7. Januar 2006

Europas südlichster Punkt

 

An der Costa del Sol oder: einige Anmerkungen zu einem Prozess, der Globalisierung genannt wird

 

I

Die südspanische Costa del Sol ist wie eine Verdichtung Europas: Hier befindet man sich in Deutschland, aber auch in Großbritannien und den Niederlanden. Lidl-Supermärkte, Feriensiedlungen, Golfplätze. Seit überwiegend Deutsche hier ihrem Trendsport nachgehen, ist das karge andalusische Land grün geworden. Dafür wurden weiter nördlich auf der iberischen Halbinsel ganze Täler geflutet. Die neuen Staudämme werden gebraucht, um den rapide wachsenden Wasserbedarf zu decken. Ein bemerkenswerter Prozess: Nicht das Sein produziert Ideologie, sondern ein Diskurs von Freizeitgestaltung das materielle Dasein. Komischerweise wirkt sich der Freizeittrend Tausende von Kilometern von seinem eigentlichen Bezugsraum entfernt besonders massiv aus. In den Bauernhäusern der gefluteten Pyrenäendörfer spielt Golf nur eine marginale Rolle.

Kultur als ein Motor kapitalistischer Entwicklung, die Neuformierung räumlicher Zusammenhänge – ist es das, was mit Globalisierung gemeint ist?

 

II

Dörfer, Städte, Siedlungsstreifen am Meer – als was kann man die südspanischen Ferienorte bezeichnen? An der Küste stehen Millionen von Wohneinheiten, doch eine Einwohnerzahl lässt sich kaum nennen. Die meisten Wohnungsinhaber verbringen nur wenige Wochen im Jahr hier. Ohne Kerne und Struktur breiten sich die Siedlungen in der Nähe der Strände aus. Spanien war in den vergangenen 20 Jahren das El Dorado der europäischen Immobilienspekulation. Dabei handelte es sich nicht um ein spanisches Phänomen – hier haben alle investiert: deutsche Rentner, die neuen osteuropäischen Reichen, arabische Ölmagnaten, britische Arbeiter … Und nirgends sonst in der EU wurde so viel Schwarzgeld gewaschen wie hier. Das spanische Wachstumswunder der Neunzigerjahre wäre ohne die Vermögen aus Steuerhinterziehung und Drogengeschäften nicht möglich gewesen. Während die Law&Order-Regierung Aznar demokratische Bürgerrechte abschaffte und die Visumsbedingungen für Nicht-EU-Bürger verschärfte, freute sie sich über die freie Bewegung illegalen Kapitals.

 

III

Die Siedlungen wachsen wie Fleckenteppiche. Ein Grundstück wird für ein Immobilienprojekt erschlossen, und es entstehen 100, 200, manchmal sogar 1000 mehr oder weniger identische Wohneinheiten – meist Chalets im preiswerten Reihenhausstil. Auf dem angrenzenden Grundstück entsteht einige Zeit später ein ähnliches Projekt in ganz anderem Baustil.

Der Kölner Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis hat diese Ortschaften in einem Vortrag einmal als „seelenlos“ bezeichnet. Diese Beschreibung, eigentlich eine Nebenbemerkung seines Referats über Massentourismus, Migrationsströme und Raumerschließung im spanischen Süden, trifft die Sache nicht schlecht. Zwar sollte man dem Verlangen nach dem „Beseelten“, „Authentischen“ nicht leichtfertig nachgeben. Und auch der Hinweis, es liege kein urbanistischer Plan vor, sondern nur zügelloses Wuchern, kann an sich kein Argument gegen eine Architektur sein. Aber im Fall dieser Küstensiedlung beschreibt das Wort seelenlos die Verhältnisse eben doch ganz gut. Man möchte sich hier nicht aufhalten. Man ist erschlagen von der pittoresk-industriellen Massenhaftigkeit. Die Orte wirken, selbst in der Hochsaison, entleert. Und schließlich wachsen sie auch nicht in einem freien, sich selbst gestaltenden Prozess. Dem Wachsen dieser Orte liegt durchaus eine Ordnung zugrunde: kapitalistischer Markt und Bestechung.

 

Man könnte diese Siedlungen als Ausdruck der Globalisierung in Europa beschreiben: Von einer transnationalen Arbeiterklasse gebaut, von communities aus zahlreichen Ländern bewohnt – die sich allerdings trotzdem in der Regel national trennen –, in einem Stil gebaut, der sich national nicht zuordnen lässt, unbelastet von Regulierung und trotzdem nicht frei.

 

IV

Die neue Mauer hat viele Facetten: Hubschrauber, die in regelmäßigen Abständen den Küstenstreifen entlangfliegen und nicht als Polizeihelikopter erkennbar sind, wohl auch um die an den Stränden flanierenden Touristen nicht zu beunruhigen. Patrouillenboote, die die Meerenge sichern, starke Grenzkontrollen, jenseits und diesseits der Wasserstraße. Und natürlich das Internierungslager von Tarifa: Am südlichsten Punkt des europäischen Kontinents, in einer alten Festung, befindet sich, so erzählt man hier, eine Sammelstelle für Einwanderer.

