26. Januar 2006

»Ohne in das Leere zu fallen«

 

Arno Schmidt lässt die Schriftsteller in „Tina oder über die Unsterblichkeit“ nicht sterben, solange ihr Name auf Erden noch irgendwo erwähnt wird. Mozarts Fall ist wahrscheinlich anders gelagert und nicht erledigt, bis seine Botschaft in die letzten Winkel vorgedrungen ist. Zu lange wurden wichtige Lebensumstände ignoriert, und so geistert ’s Wolferl durchs Weltgebälk, während sich das Bild des Frühverschiedenen einpendelt zwischen Erzengel Gabriel, Robbie Williams und Kurt Cobain.

 

Tourette-Syndrom, Rheuma, Depression lauten die Ferndiagnosen aus dem 21. Jahrhundert. Das Letzte erscheint plausibel. Dem Mitgefühl für seine Person stehe der Zauber seiner Musik im Weg, meinte Norbert Elias. Was uns spontan für ihn einnimmt, ist, dass er sein Schicksal nicht beklagt. Im besten Sinne des Wortes ist er naiv; nicht-strategisch, kein Machtinteresse. Seine Sorge für und um andere ist rührend. Sein Pflichtgefühl könnte tödlich gewesen sein.

 

Authentisch war er nicht. Stets treten Spannungen an unvermuteter Stelle zutage, meistens transformiert er sie in Kunst. Der Künstler sublimiert, wie es im Buche steht; oft scheint aber auch seine Musik so viele Zwänge auszuüben, dass er sich noch aus seinem Schaffen Ventile suchen muss; er hält sich Masken vor, und er entblößt sich mit einer unerhörten Freizügigkeit; er kann nicht allein sein und arbeitet hochkonzentriert; er gönnt sich keine Ruhe; er verbirgt seine größte Kunst hinter gefälliger Tradition.

 

„Der Versuch, in das Wesen eines Genies vom Range Mozarts erkennend einzudringen, ist keine Sache des Gelingens oder Misslingens,“ hat Wolfgang Hildesheimer festgestellt. Seine „Lebensumstände und Seelenzustände … werden durch sein Werk nicht beleuchtet. Sie werden im Gegenteil, und zwar mitunter von ihm selbst, unbewusst, aber systematisch verdunkelt.“

 

Mitunter von ihm selbst – besonders aber von seinen frühen Anhängern. Das ehrfurchtsvolle, vereinnahmende Bild vom begnadeten Wunderkind musste die Mozart-Forschung schichtweise abtragen und die Kluft zwischen Werk und Mensch, zwischen den Polen von Mozarts Persönlichkeit verstehen lernen.

 

Selige Zeiten …

Eine Rolle spielen dabei die lange verborgenen Bäsle-Briefe, die der ondulierte Rokokojüngling seiner Kusine Anna Maria Thekla geschrieben und dabei seiner erotischen Vorstellungskraft lustvoll freien Lauf gelassen hatte. Zwar hielten manche Biografen auch diese Briefe für bloße Verbalerotik und gaben dem Verlangen nach, den begabten Knaben unbefleckt zu halten. Spätestens aber seit Wolfgang Hildesheimers Mozart-Darstellung von 1977, der die schriftlichen Quellen psychoanalytisch bewertet, ließ sich die apollinische Verklärung nicht mehr aufrecht erhalten.

 

In Mozarts Familie herrscht Disziplin. Gewissenskonflikte gegenüber dem ungnädigen, fordernden, anklagenden Vater, der alle mit seinem Ehrgeiz terrorisiert, sind zwangsläufig. Leopold schreckt nicht davor zurück, den Sohn für den Tod der Mutter verantwortlich zu machen, die er selbst ihm mit nach Paris geschickt hat, und droht, er solle gehorchen, sonst lade er sich auch noch das Leben des Vaters aufs Gewissen. Da war Mozart 22. Sein Vater warnt vor Frauen und falschen Freunden. Er rechnet. Es gibt ein Labyrinth von familiären Wiederholungszwängen.

