27. Dezember 2005

Eine Farbe: braun. Scheinbar

 

Manchen Lesern stellt sich Lesen wie ein Quantensprung dar. Sie sind an zwei Stellen zugleich – oder wollen dies zumindest sein – und fühlen sich beweglich genug, ein Drittes, das nun von ihrer Seite kommt und im Grunde gar nicht quantifizierbar ist, mit dem simultanen Abtasten zu verknüpfen. Solchen Lesern streut der Autor dieses Buchs Steine in den Weg, es ist entschieden schwergängig, was nicht das gleiche ist wie schwerfällig. Ein „normales“ Lesetempo ist nicht aufrecht zu erhalten, man würde sehr bald abbrechen und von Ungenießbarkeit sprechen. Dabei muss man sich einfach nur sehr viel Zeit nehmen, was bei der Dicke dieses Buchs natürlich eine kleine Frechheit wäre, würde man nicht schnell merken, wie sehr man belohnt wird.

 

Dass hier „man“ steht, ist nun de facto eine Frechheit angesichts der bereits vorliegenden vorwiegend negativen Lektüreerlebnisse anerkannter (von Franzobel freilich „zernichteter“) Kritiker. „Man“ soll also hier nur und ausschließlich der Schneckentempoleser sein. Solche Leser tragen zum Beispiel die Namen der Romanfiguren auf eine Liste ein verbunden mit der Seitenzahl, auf der sie zum ersten Mal auftauchen oder genannt werden. Letztlich werden es nur gut zwanzig gewesen sein, knapp die Hälfte davon bildet den harten Kern (oder eher die klebrige Schleimspur) des Personals. Von allen gilt, dass sie gezeichnete Figuren sind. Da gibt es Zwerge, Fettsäcke, Hermaphroditen, Hexen, Wahrsager, Selbstkasteier, Orangenhautmonster, Casanova-Epigonen und manch andere, der anfängliche Namen-Platzregen macht recht schnell einer unterschiedlichen Wetterlage Platz, deren jeweilige Gestaltung an vielen Kapitelanfängen die zu erwartende Stimmungsabschnittslage kundgibt: „Wie ein Wattebauschenhaufen auf dem Nachtkästchen einer Frau hing ein schwerer grauer Himmel über der Stadt.“ Anderen Kapiteln sind allgemeinmenschliche Betrachtungen vorangestellt, deren Sinngehalt aber gerne vom nachfolgenden Geschehen wieder in Frage gestellt wird. Immer aber wird der Schneckenleser über das zentrale Ereignis des in Angriff genommenen Abschnitts informiert.

 

Man ahnt schon: Darauf kommt es oft gar nicht an. Diese nach oben gehaltenen Sichtstücke sind keine Stelzen, auf die man steigt, um besser zu sehen oder schneller zu laufen (lesen). Das Lesegelände heißt: Mikrokosmos. Selbstverständlich soll nicht verschwiegen werden, dass sich das meiste des hier Erzählten und Beschriebenen in Argentinien abspielt, anderes vor allem in Österreich und Deutschland (Nazi-Deutschland und DDR). Wir stehen vor großartigen Wasserfällen, fahren endlose Straßen entlang, versinken gar in der Antarktis; aber hier wie überall gilt das Vorrecht des so und nicht anders gebosselten Satzes mit den und den Bildern (Katachresen eingeschlossen). Die Geografie ist ganz aus Sprache gemacht. Daran kann zumindest in diesem Romanfall keine Geschichte (National-, Welt-, und selbst die Geschichte des Romans selbst) etwas ändern.

 

Und das ist vermutlich das Sonderbarste in diesem Buch. Die Schnecke wird sich an nicht wenigen Stellen die Frage stellen, dass etwas Wichtiges verhandelt werden soll. Mitverantwortlich dafür ist die Etablierung einer Rahmenerzählung, in der ein jüdischer Gnom, der Ricardo Klement (d.i. Adolf Eichmann) einst das Handwerk legte, ein dumpfes Nazipaket namens Jahn mit sich führt (zunächst in Handschellen), dem er die Geschichte erzählt, die der Leser liest. Mit der Zeit wächst die Sympathie zwischen Erzähler und Zuhörer (!), am Ende hat sich der Erzähler völlig in die längst schon freie Hand des hermaphroditischen Monsters begeben. Die Bändigung der blonden Bestie durch Geschichtenerzählen? Und zwar wirklich Geschichten, im Plural, und nicht Geschichte. Eine Art Verwirrungstaktik durch Mäandertechnik. Man fährt, wie der Gnom, zwar im Auto, mit dem Nazi-Deppen, gleichzeitig werden aber die verschiedensten Züge gestartet, die in den unterschiedlichsten Richtungen unterwegs sind. Dieses Buch könnte wie ein sehr lustige Gehirnwäsche funktionieren. Aber ist denn die Schnecke selbst ein Nazi?