Das Ende des Blockkonflikts ist nicht identisch mit dem Beginn der so genannten Globalisierung. Aber häufig wird der Mauerfall als Metapher hierfür verwendet – für eine Welt, die sich näher gekommen sei. Die entscheidende Frage wird dabei allerdings meistens unterschlagen: Wer ist sich nähergekommen?

Viele Lateinamerikaner, Asiaten und Afrikaner werden bestätigen, dass es vor 1989 leichter war als heute, nach Europa zu reisen. Selbst für viele Bürger des ehemaligen Warschauer Pakts sind die Grenzen heute nicht durchlässiger als die Todesstreifen von einst. Ökonomische Marginalisierung und ein ausgefeiltes Grenzregime sorgen dafür, dass die gewachsene Mobilität nur von ausgewählten Teilen der Weltbevölkerung genutzt werden kann.

Eine Statistik, die der deutsche Urlauber an der Costa del Sol in der Regel nicht kennt, besagt, dass an der spanischen Außengrenze Europas seit Mitte der 90er Jahre mehr als 4000 Menschen ums Leben gekommen sind. Mit der Fähre gelangt man in 45 Minuten sicher von Tanger nach Tarifa. Doch die europäische Gesetzgebung verhindert, dass viele Menschen die Fähre nehmen können. Die Leute reisen natürlich trotzdem: in Schlauchbooten, die der strömungsreichen Meerenge von Gibraltar häufig nicht gewachsen sind.

Seit Mitte der 90er Jahre starben damit allein an den spanischen Küsten der EU vier mal mehr Menschen als in 40 Jahren an der innerdeutschen Grenze.

 

V

Die boat people kommen nachts und führen ein Schattendasein. Ohne sie wäre auch das Leben der Deutschen anders: Der europäische Agrarmarkt wäre zusammengebrochen und die Feriensiedlungen am Mittelmeer wären unbezahlbar. Im andalusischen El Ejido, wo für deutsche Nachfrage Obst und Gemüse produziert werden, hat es vor einigen Jahren Pogrome gegen afrikanische Arbeiter gegeben. Auch deshalb ist von der – farbigen – Arbeiterklasse Andalusiens nicht viel zu sehen. Sie versteckt sich.

Und trotzdem legt man natürlich wert darauf, dass die Arbeiter kommen. Sie müssen kommen. Ohne sie wäre das Geschäft nicht profitabel. Damit sie nützlich sind, müssen sie allerdings zunächst ausgeschlossen werden. Als Legale wären sie „überbezahlt“.

Ist Globalisierung also das: Ein Einschließungsprozess, der auf Ausschließungen beruht und diese vorantreibt?

 

VI

Das Sprechen über diese Realität birgt ein Problem. Mit wenigen Themen hat sich die kritische Kunstszene so ausführlich beschäftigt wie mit der Grenz- und Zuwanderungspolitik. Auf den letzten beiden Dokumentas spielten Arbeiten über diesen Zusammenhang eine zentrale Rolle, im Kino gab es Dutzende von sehenswerten Produktionen. Das Thema wird verhandelt und scheint trotzdem gesellschaftlich ausgeblendet. Und desto mehr geredet wird, umso weniger Wirkung scheint das Reden zu entfalten.

Dabei ist gleichzeitig der Begriff Globalisierung nicht nur in aller Munde, sondern wird regelrecht beschwört. Man ist heute an vielen Orten zu Hause. Tatsächlich sind viele Durchschnittseuropäer mittlerweile in der Welt herumgekommen: Südafrika, Thailand, Mexiko – die Reiseziele liegen immer weiter entfernt. Andererseits ist das allgemeine Bewusstsein über globale Zusammenhänge heute in Deutschland kaum größer als vor 25 Jahren. Diejenigen, die viel unterwegs sind, sich vielleicht sogar als global player empfinden, bewegen sich extrem selektiv. Der transnationale Raum ist weltumfassend und doch eng begrenzt.

Was die Touristen angeht, dürfte das unumstritten sein. Der durchschnittliche Europäer sucht in Südafrika oder Thailand jene Realität, die sich mit seinem Leben daheim deckt. Zwar wird auch der Wunsch nach Exotik erfüllt, doch das vermeintlich Andere ist eingebettet in eine Struktur des Identischen. Aus den Robinson-Feriendörfern macht man Ausflüge in Naturreservate, die dem Safaripark Hodenhagen ähneln.