 

Das eigentliche Kind der Familie, meint Maynard Solomon, ist Leopold, der Pädagoge: Das Wunderkind ist sein Werk und soll ihm das Alter sichern. Zu einem autonomen Komponisten will er den kleinen Wolfgang aber keineswegs heranreifen lassen, sonst hätte er ihn wohl in Musiktheorie unterrichtet. Brauchbar war Mozart nur als Kinderstar, der alle Tricks beherrscht, notfalls unter falscher Angabe des Alters.

 

Ihre erste Reise dauert dreieinhalb Jahre. Die „bis dahin erfolgreichste Konzerttournee der Musikgeschichte“ – Maynard Solomon hat eine bemerkenswerte Energie auf das Berechnen der Summen verwandt, die das Familienunternehmen umgesetzt haben muss. Die Kindheitserfolge bleiben Mozart eine Quelle der Sehnsucht. Die Familie führt eine herausragende Existenz in den Vorzimmern des feudalen Europa. Aufsteiger, deren Kassen sich füllen und deren Hoffnungen auf ein leichteres Leben wachsen dürfen.

 

Das Leitmotiv bei den Mozarts ist der Kampf gegen die Melancholie. Schwester Marieanne arbeitet gegen Leopolds an. Wolfgang zeigt seine nicht. Im eigenen Interesse, im Verlangen, seinem Vater zu gefallen, und um seine Frau Constanze nicht zu beunruhigen. Depression ist die Krankheit, die sich selbst verleugnet.

 

Mozart war kein weltfremder Künstler. Affirmativ erscheint er nicht in Bezug auf die aristokratische Werteordnung, sondern aus Abwehr von existenzieller Leere. Haben seine Späße und Unflätigkeiten etwas Subversives? Mit seiner Begeisterung fürs Profane, seiner überbordenden sprachlichen Sinnlichkeit, seinen änigmatischen Obsessionen, den Verkleidungen im Karneval und dem geheimbündlerischen politischen Idealismus der Freimaurer begibt er sich aus den Niederungen seines Alltags zwar in utopische Fehlschlüsse, meint Maynard Solomon, aber Mozart habe das als lohnende Irrtümer verstanden.

 

… brüchige Welt

Norbert Elias vermutet, man müsse den Menschen lieben, um Mozarts Kunst schätzen zu können. Wie lässt sich der Possenreißer mit der Gelassenheit, Schönheit und Präzision seiner Musik in Einklang bringen? Er galt als „Instrument Gottes“. Er „schien ein höheres Wesen zu werden, wenn er sich ans Klavier setzte“, schreibt ein Zeitgenosse im Nachruf. Den Menschen Mozart scheint seine Musik jederzeit zu überbieten.

 

Um deren Ansehen steht es aber eigentlich auch nicht gut. (Von einer Aufführungspraxis, für die er nicht verantwortlich ist, ganz abgesehen – Leonard Cohen: „The maestro says it’s Mozart, but it sounds like bubblegum“.)

 

Die Konnotationen liegen im Feld von mechanisch, galant, höfisch, glatt, steif, grazil, dekorativ, ornamental. Aus acht Takten fallender Sexten, meinte der eigenwillige Pianist Glenn Gould, bestehe für ihn die g-moll-Symphonie, „die Stelle, wo Mozart ausholt, um den Geist Anton Weberns zu grüßen – und drumherum einer halben Stunde voll Banalität“. Musik, maßgefertigt für Hochzeiten, bei denen Wein statt Wasser aus den Brunnen strömte. Reine Schönheit und transzendente Leichtigkeit werden gerne hervorgehoben – müssen aber auch umständlich verteidigt werden. Denn mit Leichtigkeit kann man die Leute jagen, das beweist der perfide städteplanerische Einfall, U-Bahnhöfe mit Streichergenudel zu beschallen, um nicht nur Punks den Aufenthalt zu verleiden. Auch das ist ohne Assoziation zu Mozart nicht zu haben. Falls sich nach Auschwitz noch Gedichte schreiben ließen – in diesem Ton wohl eher nicht.

