3. Januar 2006

Warten

 

Je dicker die Bücher, desto schwammiger werden sie. Sie saugen alles auf. Sie sind riesige, ein wenig unkontrollierbare Speicher. Unkontrollierbar deshalb, weil sich nicht vorhersehen lässt, was passiert, wenn der Schwamm ausgedrückt wird, was man auch Lesen nennt. Vielleicht stecken im Schwamm nur ein paar Tropfen, vielleicht ist er auch schon lange ausgetrocknet und gibt nichts mehr her, vielleicht ist er aber auch eine gigantische Waschanlage, die an die entferntesten Teile des Chassis heranreicht und sie tüchtig umspült. Grund genug, dass einem dabei Hören und Sehen vergeht. Weil man dichter an etwas anderem dran ist. Für eine kurze, aber intensive Zeit.

 

Dieser Mulisch-Schwamm hat es in sich. Er hat in sich nicht weniger als alles. Es fehlt in ihm kein einziges DNS-Molekül – es wird ihm, oh Wunder, sogar noch (mindestens) eins hinzugefügt in Form einer Lichtgestalt – und wir bekommen ausgiebig Gelegenheit, uns mit dem Weltraum zu beschäftigen und metaphysisch in ihm herumzuklettern. In diesem Moment schon wissen wir, dass auch die Welt ein Schwamm ist, die ständig darauf wartet, dass man sich mit ihr beschäftigt. Und warum nicht so, dass man ihr gerade so viel Flüssigkeit zuführt, dass sie sie gerade noch hält, bevor der bekannte Tropfen zuviel das Fass als Welt als Schwamm zum Überlaufen und letztlich zum Auslaufen bringt, ein weiteres Auslaufmodell in der nicht enden wollenden Kette an Vorschlägen.

 

Und genau das ist hier der Fall. Diagnostiziert wird in diesem Roman die Welt als schon längst überkommen, aber ihre Bewohner haben es noch nicht so richtig gemerkt. Anders gesagt, der Tropfen, die Bombe, der Auflöser, die Überschreitung der Grenze und was nicht alles – all das steckt schon in der Welt, aber wie im Comic kann ihr so lange nichts passieren, bis sie ins Nichts schaut, d.h. bis sie ihre Augen öffnet und bemerkt, was los ist. Um das zu leisten, um eine noch ausstehende Bewegung auszulösen, dafür ist dieses Buch da, und da es wie gesagt ums Ganze geht, kann es diese Bewegung nicht auch noch schildern.

 

Das Paradoxe an diesem Buch ist, dass es die Frage nicht beantworten kann, ob es zum Spiel mit diesem Schwamm eines Außen bedarf oder nicht. Die himmlischen Gestalten, die sich einmal wieder nähern und diesen Roman als Erledigung eines Auftrags behandeln, können nicht sicher sein, ob die erfolgreiche Ausführung überhaupt in der Welt angekommen ist, ob die hinterwäldlerische Welt noch ein Organ, ein Sensorium besitzt, das ihr die faktische Überfüllung anzeigen könnte, die sie mit in den Abgrund risse. Da dies vermutlich nicht mehr der Fall ist, schickt der Himmel eine Art zweiten Jesus, Sohn einer doppelbefleckten, biologisch durch die Pille allerdings verschlossenen, also doch unbefleckten Quasi-Jungfrau, der die Fähigkeit besitzt, das Sprechen Gottes wundersam zu lesen, wie ein zweiter Moses auf dem Berge Sinai beim Empfang der zehn Gebote (Worte).

 

Dieser junge Mann hat mit 12 Jahren (!) einen Traum von der Mitte der Welt, und sein Auftrag, von dem er, dem Himmel sei dank, nichts weiß, besteht darin, dieser Mitte ihr Allerheiligstes, nämlich eben das Gesetz, die zehn Gebote, wieder aus der Stadt Rom nach Jerusalem zurückzugeben. Aber die Mitte der Welt ist ein verlassener Ort, dem nichts fehlt, weil niemand dort etwas vermisst. Der Trick Mulischs besteht nun darin, dass er das Gesetz noch einmal entwenden lässt, obwohl es schon nicht mehr da ist. Er will das Rad der Geschichte dadurch zurückdrehen, dass er ihr gewissermaßen einen Klaps auf die Schulter verpasst, um sie so ins Straucheln zu bringen, dass sie am Ende doch noch etwas merke. Die süßen Wonnen des Immateriellen, Musik, Metaphysik, Mathematik, jenseits der instrumentalisierten Naturgesetze. – Es ist jetzt schon zehn Jahre her, mancherorts auch etwas weniger – aber ich habe noch nichts tropfen hören.

 

Dieter Wenk (01.02)

 

Harry Mulisch, Die Entdeckung des Himmels, aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt, Reinbek bei Hamburg 1995 (Rowohlt), 867 Seiten