Und es sind längst nicht nur die TUI-Reisenden, die so unterwegs sind. 2003 waren 17 Künstler und Architekten, ich eingeschlossen, auf Einladung der kulturstiftung des bundes für ein halbes Jahr in Venezuela. Die Bezugsorte der venezolanischen Gastgeber und der internationalen Stipendiaten hießen New York, Paris, Haifa, Istanbul, Rio. Es war nichts Besonderes, wenn der österreichisch-venezolanische Projektleiter nach Rotterdam zur Biennale oder die italienisch-venezolanische Mitarbeiterin zum Shoppen nach Miami flog. Aber es war etwas sehr Besonderes, wenn sie die Peripherie von Caracas besuchten. Sie bewegten sich dort wie ein Expeditionskorps auf einem feindlichen Planeten. So gesehen befinden sich die Barrios, die armen Vorstädte von Caracas, von den besseren Gegenden der venezolanischen Hauptstadt weiter entfernt als Rotterdam oder Miami. Die Bevölkerung dieser Viertel verwendet andere Codes, pflegt eine andere Kultur, konsumiert andere Waren und – was in den Globalisierungsdiskursen auffällig oft unterschlagen wird – sie hat auch eine andere Hautfarbe.

Interessant war, dass die Bewohner der Armenviertel profundere Kenntnisse über ihre Stadt besaßen als viele Spezialisten. Sie lebten in der Peripherie und arbeiteten – als Wachleute oder Verkaufshilfen – in den Reichenvierteln. Die Wohlhabenden hingegen, darunter auch die meisten Stadtplaner und Architekten, mit denen wir arbeiteten, besaßen von ihrer Stadt nur ein diffuses, fragmentiertes, angstbesetztes Bild.

 

In der Globalisierung, so heißt es, werden Distanzen überwunden und weltweite Szenen geschaffen. Weil es bei dem Prozess, der gemeint ist, jedoch in vieler Hinsicht um die kapitalistische Durchdringung von Räumen geht, hat die Überwindung von Distanzen ihre Grenzen. Räumliche Abstände schrumpfen und nehmen gleichzeitig zu. Dass dabei das allgemeine Wissen um die Welt wächst, wage ich zu bezweifeln. Viele von uns haben heute eine Vorstellung davon, wie es in Südafrika aussieht. Wir sind dort gewesen (oder empfangen zumindest den National Geographic Channel per Kabel zu Hause). Und doch waren wir meistens nur an jenen Orten, die wir vorher schon kannten.

 

VII

Zumindest in einer Hinsicht sollte man den Prozess, der Globalisierung genannt wird, in Schutz nehmen. In Deutschland wird häufig darüber geklagt, die Globalisierung führe zu kultureller Verarmung. Wie so vieles in der Debatte bleibt auch diese These auffallend schwammig. Weder wird deutlich, was mit Globalisierung gemeint ist, noch herrscht Einigkeit darüber, was die Verarmung ausmacht. Die einen verstehen darunter die Angleichung von Konsum- und Lebensmodellen, andere den Verlust der „Reinheit der Sprache“ (was immer das bedeuten mag), wieder andere einfach die niedrigen Exportzahlen von deutschen Filmen, Musik und Literatur. Um so eine „Verarmung“ aufzuhalten, isst man dann bei Wienerwald statt bei Mac Donalds, kämpft – titanenhaft – gegen die Anglisierung der deutschen Sprache und fordert, wie unlängst eine unheilvolle Allianz aus Politikern, Popindustrie und Musikern, eine Musikquote für Produktionen aus Deutschland.

Dabei wäre eine inhaltliche Differenzierung nicht schwer: Wenn mit Globalisierung zunehmende Migrations- und Kommunikationsströme gemeint sind, führt sie natürlich nicht zu kultureller Verarmung, sondern zum Entstehen von neuem Reichtum und Hybriditäten – einer Vielheit, vor der sich der Mainstream-Konsens in Deutschland immer noch fürchtet. Wenn mit Globalisierung hingegen die Zunahme transnationaler Kapitalflüsse und die Verflechtung von Unternehmen beschrieben werden, ist kaum verwunderlich, wenn es zu Vermassungen und Vereinheitlichungen kommt. Der postfordistische Kapitalismus zeichnet sich zwar auch durch die In-Wert-Setzung der Differenz aus, doch auch das postfordistische Individuum bleibt ein Massensubjekt. Wenn Verkaufsräume ökonomisch organisiert werden sollen, kommt nicht zufällig der Supermarkt dabei heraus. Das Warenangebot mag zwischen deutschen und italienischen Ketten variieren, doch die eigentliche Angleichung der Lebensmodelle dürfte im Supermarkt selbst begründet sein. Und der hat eben keine nationale Identität.

Kulturelle Verarmung wird nicht von Transnationalisierung, Kommunikation oder Wanderungsbewegungen erzeugt. Sie ist das Ergebnis der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Man sollte diese Begriffe endlich wieder voneinander trennen.

 

Raul Zelik

 

Dieser Text beruht auf einem Referat, das beim deutsch-brasilianischen Zivildialog im Juli 2005 in Fortaleza gehalten wurde.

 

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