13. Januar 2006

Panopticon der Liebe

 

Es ist nicht die Schuld des Messers, zum Verstreichen von Butter wie zum Zufügen von Stichwunden dienen zu können. Auch den Wörtern sieht man nicht an, ob der, der sie gebraucht, mit ihnen lügt. Erst in der konkreten Verwendung, so scheint es, geht die Logik auf und spezifiziert sich. Und doch gibt es Objekte oder Einrichtungen, bei denen Logik und Funktion eins sind. Sie sind gewissermaßen im ständigen Gebrauch, auch wenn sie gerade nicht im Einsatz sind. Bekanntestes Beispiel: Jeremy Benthams Panopticon. Das Prinzip: Sehen, aber nicht selbst gesehen werden. Der Gefangene weiß nicht, ob er gerade im Blick des Aufsehers ist. Er muss aber ständig damit rechnen. Ist die Videokamera im Kaufhaus eingeschaltet? Lohnt sich ein Diebstahl? Solche Einrichtungen begünstigen Simulationen, der Betreiber kann sich weitgehend, vertrauend auf das Gestell, aus der Überwachung des Apparats zurückziehen. <?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

In der Fragment gebliebenen Novelle „Rosa und Grün“ greift Stendhal die Idee des Panopticons auf, gibt ihr jedoch eine entscheidende Wendung. Das hier beschriebene Königsberger Friedrichsgassen-Panopticon setzt nämlich beide Parteien als anwesend voraus. Im Mittelpunkt der Novelle steht ein junges Mädchen, Minna Wangen, Tochter des reichsten Bankiers der Stadt, der gerade unerwartet starb. Mit ihrer Mutter wohnt sie in der schicken Friedrichsgasse, deren Häuser durch vorgelagerte Freitreppen betreten werden. Die vornehmsten Häuser befanden sich damals im Erdgeschoss (Hochparterre). Doch auch die Vornehmheit verhinderte nicht, dass die Tätigkeit der Damen im Vergleich zu heute sehr eingeschränkt war. Handarbeit war das Schicksal. Zum Ausgleich kam man der Schaulust der Damen entgegen. Zu den Fenstern dieser Wohnungen schreibt Stendhal:

 

„Die Fenster sind in ihren unteren Teilen mit beweglichen Rahmen versehen, in die Metallgewebe von eigenartiger Wirkung gespannt sind. Diese glänzenden, für die Neugierde der Damen sehr bequemen Gewebe sind undurchdringlich für den Blick der Vorübergehenden, die von dem Gefunkel, das das metallene Gewebe ausstrahlt, geblendet werden. Die Herren können in das Innere der Wohnungen nicht hineinsehen, während die Damen, die am Fenster sitzen und arbeiten, sehr wohl die Vorübergehenden sehen.“

                                                               

Mit einer ebenso glücklichen wie kühnen Wendung bezeichnet der Autor diesen Zustand des Belagertwerdens der Frauen als „sesshaften Spaziergang“, als ob hier aufs Schönste Arbeit und Freizeit miteinander kombiniert werden könnten. Aber der Terminus geht noch darüber hinaus. Die sowieso schon raffinierte Anlage lässt sich durch das Anbringen fußhoher, schräg gestellter Spiegel an den Rahmen weiter verfeinern, sodass die Damen schon von weitem sehen, wer da angeritten kommt, ohne, wie gesagt, selbst gesehen zu werden. Stendhal fährt fort:

 

„Wenn sie [die Männer] auch selbst nichts sehen, so wissen sie doch, dass sie gesehen werden, und diese Gewissheit ermöglicht alle kleinen Liebesromanen, die die Gesellschaft von Berlin und Königsberg beleben, eine besonders rasche Entwicklung. Ein Mann ist sicher, jeden Morgen und mehrmals von der Frau, die ihm gefällt, gesehen zu werden; es ist sogar nicht ganz ausgeschlossen, dass der Rahmen mit dem Metallgewebe durch die bloße Wirkung des Zufalls manchmal etwas verschoben wird und so dem Spaziergänger den Anblick der hübschen Hand der Dame gewährt, die bemüht ist, ihn wieder zurechtzurücken. Man geht sogar so weit, zu behaupten, dass die Stellung dieser Rahmen ihre eigene Sprache führen könne. Wer könnte sie verstehen, oder wen könnte sie kränken?“

 

Diese Sprache wird hier leider nicht vorgeführt, was nicht daran liegt, dass der Text Fragment geblieben ist. Minna, die Heldin, entzieht sich komplett dem Sichtschutzsystem, weil sie glaubt, nur wegen des Geldes belagert zu werden. Die Männer laufen auf und sind sauer. Minna ist eine frühe „self-made-woman“, sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, verlässt Königsberg, und geht nach Paris, der Stadt, von der sie glaubt, dass hier „authentische“ Liebe möglich sei. Aber leider hat sie das Sehen verlernt, denn sie hat den falschen, weil veralteten Text (die Komödien Marivaux’) im Kopf, die mit der Wirklichkeit des Paris der 1830er Jahre nichts zu tun haben. Eine Geschichte der Blendung, auch der Verblendung – durch Literatur.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Stendhal, Rosa und Grün, in: Stendhal, Novellen und Skizzen, Berlin 1964 (Rütten & Loening), S. 192-284