 

Die Behauptung, Mozart habe populäre Musik gemacht – „avant la lettre“ Pop –, täuscht unwillige Klavierschüler mehr oder weniger wirksam und hilft auch sonst Schwellenängste vor so genannter klassischer Musik überwinden. Die Einsicht, dass die Scheidung des Klangkosmos in E- und U-Musik problematisch ist, verdanken wir auch Mozarts Beispiel. Milos Formans Film „Amadeus“ hat diese Sicht zur eigentlichen gewählt. Bei Solomon ist er eher ein Mann, der die Dichte und Komplexität seiner Werke in der Oberflächlichkeit ihrer Erscheinung verbirgt. Sublimierung des Elitären zugunsten des Populären.

 

Mozart, der schließlich davon leben musste, hat großen Wert darauf gelegt, dass seine Kompositionen nicht kryptisch gerieten oder nur Fachleuten verständlich waren – Vaters Mahnung immer im Ohr. Dem schreibt er im Dezember 1782: „Die Conzerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer, und zu leicht – sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum.“

 

Der junge Mozart spielt seinem Vater eine Kunst ohne Irritationen vor. („Das Leben ist schön“ – hier mal das Kind, das dem Vater die Illusion nicht nehmen mag.) Der reife bezahlt seine Eigenständigkeit mit Unverständnis – und löst seine Kreativität dafür in Selbstbestrafung auf: So deutet Solomon die Krise von 1790.

 

Mozarts Glücklosigkeit in dieser Zeit, als Anfang vom Ende dargestellt, liegt aber auch daran, dass seine Musik als elitär und intellektuell gilt. Parallel zu den politschen Entwicklungen wendet sich Europas feudales Publikum – aus einer Art Sicherheitsverlangen – einer konservativeren Musik zu. (Nimmt so die französische Revolution an Mozart ihr Rollback vorweg?)

 

Schönheit, Gefahr

Klassik ist der Inbegriff für Symmetrie und Konstruktion. Maynard Solomon geht der Frage nach, ob sich ambivalente Regungen schon früh in Mozarts Werk wiederfinden lassen, und findet Brüche und Unebenheiten unter der traditionellen Fassade, Asymmetrien in der Auslegung des klassischen Idioms; er möchte sogar ironische Distanz in einigen früheren Serenaden erkennen.

 

Für das Spätwerk, besonders in Bezug auf die Opern, sollten wir uns ohnehin einen emotionaleren Mozart vorstellen. Auch die wenigen ohne Auftrag entstandenen Stücke, wie die Haydn gewidmeten Streichquartette, zeigen, dass Mozart seiner Zeit voraus und in welche Dimensionen er schon vorgedrungen war (Stichwort: Dissonanzen-Quartett).

 

Warum wird das so wenig wahrgenommen? Solomon geht so weit, anzunehmen, die Hörer schreckten vor einer psychischen Gefahr zurück, Mozarts Musik adäquat aufzufassen, in ihrer erotischen, schmerzvollen, gewalttätigen und sinnlichen Fülle. „Natürlich gibt es in jedem von uns etwas, das die Mächtigkeit der Phantasie, die uns berührt, eindämmen möchte …“. Es gilt, Mozart aus dem seichten Milieu des interesselosen Wohlgefallens zu befreien.

