10. Januar 2006

Damenopfer

 

Während andere Leute wie der joviale Unternehmer Brückner schon wieder ihr Glück machen oder die Trümmerfrauen zumindest den Weg dafür freiräumen, sieht Dr. Mertens, vor dem Krieg Chirurg, während des Kriegs Soldat, immer noch sehr verlottert aus. Außerdem trinkt er viel und scheint keine Lust zu haben, sich um eine neue Stelle im Nachkriegsdeutschland zu kümmern. Abends sitzt er in der Umkleide bei den Revuemädchen. Eines Tages steht eine Frau vor seiner Tür. Es ist Susanne Wallner, eine der nicht so vielen weiblichen Rückkehrerinnen des Kriegs. Irgendwann hatte man sie abgeholt und ins KZ gesteckt. Vielleicht mochte man ihre Bilder nicht, denn die junge Frau, die erstaunlich gut und erhalten aussieht, ist Malerin.

 

Recht schnell begreift sie, dass sie in einer rechtsfreien Zeit lebt, denn sie beharrt nicht lange darauf, dass sie einen Mietvertrag (aus der alten Zeit) für die Wohnung hat, in der jetzt Hans Mertens lebt. Man arrangiert sich. Und sie lassen beide ihre Vergangenheiten in Ruhe. So drängt Mertens nicht weiter in sie ein, als er glaubt, von ihr sagen zu können, sie habe gewiss in Sicherheit gelebt, und sie darauf nur antwortet: Wenn er es so nennen wolle. Als ob mehr dazu nicht zu sagen wäre. Und es gibt während des Films „darüber“ auch kein Gespräch. Auf der weiblichen Opferseite findet in diesem Film keine Vergangenheitsbewältigung statt. Vielmehr wird die weibliche Rolle ohne große Verluste durch die Stunde Null weitergereicht. Schweigen, dulden, lieben, verstehen, auffangen.

 

Dr. Mertens dagegen bricht irgendwann zusammen. Es ist aber nicht die Leber, die nicht mehr will, sondern das Herz, das gebrochen wurde. Eine Rückblende auf Weihnachten 1942 in einem der von Deutschen besetzten Gebieten zeigt, worüber der so teilnahmslos wirkende Chirurg nicht hinwegkommt. Hauptmann Brückner, Mertens’ Vorgesetzter, der ein bisschen aussieht wie Heinrich Himmler, ließ unschuldige Menschen, vor allem Frauen und Kinder, erschießen. Mertens vermochte nicht, das Gemetzel zu verhindern. In Berlin treffen die beiden sich wieder. Brückner ist schon wieder in der Gesellschaft angekommen. Die Vergangenheit ist für ihn abgeschlossen. Außerdem hat er sich nichts vorzuwerfen. Mertens kann das nicht mit ansehen. Auf dem gemeinsamen Weg zu Mertens’ allabendlicher Ablenkungsstätte will Mertens Brückner töten. Es kommt aber ganz anders und der Arzt findet zurück zu seiner Berufung als Helfer von Menschen in Not.

 

Aber nichts, auch nicht die zärtlich auf Mertens wartende Susanne, vermag das Bild zu löschen. Kurze Zeit später, es ist erneut Weihnachten, hat Mertens wieder seine Pistole dabei. Er stellt Brückner, sagt ihm, dass er als sein Richter komme, und erst im letzten Moment  kann Susanne Wallner die Situation retten, wofür Mertens ihr dankbar ist. Was schon ein früherer Ruinenspaziergang nahegelegt hatte: Die beiden werden ein Paar, und Mertens wird nicht seinerseits zum Mörder, sondern zum Ankläger. Am Ende sieht man Brückner hinter Schloss und Riegel, vergeblich seine Unschuld beteuernd.

 

Der etwas sentimentalische Film hat ein paar gute Überblendungen vorzuweisen. So meditiert der noch frei flottierende Arzt, die gerade von Brückner rückerstattete Pistole in der Hand, die Mertens ihm im Krieg überlassen hatte, in der Art von „eins gibt das andere“, wie schnell man von der Pistole zum Heer zum Krieg zum Massengrab komme. Das letzte Wort noch im Ohr, schaut der betroffene Zuschauer nach einer Überblendung auf etwas Helles, sich Bewegendes, das sich nach kurzer Zeit als ein hin und her ruckelnder Unterleib eines tanzenden Revuemädchens zu erkennen gibt. Der Körper des Revuemädchens ist kurze Zeit später selbst Ausgang einer weiteren Überblendung, die sich als melancholischer Regen niederschlägt. Schrecken, kurze Freude, Tristesse, dies der Dreiklang des Films. Am Ende kommt Genugtuung hinzu.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Wolfgang Staudte, Die Mörder sind unter uns, Deutschland/Sowjetische Besatzungszone 1946, Ernst Wilhelm Borchert, Hildegard Knef, Arno Paulsen, Ernst Stahl-Nachbaur