 

Sicherlich nicht. Kein Nazi würde dieses Buch lesen. Der Nazi-Sympathisant Oswald Wuthenow, eine der Hauptfiguren in diesem Buch, ist kein Sympathieträger, weder für Nazis noch für ihre Gegner. Viel mehr als ein glaubwürdiger Nazi-Sympathisant ist er, wie alle anderen Figuren in „Das Fest der Steine“ auch, eine artifizielle Romanfigur, deren Handlungen sich nicht aus einem einmal angesetzten Charakterkloß erschließen lassen. Das ist das Großartige an diesem Buch: Trotz Vorankündigung weiß man nicht, wie eins zum anderen kommt. Die Schnecke kriecht gewissermaßen auf Traumland. Das will nicht sagen, dass nicht ein ganzes Packerl an Requisiten mitgeführt wird, die die Textstrecke wie Loops in einem gigantischen Minimal-Music-Stück punktieren. Aber der Leser wird sich grandios verlaufen. Und er wird es nicht vermissen, keine Zielmarken zu beobachten, zumal auch die exorbitante Binnenerzählung nicht da ankommt, von wo sie ihren Ausgang genommen hat. Fäden, manchmal auch Taue fallen aus der geschichtlichen Realität in die Fantastik hinein, um Knoten oder Knorpel zu bilden, um, anders gesagt, gewisse Schemata an die Hand zu geben, mit denen ein erzählerisches Ablaufmodell gebildet werden könnte, so etwa das „Orgien- und Mysterien“-Spektakel der Steinigung des Lidice-Überlebenden Wassertrudinger durch die kollektive Übertretung fast des gesamten Romankern-Personals.

 

Aber weder läuft die „Handlung“ darauf zu – das passiert halt irgendwie, was ja auch schon eine harte Aussage ist – noch laufen die beteiligten Täterfiguren (denen „es“ geschah) von nun an als belastete Schuldner durchs Romangelände. Und es stimmt zwar, dass die Figuren aneinander zerbrechen werden, aber das geschieht ebenfalls eher schicksalhaft, quasi durch höhere Gewalt, als dass sich eine wie auch immer getarnte Nemesis zeigen würde, die die Dinge wieder ins Reine brächte oder durch ihre Intervention Schuld abgetragen würde. All das, jenes Erstaunliche, soll ja nur sagen, dass kein Spannungsbogen diesen Roman trägt. Der Bogen ist ein großer Vernichter des Kleinen. Er ist das Alleruninteressanteste. Der nicht existente Bogen birgt auch keine letztlich aufklären sollende Nazi-Dokumentarik oder -Folklore. All das scheinbar Feste und Griffige wird hier radikal verflüssigt und verschleimt. Es stinkt an allen Ecken und Enden. Die Figuren können nicht an sich halten. Angeschlagen von den Steinen, zeigen sie in schönster barocker Tradition ihre stinkende Rückenansicht. Erzählfäden bekommen organisches Gewicht. Und die Organe brechen auseinander.

 

Vielleicht war ja die Romantik nichts anderes, als das barocke Fließen ins Feste zu allotrophieren. Novalis und der Gang ins Bergwerk. Hier wird dieser Prozess wieder rückgängig gemacht. Und das ist vielleicht schwer zum aushalten. Das Lesen dieses Buchs ist wie ein Gang über einen überproportionierten Flohmarkt, bei dem es keine Verkäufer gibt und sich Ware, Gang und Tisch zu einem über-realistischen Objekt verknüpfen. Wer das Ende erreicht, lauscht vielleicht zu einer Art Moral der Geschichte aus dem Inneren eines Standes (aus dem Mund einer Figur), aber diese Moral kann sofort gegessen (und wieder ausgeschieden) werden, denn wer diesen Roman durchkrochen hat, hat solche plumpen gesellschaftskritischen Töne nicht mehr nötig. Auf der selbst produzierten Schleimspur rutscht aber auch wirklich alles aus.

 

Dieter Wenk (12.05)

 

Franzobel, Das Fest der Steine oder Die Wunderkammer der Exzentrik. Roman, Wien 2005 (Zsolnay), 650 Seiten

 

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