 

Die Argumentation und die herangezogene Bedeutungsästhetik symbolischer Formen fallen reichlich gewunden aus. Mozarts Spezialitäten als Tonsetzer kommen dabei leicht unter die Räder der Theoriebildung. Aber immerhin baut die psychologisierende Perspektive eine Brücke zum heutigen Hörer. Denn wem sagen verbotene Quintparallelen und Querstände etwas? Wer beherrschte noch den klassischen Kontrapunkt, um subtilere kompositorische Übertritte Mozarts wahrnehmen zu können? Schmerz und Wollust dagegen, Liebe und Zerrissenheit sind nachvollziehbare Größen, die jeder in seinem Erfahrungszusammenhang auffinden kann.

 

Unter umgekehrten Vorzeichen bringt Solomon so das Bild wieder zur Deckung: Wie man sich früher den unschuldigen Jungen nach seiner überirdisch schönen Musik konstruiert hatte, zieht er nun das reife, widersprüchliche Porträt wie eine Folie über Mozarts beste Musik und spürt darin die menschlichen Abgründe auf. Doch nach der Mythenbildung des 19. Jahrhunderts sind die Bemühungen, Mozart zu rehabilitieren und seine Musik vor dem Museum zu bewahren, zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Maßnahme.

 

Tatsächlich macht „Mozart. Ein Leben“ auf schroffe existenzielle Risiken eines vorindustriellen Zeitalters aufmerksam, die wir lange aus unserem Alltag eliminiert zu haben glaubten (schon an der Frage der Altersversorgung des Vaters lässt sich das nachvollziehen; und die beständigen Bemühungen, von einem Fürsten unter Vertrag genommen zu werden, erkennt jeder Freelancer wieder). Die Schwelle zwischen Realität und Kunst muss enorm gewesen sein (ob man deshalb heute Mozart in manchen fernöstlichen Ländern mehr liebt als bei uns?). Seine Leichtigkeit irritiert uns, als könnten wir sein Gewicht nicht ermessen.

 

Aber Solomons Verfahren wirkt hier umständlich und unterschlägt naheliegende Erklärungen: symbolische Formen eher in der Bourdieuschen Lesart, die der vorbehaltlosen Akzeptanz eines derart von hochkulturellen Ritualen umstellten Werkes heute im Weg stehen.

Und warum auch nicht. Der italienische Pianist Maurizio Pollini hat neulich angemerkt, so großartig die Komponisten der Vergangenheit auch gewesen sein mögen, es sei doch absurd, „dass wir immer noch so wenig Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen, ganz zu schweigen von der Musik des 21. Jahrhunderts.“ (The dead they cannot rise / and you’d better dry your eyes / and you’d best go look for a new love – Kipling)

 

Schönes, dickes Buch (Klammer zu)

Um den begehrenswerten Einband hat der Verlag einen festen transparenten Kunststoff-Schutzumschlag gefaltet, der das Mozartporträt des Buchdeckels wiederholt. Es entsteht optische Tiefe, wenn man die beiden Gesichter zur Deckung bringt, aber es flimmert auch, wirft Schatten und produziert Unschärfen.

 

Was wir über den Menschen Mozart erfahren – jetzt auch in Deutsch, denn das Buch gab es schon zehn Jahre –, liefert keinen Grund zu der Annahme, es könnte sich bald alles anders darstellen. Die akademische Musikwissenschaft ist an der Wegmarke angekommen, die Wolfgang Hildesheimer gesteckt hat. Einen Schritt weiter, und wir sind bei den Spezialproblemen an den „Grenzen des Wissenswerten“, die diesem bei seiner Beschäftigung mit Mozart begegnet sind.

 

Den möglichen Weg, über den Komponisten etwas zu erfahren, hat der Autor im Nachwort festgehalten: Absolute Erklärungen müssen zwangsläufig fehlschlagen. Bei seiner ästhetischen Theoriebildung hätte er von dieser Idee noch etwas mehr annehmen können.

 

Ralf Schulte

 

Maynard Solomon: Mozart. Ein Leben, 618 Seiten, ca. 40 Abbildungen und 50 Notenbeispiele, EUR 39,95, Gemeinschaftsausgabe Bärenreiter/J.B. Metzler, 2005