5. Januar 2006

Seeing is believing

 

Wenn es tatsächlich eine Schule des Begehrens gäbe, so würde man vermutlich als erstes lernen, dass die „logische Zeit“ des Begehrens in drei Phasen zerfällt, die sich für einen außenstehenden Betrachter freilich häufig als Kontinuum darstellen. Dass sich dieses Glissando zumeist und am sichtbarsten im Kino ereignet und von dessen Beginn an fest im Erwartungshaushalt des Zuschauers verankert ist, sollte zu denken geben. Denn der Normalfall ist der Zerfall der Phasen. Über die erste, die Irritation durch Wahrnehmung eines anderen, die eine gewisse Ausrichtung auslöst, kommen nur die wenigsten hinaus. Dies aus den verschiedensten Gründen. Die Irritation dauert zum Beispiel so kurz, dass sie unmittelbar darauf durch eine weitere ausgelöscht und ersetzt wird – der ewige Staffellauf des Nachsehens. Oder man verliert sich zu schnell aus den Augen – das führt dann zu den bekannten romantischen Suchmeldungen. Oder man kann sich das einfach nicht erlauben, weil man eigentlich schon besetzt ist, vielleicht nicht mehr so wie früher, aber immerhin noch fleischlich repräsentierbar.

 

Diese Leute kommen also gar nicht zu Phase zwei, in der das weitere Procedere überlegt wird. Viel zu lernen gibt es da nicht, die Modalitäten sind überschaubar, das einzige, worauf man zu achten hat, besteht darin, nicht als völliger Idiot dazustehen. Und dann kann es auch schon losgehen (dritte Phase). „Hallo, ich bin die Dominique!“ – „Ja, hi, ich bin der Quentin.“ Manche rare Wesen verfügen so souverän über diese logische Zeit, dass sie ihnen als die einzige erscheint. Die einzige, die wirklich zählt, denn überall begegnet ihnen die treffsichere „Barbara“, die aber nur in diesen elitären physiognomischen Kreisen ihre Schlussfigur in Gang setzt. Dominique ist eine unabhängige, attraktive Geschäftsfrau um die vierzig, Quentin wesentlich jünger, Modeltyp, Maghreb-Einschlag, der sich als Barkeeper und Lustknabe durchbringt. Quentin weiß, dass er unwiderstehlich ist, sein Lächeln vermag (fast) alles zu entschuldigen, aber die Dauerfrequenz des Begehrens und Begehrtwerdens bringt deren Logik ziemlich in Unordnung. Er kann ihr nämlich nicht nachgehen, ohne sie zugleich zu zerstören. Dominique ist die einzige für ihn, und sie ist es auch nicht. Sie ist die einzige, die ihm auch aus der Ferne sofort einen Ständer besorgt, aber natürlich schläft Quentin auch weiter mit anderen Männern und Frauen.

 

Für Dominique ist „seeing“ gleich „believing“, für Quentin nicht. Ist das der Unterschied zwischen Mann und Frau? Tickt die logische Zeit des Begehrens jeweils anders weiter, nachdem sich das Begehren einmal inkorporiert hat? Jedenfalls verstreut Dominique ihr Begehren erst wieder, nachdem sie in einer Kette von Demütigungen die gnadenlose Logik Quentins kennen gelernt hat. Und nachdem sie von der Transe Chris erfahren hat, dass nur so, in einer Unmissverständlichkeit der Abwendung, in einer Zurücknahme der Anerkennung, ihr Geliebter getroffen werden kann, weil das Begehrtwerden sein Lebenselixier ist. Aber für ein solches Spiel zu dessen Regel gehören würde, es dauernd und immer wieder spielen zu müssen, um beiden Seiten der Logik gerecht zu werden, die aber nicht zugleich erfüllt werden können – für ein solches Spiel ist es für Dominique zu spät.

 

Als Konsequenz für beide ergibt sich, die Hauptachse, wenn man so was will, und sie wollen es, relativ affektlos zu besetzen, um so die Enttäuschungsgefahr von vornherein zu neutralisieren. Und wenn sich Dominique und Quentin später einmal wieder begegnen, was ja auch geschieht, so stellen sie nicht ganz unerleichtert fest, dass ihre logische Zeit auch wirklich abgelaufen ist. Manche Schüler lernen wirklich. Aber sie sind auch schon immer gut.

 

Dieter Wenk (01.02)

 

Benoit Jaquot, Schule des Begehrens, F 1998