9. Januar 2006

Wüstensöhne

 

Helligkeit, Blendung, Rausch, zunehmender Realitätsverlust – welcher Motorradfahrer kennt das nicht, leere Landstraßen, wellige und langgezogene Alleen. Passieren tut meist zum Glück nicht, was hier geschieht: Peter O’Toole, der Lawrence von Arabien, auf seinem Feuerofen reitend und wie hin und her geschüttelt aussehend durch den Kontrast von Licht und Schatten auf seinem durch Geschwindigkeitszugabe immer euphorischer werdenden Gesicht, bekommt auf seiner Spur Gegenverkehr, was ihn aus der Bahn wirft. Damals durfte man noch ohne Helm fahren, der ihm aber möglicherweise das Leben gerettet hätte.

 

Ein Extremist stirbt. Und vielleicht gehörte diese Fahrt mit zu dem Spiel, das er ein ganzes Leben lang, ganz ernsthaft, mit sich spielte. Nicht da stehen bleiben, wo man gewöhnlich anhält. Selbst bestimmen, ob man den Schmerz, den man empfindet, zeigt, oder diskret für sich behält. Nur mit dem Riskantesten unterwegs sein und andere motivieren, es ebenso zu tun.

 

Die britische Armee weiß, was sie an ihm hat. Obwohl erst Lieutenant, wird er nach Arabien, genauer: in die Wüste geschickt, wo er sich ein Bild von der Lage machen soll. Man befindet sich mitten im Ersten Weltkrieg, allerdings auf einem Nebenschauplatz, die mit den Deutschen sympathisierenden Türken sind scharf auf den Suezkanal, haben allerorten Techtelmechtel mit den in viele Clans zerstrittenen Arabern, die wiederum von den Engländern hofiert werden, die jene für sich zu instrumentalisieren versuchen. Ein einziges Geschachere. Nicht, dass Lawrence ein kluger politischer Kopf wäre, der hinter der Front Pläne ausheckte. Sein Genie zeigt sich on location, es ist das Genie der Anverwandlung.

 

Das macht ihn sogar zunächst in den Augen ihm zugeordneter britischer Offiziere einigermaßen suspekt. Diesem Mann erwachsen sofort ganz persönliche Herausforderungen aus seinem Auftrag. Die Wüste lieben nur Beduinen und der liebe Gott? Also gut, dann werde ich Beduine und ein bisschen Gott. Darunter macht er es nicht. Er zieht erst durch eine Wüste, dann noch durch eine zweite. Das macht den Film so wunderbar lang. Wovon Francis Bacon in seinen Bildern immer nur träumen konnte – der Wunsch, so etwas wie eine „Sahara“ in ein Porträt einzuzeichnen, sodass das Porträt die Weite der Sahara erhielte – hier findet es halbe Stunden lang statt. Die Wüste ist hier nicht der Ort der Leere, der Trauer, der Unsagbarkeit wie bei Edmond Jabès in seinen Büchern, sondern Auftrag, sie zu durchqueren mit dem über das bloß Militärische weit hinausgehenden Ziel, in sich selbst auf eine neue Lebensform zu stoßen, auf die er sich während der Zeit seines Abenteuers einlässt. Beduine werden, Kamel reitender Beduine, selbstherrlich bestimmen können, wann Wasser getrunken wird, über sich selbst hinauswachsen, wenn der Kompass verloren geht, erstaunliche Lust an fremden juridischen Prozeduren erfahren (die Hinrichtung dessen, den er selbst aus der Wüste gerettet hat), die Massakrierung der Türken nach dem erregenden Ablegen des Zivilisationsschirms – ein normaler Mensch würde das natürlich niemals ausgehalten und auf sich genommen haben.

 

Immer wieder nimmt Lawrence Kontakt mit dem Hauptquartier auf, letztlich weiß er nicht, welche Funktion er genau in dem strategischen Spiel spielt; wohl auch deshalb spielt er sein eigenes, Fraternisierung mit den Arabern, Versuche, ihre Stammeszwistigkeiten zu überwinden, um eine starke Stimme gegenüber den Türken zu entwickeln, sie überhaupt von ihrem Fatalismus zu entbinden, dass alles schon geschrieben sei, wo doch nichts geschrieben sei, es sei denn, man tue es selbst. Das ist natürlich ein bisschen zu größenwahnsinnig, das soll ein bisschen zu schnell gehen, natürlich scheitert er, manchmal übersieht er einfach zu offensichtlich, dass es den Feind ganz faktisch gibt, was zum Beispiel zu seiner Gefangenennahme durch die Türken führt, die ihn foltern. Enttäuscht, vielleicht auch gebrochen, kehrt er heim, auf die Insel, und dann kommt eben die Sache mit dem Motorrad.

 

Ein großartiger Film, vielleicht auch, weil man bis zuletzt nicht wirklich schlau aus diesem Mann wird. Oder ist er wirklich so einfach wie das dramatische musikalische Motiv, das den Film als reines Leitmotiv begleitet? Keine Entwicklung, nur Akzentverschiebungen. Wie die Wüste.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

David Lean, Lawrence of Arabia (Lawrence von Arabien), GB 1962, Peter O’Toole, Anthony Quinn, Omar Sharif