas Dekonstruktion hat spät, aber immerhin ihr ethisches Telos enthüllt. Nichts ist so fest, wie es scheint. „The owls are not what they seem”. Und verschiebt sich das theoretische Augenmerk mehr vom Produzenten und vom Werk hin zum Rezipienten, den man persönlich ja gar nicht kennt, wird man mehr über die Bedingung der Möglichkeit von Rezeption nachdenken, man ist mehr beim Signifikanten als beim Signifikat, mehr beim Interpretanten, bei den Rahmen und Inszenierungen von etwas. Der archimedische Punkt ist aufgegeben, die Hierarchie umgestürzt, man landet im Netz und kommt nicht mehr heraus.

 

Der Sammelband „Écritures“ geht solchen Entsicherungen und Vernetzungen in Literatur und Philosophie nach, und er tut das, wie das schon der Titel ankündigt, ausschließlich im französischsprachigen Raum, als ob die sich abgrenzende Sprache ein letztes Territorium im globalen Sprachnetz abgeben würde, auf die man sich konzentrieren könnte. Nicht-Frankophone werden hier nicht so viel Spaß haben, Zitate werden nicht übersetzt, zwei Texte sind auf französisch. Ansonsten kennt man die Kandidaten des Überschreitungsspiels: Derrida, Barthes, Cixous, Serres, Glissant, Jabès und einige mehr. Die Sinn-Überschwemmung, -Aufweichung, -Entgrenzung scheint immer noch nicht so weit zu gehen, dass man nicht doch noch die Namen nennt, die Heroes, die Zitate bringt, die schon klassisch sind (wie Barthes’ Metapher mit der Spinne), die dann die Haltepunkte („Stepppunkte“) abgeben, die man doch eigentlich aufweichen wollte. Als ob man nur ein Schema gegen ein und sei es noch so subtiles Schema eintauschen könnte. Denn über und mit was sollte man sonst reden. Das weiß man in der Tat oft nicht bei Texten von Hélène Cixous. Gegen ihren Willen bestätigt sie so schlimmste Gegenüberstellungen von männlich-weiblich. Was das allgemeine Verhältnis von Literatur und Philosophie angeht, werden drei Modelle vorgestellt, eines, das die Dominanz der einen Form über die andere postuliert (Disjunktionsmodell), eines, das die beiden Formen als Gleichberechtigte mit je unterschiedlichen Forschungsfeldern avisiert (Komplementaritätsmodell), und als drittes das Entgrenzungsmodell, das als experimentelles von feststehenden Grenzen nichts weiß. Wenn man nicht davon ausgeht, dass etwa experimentelle Literatur die sei, deren Experiment gescheitert ist, weil es niemanden gibt, der dieses Scheitern dekretieren könne, dann scheint es in der Tat keine Grenze zu geben, die einer Form irgendwann einmal gesetzt werden müsste.

 

In der diachronen Betrachtung wird man dagegen versuchen herauszufinden, ob solche Experimente sich bestimmten geschichtlichen Lagen verdanken, die dann auch wieder mehr oder weniger verschwinden wie die Experimentierwut der Modernen. Eine solche Betrachtungsart bevorzugt die Analyse in „Kästchenform“, was nicht ausschließt, dass sich die Kästen verbiegen oder öffnen. In jedem Fall hat man es aber mit Relationen zu tun, das heißt mit Vergleichen, was gewisse fixe Entitäten voraussetzt, die da verglichen werden. Es gibt keine totale Entgrenzung. Sie wäre immer noch so intentional, dass sie auf eine Performanz verwiese, die mehr ist als ein Element aus dem Touring-Park. Mittlerweile hat man eigentlich ziemlich die Nase voll von dem Entgrenzungs- und Überschreitungsgeraune. Dabei ist doch immer noch ganz klar, warum man zu dem und dem Zeitpunkt einen Roman liest und nicht Kants „Kritik der reinen Vernunft“.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Margot Brink/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Écritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, Tübingen 2004 (Stauffenburg), Cahiers lendemains Band 5

 

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